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Dazwischen
Unerfreulicher Weise kann ich nicht genau sagen, wo und ob ich noch existiere.
Manchmal, wenn es ganz still ist, verschwindet die Dunkelheit, die mich ständig begleitet. Dann sehe ich zwei junge Mädchen. Sie lachen. Gehen einen Weg entlang zu einem großen Gebäude. Ist es ein Traum? Erinnerung?
Ich bin neunzehn Jahre alt, nehme ich an. Mein Name ist Josephine Winters, kurz Jo, wie alle sagen, egal ob sie mich nun gut kennen oder nicht. Ich besuche - oder besuchte? - die staatliche Universität für Naturwissenschaften in Trenton, New Jersey.
Es war ungewöhnlich heiß an diesem Tag im August 1999. Erica, eine meiner Studienkolleginnen, begleitete mich auf dem Weg zur Universitätsbibliothek.
An unserer Fakultät gab es zwei Wohnheime. Im Newtonhouse hausten die Studenten. Die Studentinnen wohnten im Columbushouse. Von beiden führte ein rot gepflasterter Weg in Richtung der Bibliothek, der Lesungssäle und des Speiseraumes.
Sarah, eine braunhaarige Schönheit, kam uns auf dem Verbindungsweg dorthin entgegen. Erica erzählte mir, dass sie seit ihrem zwölften Lebensjahr in einem Rollstuhl sitzen muss. Ein besoffener Geschäftsmann aus Macon hatte sie mit seinem 85er Plymouth Fury überfahren. Sarah war äußerst beliebt auf dem Campus. Eine besondere Vorliebe für sie hatte vor allem aber Cutler. Er war schon einige Male von ihr zurückgewiesen worden. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Seine ruppige Art und sein ungepflegtes Aussehen machten auch auf mich keinen guten Eindruck. Daran änderten auch die Unmengen Haargel auf seinem Schopf nichts. Cutler war ständig in Begleitung von Rimes anzutreffen. Eine nicht weniger abstoßende "Kopie" von Cutler. Zwei junge Studenten, deren Hauptfach "Punkte sammeln" war. Jedem Mädchen auf dem Campus wurde ein gewisser Punktwert von eins bis zehn zugeteilt.
Daniel, mit dem ich seit unserer Kindheit eng befreundet war, teilte sich eine Stube mit Rimes. Eigentlich war Rimes ein ganz charmanter Kerl, wenn man Daniels Aussagen traute. Aber wenn er mit Cutler zusammen war, mutierte er vom tüchtigen Studenten zum "coolen" Aufreißer. Offensichtlich waren sie der Meinung, gut gegelte Haare und ein dunkles Outfit wären das Einzige, was ein Mädchen heute begehrenswert finden könnte. Denn Anstand oder Rücksicht waren für die zwei jungen Männer Fremdwörter.
Nun, Daniel ließ mich wissen, dass sich mein Punktwert auf fünf belief. Ich hatte also nicht viel zu befürchten. Für Sarah sah dies eher umgekehrt aus, da sie mit einer glatten zehn ganz oben auf der "Abschussliste" stand. Kein sonderlich begehrenswerter Zustand.
Als wir die Pforte des Büchersaales erreicht hatten, stand Sarah uns mit ihrem Gefährt genau gegenüber. Sie wirkte relativ verstört. Sie weinte. Sah auf den Boden und hoffte wohl, wir würden es nicht bemerken. Ich war erst seit Kurzem hier an der Uni und hatte noch keine Gelegenheit, um mit ihr zu plaudern. Geschweige denn, dass man uns Freundinnen hätte nennen können. Sie tat mir Leid. Also sprach ich dieses blasse Wesen an: "Kann ich dir helfen, Sarah?"
"Lass mich einfach in Ruhe! Keiner kann mir helfen. Ich gehe weg von hier und suche mir eine Uni, an der ich studieren kann, ohne von jedem gefühlskranken Schwachkopf angefasst zu werden!"
Das war deutlich und sie beeilte sich von mir weg zu kommen, bevor ich noch mehr Fragen stellen konnte. Das war auch nicht nötig. Es war nur zu offensichtlich, was geschehen war. Ich stand nur da. Sah Erica wortlos an. Ich war wütend, aber nicht so hilflos wie Sarah.
Mit drei älteren Brüdern hatte ich früh gelernt, mich zu verteidigen. Das bildete ich mir jedenfalls ein.
Ich stürmte in den Büchersaal und hielt Ausschau. Besonders lange musste ich nicht suchen. Lachend und triumphierend saßen die zwei Verantwortlichen an einem der Tische zwischen den Bücherregalen, die gewöhnlich den lernenden Hochschülern vorbehalten waren. Natürlich, sie brüteten nicht über irgendwelcher bedeutenden Fachliteratur, sondern über ihrem Buch der Bücher. "Der Punktestand", oder etwas ähnlich Idiotisches, vermutete ich. Noch hatten sie mich nicht bemerkt. Offensichtlich waren sie gerade dabei, ihren zweifelhaften Erfolg zu feiern. "Das gibt vier Punkte für dich, Cutler", posaunte Rimes und brach wieder in schallendes Gelächter aus, während er den Punktestand für den Hauptschuldigen dieser kaum bemerkenswerten Leistung aktualisierte. Aggressiv lief ich näher heran und schlug ihm mit einer ungestümen Handbewegung den Stift aus seiner Hand. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen und ich brüllte ihn an:
"Was ist los mit euch, Rimes? Könnt ihr sie nicht einfach in Ruhe lassen? Gibt es hier nichts Vernünftigeres für euch zu tun, oder schreiben sich eure Semesterarbeiten von alleine? Ich dachte wir wären hier, um zu studieren. Stattdessen belästigt ihr Sarah, die euch noch nicht einmal schnell genug ausweichen kann!"
Ich war entsetzt über mich selbst. Natürlich war ich gerade dabei, mich mit meinem dreisten Mundwerk doch noch weiter nach oben auf ihre „Abschussliste" zu setzen.
Erica, das Mädchen, das mit mir in die Bibliothek gekommen war, schien ebenso verblüfft über die Entwicklung der Lage. Es war nicht erforderlich, ihr geradewegs in die Augen zu sehen. Mir war auch so klar, dass sie sich postwendend von mir und meinen Gefühlsentladungen fernhalten würde. Vermutlich war das auch das Klügste. Sonst wäre sie auch mit in dieses Chaos, das diesem Tag folgen sollte hineinmanövriert worden. Vielleicht wäre sie auch hier, was auch immer hier sein mag, gelandet.
Rimes und Cutler starrten mich mit weit aufgerissenen Augen entgeistert an, um dann anschließend mit lautem Spottgelächter die Bibliothek zu verlassen. Ich war noch einmal heil davon gekommen. Zumindest dachte ich das für einen kurzlebigen, naiven Augenblick, dem schnell die Ernüchterung folgte. Cutler drehte sich noch einmal kurz vor dem Eingang um. Zwinkerte mir unbeirrt zu und rief:
"Wir sehen uns, Engelchen."
Ich war durcheinander - wachsam. Die Wut und die Kraft waren von mir gewichen und eine wabernde Leere, die im Begriff war, sich zu einer irrsinnigen Panik auszuwachsen, machte sich schleichend in mir breit. Ich lief in mein sicheres Zimmer. Dort verbrachte ich den armseligen Rest des schwindenden Tages geistesabwesend in meinem Bett. Eine äußerst kluge Entscheidung. Wahrscheinlich hätte ich dort bleiben sollen. Diane brachte mir zwei belegte Brötchen und eine Dose Limonade vom Speisesaal mit. Sie war eine unscheinbare Farmerstochter aus Conneticut. Mit ihr teilte ich mir unsere einfache Bude im Columbushouse. Nicht einmal die zwei "Helden" aus der Bibliothek waren interessiert an ihr.
"Das hättest du besser bleiben lassen sollen. Der ganze Campus redet von nichts Anderem. Du solltest dich in Acht nehmen vor Cutler. Er wird es sicher nicht dabei belassen, nachdem du ihn so bloßgestellt hast", schärfte sie mir ein. Mir war bewusst, dass Diane Recht hatte. Ich nickte aber nur zustimmend, ohne ihr darauf zu antworten.
An der Zimmertür klopfte es. Obwohl mir im Grunde klar war, dass um diese Uhrzeit keiner von den Kerlen ungesehen am Pförtner vorbei kommen würde, zuckte ich für einen kurzen Augenblick zusammen. Diane öffnete die Tür.
"Darf ich rein kommen?" Es war Sarah.
"Klar, komm rein. Geht es dir wieder etwas besser?" Erst jetzt wurde mir klar, dass mein kurzer, gedankenloser Ausbruch auch für sie negative Folgen haben könnte.
"Alles okay. Mein Vater holt mich morgen früh ab. Er weiß nicht, warum ich hier weg will. Er fragt auch nicht mehr danach, weil ich ihm am Telefon gebeten habe, es nicht zu tun. Er respektiert meine Entscheidung. Ich werde zu Hause an die Uni gehen", erwiderte sie und sah mich einen flüchtigen Moment lang nur mit traurigen Augen an. Sie sagte nichts weiter, was die Situation tragbarer gemacht hätte. Ich hatte Schuldgefühle, obwohl ich mich im Recht sah. Ich schwieg. Diane verließ kaum hörbar das Zimmer.
Als die Tür ins Schloss fiel, war Sarah den Tränen nahe und flüsterte beinahe: "Ich war gerne hier und letztendlich möchte ich nicht gehen, aber was soll ich machen? Ich will mich nicht Tag für Tag verkriechen, nur um Cutler nicht begegnen zu müssen. So ist es am besten, glaube ich. Du solltest auch darüber nachdenken, Jo. Hast du keine Angst?"
"Doch, hab ich. Aber ich habe keine Lust, mein Stipendium wegen ihm wegzuwerfen. Ich habe so hart dafür gearbeitet. Er wird sich schon wieder beruhigen, denke ich."
Sarah lenkte ihren Rollstuhl in Richtung Tür, blieb aber noch einmal stehen und lächelte mich an: "Ich fahre um zehn. Vielleicht sehen wir uns noch. Danke, dass du mir helfen wolltest", sagte sie und schloss die Tür hinter sich.
Am nächsten Vormittag hatte ich nur eine Vorlesung um halb elf in Physik. Wenn ich auf Frühstück verzichtete, konnte ich ausschlafen. Das dachte ich jedenfalls bis zu dem Moment, als das Telefon, das in jedem Stockwerk des Wohnheimes hing läutete. Eigentlich hatte ich keine Lust schon aufzustehen, aber offenbar war keiner dazu bereit, den Anruf entgegen zu nehmen. Etwas ärgerlich stand ich auf - noch nicht ganz wach. Ich nahm den Hörer ab und nuschelte in die Sprechmuschel: "Columbushouse, Erdgeschoss. Wen möchten sie sprechen?"
"Guten Morgen. Walker hier", meldete sich eine angenehme Männerstimme. "Könnten sie Sarah ausrichten, dass ich im Stau stecke und etwa zwanzig Minuten später komme?"
"In Ordnung, Mr. Walker, ich sag es ihr. Wiederhören." Ich legte auf. Meine Armbanduhr zeigte fünf Minuten vor zehn. Sarah war vermutlich schon auf halben Weg zum Besucherparkplatz, der hinter den Unigebäuden lag. Ich streifte mir schnell ein T-Shirt über und zog meine Sportshorts an. Anschließend stapfte ich mit Hausschuhen und ungekämmten Haar durch die Eingangshalle des Wohnheimes weiter in Richtung des Parkplatzes. Auf dem kleinen gepflasterten Weg, der hinter das Hauptgebäude der Universität führte, band ich mein zerzaustes Haar notdürftig mit einem Gummiband zusammen, dass ich am Handgelenk trug. Ich wollte mich nicht vor den Professoren, die gerne draußen auf den Bänken saßen blamieren.
Ich erreichte den Parkplatz kurz nach zehn Uhr. Sarah war, wie ich bereits vermutet hatte, schon da und wartete auf ihren Vater. Ihre gepackte Tasche stand neben dem Rollstuhl.
"Hi, Sarah. Dein Vater hat angerufen. Er steckt im Stau. Wird ein bisschen später."
"Na toll, ich wollte hier eigentlich kein Sonnenbad nehmen. Vielleicht hätte ich auf meinem Zimmer bleiben sollen."
Sie war deutlich genervt. Es war schon sehr heiß. Sie wollte nicht noch länger warten. Daher beschloss ich, bei ihr zu bleiben, bis ihr Vater da war. Ich nahm ihre Tasche.
"Komm, wir gehen in den Schatten. Ich leiste dir etwas Gesellschaft."
Ein paar Bänke standen am Parkplatzrand und ich setzte mich auf eine in der Nähe der Einfahrt. Sarah stand mit ihrem Rollstuhl neben mir. So würde wir gleich sehen können, wenn Mr. Walker endlich eintraf. Hinter uns war ein kleines Wäldchen, durch das ich oft und gerne spazierte, um nachzudenken, oder zu lernen. Es war eigentlich sehr schön hier, wenn man den Stellplatz so menschenleer vorfand. An manchen Tagen war hier die Hölle los. Aber nicht an einem Freitag, an dem sich die meisten Studenten ein vorgezogenes langes Wochenende am Strand gönnten.
"Hallo Engelchen", flüsterte mir jemand fast direkt ins Ohr. Ich zuckte erschrocken zusammen. Cutler stand genau hinter mir. "Ich sagte doch, wir sehen uns wieder. Was machst du denn ganz alleine hier mit deiner hübschen Freundin, Jo?"
Ich sprang panisch von der Bank auf, schnappte mir den Rollstuhl von Sarah. Dann ereignete sich alles viel zu schnell, um irgendetwas daran ändern zu können.
Ich wollte mit Sarah über den Parkplatz zu dem kleinen Weg laufen, der uns in Sicherheit gebracht hätte. Cutler war natürlich viel schneller als wir. Er hielt mich am Arm fest und zog ruckartig daran. Sofort stolperte ich. Sarah fuhr eilig weiter, um Hilfe zu holen. Rimes kam ebenfalls aus dem sonst so friedlichen Hain gelaufen.
"Lass dir doch aufhelfen, Engelchen", sagte Cutler und grinste widerlich. Ich riss mich aus seiner engen Umklammerung los und brüllte ihn an, er solle seinen Kumpel nehmen und verschwinden.
Rimes stand nun hinter mir. Sarah hatte beinahe den Weg erreicht und schrie wie wild um Hilfe. Hinter mir Rimes, vor mir Cutler.
"Keine Angst, Engelchen. Wir wollen doch nur ein bisschen spielen. Wenn du ganz, ganz lieb bist und vor allem leise, kannst du auch bestimmt gleich wieder gehen."
Rimes umfasste mit seinen starken Händen meine Arme. Ich versuchte verzweifelt, mich aus seinem kräftigen Griff zu befreien. Ich hatte keine Chance. Er war wesentlich größer und stärker als ich. Cutler kam noch näher. Ich konnte seinen Atem spüren. Er berührte mein vor Aufregung erhitztes Gesicht. Er streichelte meine Wange mit seiner unsanften Hand. Ich hatte entsetzliche Angst. Aber ich bin nun mal kein Mädchen, das so leicht aufgibt.
Wahrscheinlich hätte ich nie tun dürfen, was darauf folgte. Doch wer kann schon mit Sicherheit sagen, ob es irgendetwas am Verlauf der Ereignisse geändert hätte, hätte ich es nicht getan.
Ich spuckte ihm tobend ins Gesicht. Cutler wischte sich mit dem Unterarm über sein Gesicht und anschließend über sein ärmelloses T-Shirt. Zornig sah er mich an.
"Du solltest viel freundlicher sein, Jo", murmelte er mir ins Ohr, während seine rechte Hand meinen Haargummi löste und seine linke Hand mein T-Shirt aus der Hose zerrte. Zu diesem Zeitpunkt schien mir sowieso schon alles verloren, egal was ich tun würde. Also, entschloss ich mich weiterhin für Widerstand.
Mit voller Kraft zog ich mein Knie nach oben und traf Cutler ... leider nur am Oberschenkel. Er zuckte überrascht zusammen und trat ein paar taumelnde Schritte zurück. Während er sich den schmerzenden Oberschenkel rieb, sah er mich blindwütig an. Seine Augen blitzten hell vor Rage und Schmerz.
"Grober Fehler, Engelchen. Grober Fehler", stammelte er. Er zog ein Klappmesser aus seiner Hosentasche und öffnete es. Erneut kam er auf mich zu. Rimes Finger bohrten sich noch fester in meine Oberarme. Noch immer wand ich mich, der Panik nahe, mit allen Kräften in seinem beharrlichen Griff. Die Arme taten mir weh. Das Sonnenlicht, dass in der Klinge des Messers reflektiert wurde, blendete mich. Nicht weit von dem Parkplatz hörte ich eine Menschenmenge laufen. Langsam bangte ich nun um mein Leben. Ich hatte Cutler wohl doch gewaltig unterschätzt. Jemand schrie laut meinen Namen. Sarah, so schien es, hatte den halben Campus aufgescheucht.
Rimes löste erschrocken und so unvermittelt seine Umklammerung, dass ich unbeholfen nach vorne stolperte.
Eine Explosion von Schmerzen durchfuhr meinen kraftlosen Körper. Cutler starrte mich entsetzt an. Seine Hand zitterte, als er sie von dem blutverschmierten Messer löste.
"Das hab ich nicht gewollt. Es war doch nur ein dämliches Spiel, du bescheuertes Weib", brabbelte er. Er lief zurück in das friedliche Wäldchen hinter der Parkbank. Noch vor wenigen Minuten saß ich hier mit Sarah. Unterhielt mich mit ihr über den gestrigen Tag. Musste mich von ihr verabschieden, obwohl ich sie noch nicht einmal richtig kannte.
Cutler ließ mich einfach blutend und halb ohnmächtig vor Schmerz zurück.
Ich sah auf mein T-Shirt herab. Knapp unterhalb des Brustbeins sah ich den Griff von Cutlers Messer stecken. Benommen sah ich mich um. Die Farbe der Bäume schien sich zu verändern und die Parkbank begann vor meinen tränenden Augen wild zu tanzen. Meine Beine konnten mich nicht mehr länger tragen. Der schwarz geteerte Boden des Stellplatzes kam immer näher. Ich sah viele Füße auf mich zukommen und dann schlug mein pochender Kopf hart auf. Ich spürte den von der Sonne aufgeheizten Boden an meiner von Tränen nassen Wange. Ich hörte meinen Namen. Dann spürte ich nichts mehr.
Es ist so furchtbar hell - dann wieder dunkel. Ich kann Stimmen hören. Ich spüre warme, sanfte Hände auf meiner Haut. Nur dann und wann. Sonst ist es fast immer ruhig. Friedlich.
Nur das ständige piep-piep-piep, das mich immerzu verfolgt verschwindet nie. Ich weiß immer noch nicht, wo ich bin.
Heute hörte ich eine Stimme. Eine angenehme Stimme. Sie klang wie die einer jungen Frau von etwa zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren. Sie hat mir erzählt, man hätte beschlossen, den Stecker zu ziehen, wenn ich nicht endlich aufwachen würde. Sie hat mich angefleht - verzweifelt, ich solle endlich die Augen auf machen.
Aber meine Augen sind doch offen. Ich kann den prächtigen, blauen Himmel sehen. Grüne Bäume, die im Sommerwind schaukeln. Eine Bank neben einem Parkplatz. Junge Frauen und Männer mit großen Büchern unter den Armen. Sie lachen und sind glücklich.
Ich hab der traurigen Stimme nicht geantwortet. Sie hat geweint und irgendwann war sie verschwunden. Aber ich hörte keine Schritte. Hätte ich nicht Schritte hören müssen, wenn sie gegangen war?
Da war ein anderes Geräusch, das ich mir nicht eindeutig erklären kann. Zwischen dem unaufhörlichem Piep-piep. Piep-quietsch-piep-quietsch-piep-weg. Ein Geräusch, wie Gummiräder auf Linoleum. Heute? War das wirklich heute? Was ist das - Heute?
Es ist wieder dunkel.
Wieder eine Stimme. Ein älterer Mann, glaube ich.
"Es ist soweit. Wir schalten ab!"
Ich höre ein sachtes Klicken, wie von einem Lichtschalter. Es wird heller. Was geschieht mit mir? Werde ich jetzt aufwachen, wie die weinende Stimme gesagt hat?
Es wird immer heller. Das Piep-piep immer rastloser.
"Sie hängt fest", sagt der ältere Mann zu einer anderen Stimme, die bei uns ist, die ich aber nicht höre, oder nicht hören kann.
"Es liegt bei Josephine. Sie muss selbst entscheiden, ob sie leben will oder sterben."
Sterben? Muss ich jetzt schon sterben?
"Sie pendelt. Sie hängt fest! Irgendwo ... dazwischen!"