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Deckenkokon
Immer wieder versuchte er, nicht wegzudösen. Dieses Mal musste er einfach durchhalten. Aaron hatte sogar versucht abwechselnd, mit jeweils nur einem geschlossenen Auge zu schlafen. War so etwas überhaupt möglich? Egal. Die Hauptsache war, nie wieder derart aus dem Schlaf gerissen zu werden wie beim letzten Mal. Das war vor ein paar Wochen, als Aaron von einem Moment auf den nächsten, wie gegen eine Wand geschleudert wurde. Zwischen dem Knirschen von Möbeln, dem Klirren von Gläsern und dem Scheppern von Fensterscheiben, die zu Bruch gingen, hörte er immer wieder das Gezeter seiner Mutter und das Pöbeln und Fluchen des Stiefvaters aus dem Wohnzimmer. Nein. Nie wieder. Dieses Mal würde er wach bleiben und darauf vorbereitet sein.
Gegen 19 Uhr war er immer noch nicht zuhause. Da war bereits klar, dass Gerd nach der Arbeit mal wieder einen Umweg durch die Kneipen machte. Auch eine Stunde später, als es für Aaron und Bettina ins Bett ging, war Gerd immer noch nicht da. Aarons ältere Schwester Bettina war bereits nach wenigen Minuten eingeschlafen, nachdem sie sich über ihm ins Hochbett gelegt hatte.
„Wie konnte sie nur?“ dachte sich Aaron. Seine Mutter saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und hatte zuvor noch versucht, die Sorgen der Kinder abzuwiegeln:
„ Ach, der wird schon bald kommen. Schlaft ruhig. Alles halb so schlimm.“ Aber ihre Kinder spürten die Angst, die von ihr ausging.
Aaron lag lauernd in seinem Bett. Er hatte sich den oberen Teil der Decke wie eine große Kapuze über den Kopf gezogen, so dass nur noch seine Augen heraus blinzelten. Zur Sicherheit. Das hatte er sich nach dem Klassenausflug vor ein paar Monaten in Malente angewöhnt, als er dort etwas Schlimmes erlebt hatte. In diesem Schullandheim war er mit seinen Klassenfreunden in einem Vier-Bett-Zimmer untergebracht. Immer morgens um acht Uhr ging der Klassenlehrer durch die Flure und klopfte an die Zimmertüren, öffnete diese und rief laut in den Raum hinein:
„Aufstehen. Fertig machen zum Frühstück. Und zwar...JETZT!“
Eines Morgens war Aaron einfach nicht wach geworden, aber trotzdem nahm er alle Geräusche um sich wahr. Er hörte den Lehrer rufen, und wie die anderen schnauften und raschelten beim Aufstehen, irgendetwas murmelten. Doch Aaron befand sich wie in einer Parallelwelt, lag nur da und bekam seine Augen einfach nicht auf. So sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm einfach nicht aufzuwachen. Dieser Zustand wurde immer unerträglicher. Und dann spürte er plötzlich diese Hand auf seinem Gesicht. Sie strich kalt und mechanisch langsam über seine Stirn, runter bis zu seinem Kinn und wieder hoch. Aaron wollte beißen, schreien oder seinen Kopf bewegen. Er wollte endlich aufwachen. Wer war das? Was war das? Aaron heulte und schrie in sich hinein und versuchte irgendwie, seinen Körper unter Kontrolle zu bringen und die Hand wegzuschlagen. Mit heftigster Anstrengung gelang es ihm schließlich und er schnellte hoch. Völlig mitgenommen setzte er sich auf und suchte mit aufgerissenen Augen den Raum ab. Niemand war zu sehen. Sein Körper bebte. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Hatte er geschrien? Alle anderen Betten waren leer und die Zimmerkameraden waren bereits unten oder auf dem Weg zu den Frühstücksräumen. Aaron setzte sich auf die Bettkante und ließ seine zitternden Beine baumeln. Langsam wurde er wieder klar im Kopf. Was war das? War das nur ein Traum oder hatte sich irgendjemand einen schlechten Scherz erlaubt? Er hatte das nie herausgefunden.
Aber jetzt war er nicht im Jugendlager in Malente, sondern zu Hause. Er wartete bereits mehr als zwei Stunden auf den Stiefvater, in seinem Bett und seinem sicheren Deckenkokon. Aaron driftete weg. Die Erlebnisse des Tages nahm er mit in seine Träume. Bunte Punkte unterschiedlicher Größe blitzten vor seinem inneren Auge auf und zerplatzten wie Seifenblasen. Dann erschien ihm das strahlende Lächeln von seinem Klassenschwarm Margret, die er so sehr mochte, ihr das aber nie und nimmer gestehen konnte. Sie saß in einem weißen Kleid auf einer Bank und winkte ihm zu. Seine Mutter tauchte plötzlich auf, blickte auf ihn herunter und sagte irgendetwas zu ihm, was er aber nicht verstand. Nun schwebte er zwischen den Welten, denn seine Augen blitzten hin und wieder auf, schweiften im Kinderzimmer umher, nur um sich langsam wieder zu schließen. Dann sah er sich an einem riesigen Maisfeld entlang radeln - von der Schule nach Hause. Ein großes Auto fuhr hinter ihm und wollte vorbei, er musste sich mit seinem Rad noch mehr rechts halten und Platz machen, auf dem kleinen Feldweg. Das große dunkle Auto kam näher und wurde lauter. Sein Fahrradlenker schlug wegen des holprigen Weges zu den Seiten aus und er hatte Mühe sein Rad in der Spur zu halten. Der Wagen kam näher, wurde noch lauter und heulte auf. Immer lauter und bedrohlicher...... Dann erschrak Aaron, zuckte und riss die Augen weit auf.
„GERD KOMMT! GERD IST DA!!“, schoss es ihm durch den Kopf. Der rote Daimler mit dem unverkennbaren Motorgeräusch war vors Haus gefahren, hatte angehalten und verstummte. Aaron zog sich ruckartig die Decke vom Kopf. Sein Herz schlug jetzt ziemlich stark in seiner kleinen Brust. Das Atmen fiel ihm schwer, er bekam schlecht Luft. Mit zittriger Stimme flüsterte er zu seiner Schwester hoch:
„Bettina. Gerd ist da! Es geht los.“ Aber Bettina schlief weiter fest, hörte nichts oder wollte nichts hören. Aaron legte sich wieder zurück und hörte den Schlüssel im Haustürschloss. Er krallte seine Finger in die Bettdecke. So sehr er auch seine Ohren spitzte, er konnte zunächst nichts verdächtiges hören. Doch. Jetzt nahm er undeutlich ihre Stimmen wahr. Das Kinderzimmer lag nach hinten raus. Kam man in die Wohnung, gelang man zunächst in den Flur. Links ging das Wohnzimmer ab und rechts die Küche. Und dahinter lag dann das Kinderzimmer. Hier lagen jetzt Aaron und Bettina in ihren Betten. Bettina entspannt, Aaron weniger. Die Küchentür zum Flur war geschlossen und deswegen reichte es gerade mal um spekulieren zu können, was da drüben gerade vor sich ging. Eine endlos lange Minute später, hörte er ein Glas runter fallen..oder war es ein Aschenbecher..? Aaron setzte sich angespannt auf die Bettkante.
„Es geht los, es geht wieder los„ , sagte er verzweifelt zu sich selbst.
„Lieber Gott, bitte, bitte nicht", hörte er sich selber flehen und faltete seine Hände. Jetzt pöbelte Gerd irgendwas, seine Mutter polterte zurück. Es wurde noch lauter. Aaron spürte wie Tränen in ihm aufstiegen. Er wippte hin und her und versuchte weiter etwas herauszuhören. Dann der Knall. Extrem laut. So laut, dass er einen Satz nach vorne machte und fast auf den Teppichboden gelandet wäre. Irgendetwas war drüben gerade durchs Fenster geschmissen worden. Aaron stellte sich vor seinem Bett, um vielleicht besser hören zu können. Zitternd lief er im Kinderzimmer auf und ab. Bettina schlief seelenruhig weiter. Er kletterte hoch zu ihrem Bett, schüttelte sie an der Schulter und sie wachte tatsächlich kurz auf, wie er an ihren Augen erkennen konnte.
„Gerd dreht wieder durch...der ist grad gekommen und hat was durch die Scheibe geworfen...“ , versuchte er sie davon zu überzeugen, dass doch gerade etwas furchtbares geschieht. So als würde ihre Bettdecke brennen und sie müssten schnell hier raus. Aber Bettina murmelte nur etwas, drehte sich um und schlief weiter. Er musste alleine damit fertig werden. Es rumpelte und polterte wieder da drüben. Hingehen und Mutter beschützen? Wie denn? Aaron würde den Blick des besoffenen Stiefvaters gar nicht ertragen können. Gerd konnte Blicke auf den Jungen werfen, die ihn lähmten. Aaron war nicht sein Sohn und das ließ ihn der Stiefvater stets spüren.
Immer wieder betete er jetzt und schlug gleich mehrere Deals vor:
“Lieber Gott, bitte mach, dass es endlich aufhört! Bitte! Ich werde auch extra Hausaufgaben machen, ich werde auf mein Fußballtraining verzichten oder zu Hause beim Abwasch mithelfen. Bitte lass die beiden mit dem Streit aufhören ", flehte er. Aber ein weiterer Schwall von Wortgefechten drang stattdessen über den Flur, durch die Küchentür. Aaron setzte sich ans Fußende seines Bettes und dann wurde es da drüben tatsächlich ruhiger. Nur das wilde Pochen seines Herzens nahm er wahr. Er atmete durch, stand auf und setzte einen Fuß in die Küche. Sollte es vorbei sein? War jetzt Ruhe? Doch dann flog ein Gegenstand von außen an die Küchentür und seine Mutter schrie wieder kurz auf. Aaron probierte schnell dasselbe wie zuvor. Half vielleicht dieses Ritual? Zurück zum Bett um sich wieder ans Fußende zu setzen? Als er saß, wurde es jedoch nicht ruhiger. Jetzt pöbelte hauptsächlich seine Mutter. Warum war er denn nur aufgestanden und Richtung Küche gegangen? Er hätte doch dort sitzen bleiben können, dann wäre alles ruhig geblieben. Oder? Verdammt. Aaron flehte weiter:
„Lieber Gott, ich bitte dich. Was willst du denn noch? Lass es doch endlich aufhören...“
Er heulte weiter und hatte eine Riesenangst um seine Mutter, doch er konnte unmöglich die Tür zur Küche aufreißen um dann im Wohnzimmer dazwischen zu gehen. Oder vielleicht doch? Nein, Das konnte er einfach nicht. Zu groß die Angst vor diesem Mann und dessen vernichtendem Blick. Verdammt, wäre er doch nur älter und größer. Aaron wippte hin und her. Sein Keuchen und Schnaufen aufgrund der Atemnot beruhigte sich etwas. In ihm stieg langsam so etwas wie Wut oder Trotz auf. Dann kniete er sich langsam auf den Boden, faltete seine Hände und flüsterte ein letztes mal:
“Lieber Gott, wenn du damit nicht aufhörst, bis ich bis zehn gezählt habe, dann werde ich nicht mehr an dich glauben. Nie mehr. Denn dann kann es dich nicht geben und dann bist du mir egal, so wie ich dir egal bin.“ Das könnte vielleicht passen – dachte er sich. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und zog die Nase hoch. Dann hielt er sich die Ohren zu und zählte langsam bis zehn. Angekommen bei zehn und einer und noch einer weiteren Sekunde nahm er die Hände von seinen Ohren. Dann blickte er starr auf den Teppich und lauschte. Langsam und bedächtig wie ferngesteuert stand er auf und bewegte sich zum Bett, schlug die Decke zurück und vergrub sich darunter. So tief, dass wieder nur noch seine Augen zu sehen waren.
Als er an einem der nächsten Schultage wieder hinten in der letzten Reihe saß, konnte er sich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Besonders den Religionsunterricht betrachtete er mit einem gewissen Abstand. Aaron fühlte sich den anderen Kindern seltsam überlegen, als die Lehrerin vom Jesuskind und dem heiligen Vater sprach. Ihm konnten sie ja viel erzählen. Wie damals, als es noch hieß, es gäbe den Weihnachtsmann. Aber er schien jetzt mehr zu wissen. Aaron guckte längst nicht mehr ins aufgeschlagene Buch vor ihm, sondern aus dem Fenster. Die Stimme des vorlesenden Mitschülers nahm er wie aus weiter Ferne wahr. Die große Baumkrone der Linde auf dem Schulhof bewegte sich heftig im Wind. Regentropfen klatschten an die Scheiben. Ein Sturm war aufgezogen, keine helle Wolke mehr in Sicht. In seiner Federtasche fand er ein Stück seines Füllfederhalters. Und zwar den Clip, mit dem man den Füller an eine Hemdtasche hängt. Dieser Clip hatte eine scharfe Kante an der Bruchstelle. Er zögerte etwas, dann zog er damit langsam über seinen linken Handrücken. Immer an der selben Stelle. Hin und wieder drückte er etwas stärker drauf. Ein bisschen Blut kam zum Vorschein. Aber das konnte er aushalten. Sogar noch etwas stärker. Bald war eine ca. 5 cm rote feuchte Linie auf dem Handrücken sichtbar, die ihn immer an diesen Moment, und das wollte er so, erinnern sollten. An den Zuständen zu Hause konnte er nichts ändern. Aber irgendwann, eines schönen Tages, würde er als Erwachsener auf diese Narbe blicken können und damit zurück in die Vergangenheit, genau an diesen einen Moment. Doch dann würde es ihm besser gehen als jetzt. Darauf freute er sich schon jetzt.