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Decoder
Ich wurde auf einer Achterbahn geboren. Es war keine normale Achterbahn. Es war, nun ja, eine größere.
Als mein Urgroßvater ein Kind war, spielte er auf Karussells. Geräte für Kinder, die man mit der Hand anschubsen musste, damit sie sich drehten. Wenn ich es mir recht überlege, ist es auf diese Weise viel romantischer. Nicht so groß und gefährlich. Obwohl die Gefahr schon lange kein Thema mehr ist, über das ich mir Gedanken mache.
In dem alten Fotoalbum, das ich in dem Spind meiner Mutter gefunden habe, sehe ich ihn lachend an einem zweistöckigen Karussell stehen. Er hält eine Frau im Arm; wahrscheinlich meine Urgroßmutter. Hinter ihm drehen bunte Holzpferde durchs Bild. Überall sind Kinder, und in der zweiten Etage gibt es Tische und Bänke, die sich ebenfalls drehen. Am rechten Bildrand ragt die lockige Mähne eines Clowns ins Bild. Ich kann nicht genau sehen, was er macht, denn die Fotografie hat nur zehn oder zwölf Bewegungseinheiten. Ich glaube, er balanciert etwas. Der Ton ist schlecht. Eigentlich kann ich die Melodie der Drehorgel nur erahnen.
Mein Urgroßvater hat miterlebt, wie die ersten Achterbahnen die Freizeitparks eroberten. Damals brauchte man dafür extra einen Park, und man musste Eintritt bezahlen. Für eine Achterbahn, das müssen sie sich mal vorstellen. Die Konstruktionen waren anfangs aus Holz, ein Wagen hatte nicht mehr als einen Sitz und einen Sicherheitsbügel, der verhinderte, dass man hinausfallen konnte. Das ganze war klassisch aufgebaut: Die Gondel oder die Wagenkollone wurde auf einen Höhepunkt gezogen, um auf der anderen Seite durch Gravitation wieder herunterzurauschen. Später kamen dann Loopings und Schrauben dazu. Die Leute waren vorsichtig und wagten sich nicht in alle Attraktionen; mein Urgroßvater gehörte auch zu ihnen. Es war eine schöne Zeit, aber den Anbruch der Neuzeit hat erst mein Großvater miterlebt. Die alten Parks wurden schlechter besucht, und die Ingenieure hatten jede erdenkliche Achterbahnkombination durchgespielt. Nicht, dass die Leute weniger Spaß am Achterbahnfahren gehabt hätten. Ich glaube, ein Mensch kann seinen Durst am Thrill nicht stillen; dazu ist er nicht geschaffen. Nein, die Gründe für die Flaute waren bei den Bahnen selbst zu suchen. Es herrschte Stagnation.
Dann machte man die Bahnen schneller und gefährlicher (zumindest sahen sie gefährlicher aus). Sie gingen ebenso an die Grenze der Belastbarkeit des menschlichen Körpers wie an die des Materials. Sie waren hoch, höher als so manche Wolkenkratzer, und konnten auch mehr Passagiere transportieren. Schließlich baute man den "Decoder". Eine Bahn, die hundertsiebzig Loopings, dreißig Schrauben und ein Start-Ziel-Gefälle von mehr als drei Kilometern hatte. Die Fahrkabinen rotierten auf der Abfahrt mit, auf den Anstiegen gegen den Uhrzeigersinn. Eine Kabine beherbergte einhundert Menschen in Harnischen, die eine theoretische Zugkraft von einundzwanzig g aushalten konnten, eine Belastung, die im normalen Fahrbetrieb nie erreicht wurde. Der "Decoder" war eine Stahlbetonkonstruktion mit Fundamenten, die von Gebäuden des zwanzigsten Jahrhunderts inspiriert waren. Auf den gewaltigen Sockeln verlief die zweispurige Bahn. Eine für Normal-, die andere für Überschallfahrten. Von unten sah es so aus, als strecke ein Riese zwei verkrüppelte Finger aus den Wolken. Den Start erreichte man über Hochgeschwindigkeitsaufzüge, die alle fünf Minuten fuhren. Der Preis für eine Fahrt betrug nach den Erzählungen meines Opas fünfhundert Credits; entsprechend teuer für einen derartig gewaltigen Thrill. Trotz alledem brach der "Decoder" nach anderthalb Jahren den Rekord des längsten Non-Stop-Betriebes aller Zeiten: Am 1. April 2105 verkündete der Chef des Sicherheitsteams die Kabinen seien nun seit zwei Monaten und vier Stunden in Bewegung ohne einmal stillgestanden zu haben. Aufgrund dieses Erfolgs, eine Leistung, die sowohl den ausgezeichneten Ingenieuren als auch den Sicherheitsleuten zu verdanken war, wurde der "Decoder" verstaatlicht und von nun an durch Steuergelder finanziert. Das Unternehmen warf Gewinne ab, von denen die Investoren bis zu diesem Zeitpunkt nur geträumt hatten. Die unterschwellige Nachricht, die die Maschine den Menschen damit überbrachte, war schon bald klar: Das Volk brauchte den Thrill.
Jetzt, da der Finanzierung praktisch keine Grenzen mehr gesetzt waren, versah man den Decoder mit technischen Upgrades. Die Laufgeschwindigkeit der Schienen wurde optimiert, der Startpunkt um einen Kilometer Richtung Himmel verlegt und die Kabinen mit adrenalinfördernden Gadgets bestückt. Diese Gadgets bestanden meist aus kleinen Subspielen, die man während des Rides spielen konnte, wenn man durch Gewöhnung oder körperliche Stärke durch die natürlichen Anforderungen der Fahrt noch nicht ausgelastet war. Über jedem Harnisch war eine elektronische Handfeuerwaffe befestigt, mit der man während der Fahrt auf Ziele schießen konnte, die durch kleine Propellereinheiten neben dem Bahnverlauf schwebten. Traf man die Hälfte der Ziele, bekam man eine Bonusfahrt, traf man alle, eine Dauerkarte. Wie bei jedem Spiel, das der Mensch bisher gespielt hat, gab es auch beim "Codehunting" Fahrgäste, die Präzision und Schnelligkeit auf eine geradezu virtuose Ebene brachten. Nur ein Jahr nach Einführung des Spiels traf ein gewisser Mitch Connelly jedes Ziel gleich zweimal, und das nicht nur eine Fahrt, sondern einen ganzen Nachmittag lang. Zeugen zählten sechzehn Durchläufe, in denen er doppelt punktete, ein Rekord, den bis heute niemand gebrochen hat. Mr. Connelly wurde nach diesem Tag nie wieder am "Decoder" gesehen, und durch den Nebel der Jahrzehnte scheint es mir beinahe, als sei das alles nur eine Legende.
Das zweite Spiel war etwas gefährlicher, wobei "Gefahr" auch hier relativ zu sehen ist, da die Sicherheitsvorkehrungen nahezu perfekt waren. Ich habe eben die Geschichtsbücher meiner Mutter durchgeblättert und bin auf keinen Eintrag gestoßen, der von einem Unglücksfall im Zusammenhang mit dem "Decoder" berichtet.
Beim zweiten Spiel ging es darum Zentrifugalpunkte zu sammeln. Mit dem Controlpad an der rechten Harnischseite konnte man die Halteseile steuern. Immer, wenn sich die Gondeln des "Decoders" während einer der vielen Spiralen in die Kurve legten, war es möglich, seinen Sitz mit einer Art Jojo-Effekt aus dem Sicherheitsgehäuse zu schießen. Je nach Kühnheit oder Physis konnten die Passagiere die Länge selbst beeinflussen. Die meisten machten kein Gebrauch von diesem Zusatzspiel, aber auch hier gab es hartgesottene Fahrer. Die Maschine überwachte während des Thrills die Vitalfunktionen des Gastes, sodass lebensmüde Menschen oder gar Selbstmörder nicht gleich jeden Rekord brechen konnten. Wollte man viele Zentrifugalpunkte sammeln, musste man nicht nur mutig, sondern auch körperlich fit sein. Bei Nacht war die ganze Bahn beleuchtet und der Anblick überwältigend. Es sah so aus, als walze sich eine Feuerspirale aus dem Himmel, die nach allen Richtungen bunte Tentakel leckte. Überflüssig zu erwähnen, dass sich "Codehunting" gerade beim jüngeren Publikum einer größeren Beliebtheit erfreute.
Wider aller Erwartungen wurde der Eintrittspreis auf dreihunderfünfzig Credits reduziert, sodass sich jetzt auch Menschen der Unterschicht die Fahrten leisten konnten. Außerdem gab es ein Duzend Gewinnspiele im öffentlichen Fernsehen, die Dauerkarten verschenkten.
Ich würde gerne sagen, dass der "Decoder" die Menschen stillte, sie ausfüllte und befriedigte mit seiner Größe und seiner schier unbezwingbaren Zentrifugalkraft, aber das tat er nicht. Auch bei Geräten dieser Größenordnung setzte irgendwann eine Abstumpfung ein, die sich im Volk in einer weiteren Stimmungsstagnation niederschlug. Man war froh, dass es diese Maschinen gab, aber man war nicht glücklich.
Man versuchte der Entwicklung entgegenzuwirken, indem man Drogen auf den Fahrten genehmigte. Bald gab es sogenannte "Designercodes", die man sich vor einer Fahrt einwarf, um das Gerät auf verschiedenen metalen Ebenen zu erleben. Zuerst wurden diese Substanzen nur an Erwachsene verkauft, später gab man sie auch an Kinder und Säuglinge frei. Ziel war es, den Thrill schon von kleinauf intensiver zu gestalten, damit sich das neuronale Netz den Ansprüchen des "Decoders" anpasste. Eine Generation solch angepasster Gehirne wäre imstande, die Probleme aus einer ganz anderen Warte zu betrachten. Den neuronal auf den Thrill abgerichteten Kindern fiel sofort das Defizit des audiovisuellen Inputs während der Fahrt auf. Man hatte Geschwindigkeit, Zentrifugalkräfte, Loopings, Schrauben, Subspiele und Drogen, aber trotzdem sah und hörte man noch zu wenig.
Die ersten Audiocodes wurden geschrieben. Melodieartige Technoklänge, aus Beat und Bassline, gemischt mit authentischen Schreien der Qual und des Todes. Gebetsgeflüster in einem Meer elektrostatischen Rauschens; Schimpfwörter und Hasstiraden geschrien in den Stimmen furchtsamer Frauen. Zu den kilometerhohen Stahlbetonsockeln der Bahn gesellten sich Audiosäulen, an denen Lautsprechersysteme wie Früchte an einem Baum hingen. Sie sorgten dafür, dass der Passagier die ganze Strecke über beschallt wurde. Der "Decoder" büßte von seiner Eleganz ein und gewann an Bedrohlichkeit. Einen Teil des visuellen Inputs übernahmen Laser, die Muster und Kurzfilme an die Peripherie des Streckenverlaufs projezierten. Die Muster zeigten meist starke Kontraste in Farbe und Form und dienten dazu den Passagier zu verstören und empfänglicher gegenüber nervlicher Belastung zu machen. Die Kurzfilme waren dunkle Episoden menschlicher Grausamkeit. Originalaufnahmen von atomaren Explosionen, Kriegen im Zeitraffer, Morden und Vergewaltigungen. Es stellte sich heraus, dass die Grenze des Ertragbaren weit höher lag, als man zunächst angenommen hatte.
Der "Decoder" war zu einer Säule aus Licht und Lärm geworden, die aus dem Himmel kam wie der zornige Finger Gottes. Zum ersten Mal kam es vor, dass Leute während der Fahrt starben. Man änderte die Gesetze, tunete die Drogen und sorgte bei den jungen Generationen für noch mehr neuronale Belastung, um die Verarbeitungsgeschwindigkeit von Reizen in späteren Jahren zu erhöhen.
Die Menschen dieser Epoche begannen sich ausschließlich auf Rollercoaster zu spezialisieren. Mein Vater war einer von ihnen.
Meine Mutter hat ihn ein paar Jahre später kennengelernt. Wenn ich das Fotoalbum durchblättere, sehe ich sie vor den Stahlbetonsockeln eines "Decoders" winken. Zu ihrer Zeit gab es weltweit über sechtausend dieser Bauwerke in jeder Variation oder Belastungsstufe. Im Grunde sind die "Decoder" Kunstwerke. Riesige Maschinen, die uns Menschen beim Träumen helfen.
Meine Eltern haben mir erzählt, dass sie irgendwann einen Zustand des Thrills erreichten, der nicht mehr steigerbar war. Mittlerweile gab es mehrere tausend Gadgets. Die Zahl und Abwechslung der einzelnen Spiele war so bemessen, dass man in einem Menschenleben nicht näher als hundert Spiele an die Maximalzahl herankam. Auch hierzu finde ich einen Eintrag in den Geschichtsbüchern von einem gewissen Louis Carpenter, der an seinem hundertsiebten Geburtstag das letzte Spiel beendet haben soll, um danach weitere zwei Jahre in einer Berghütte auf den Tod zu warten; fernab sämtlicher "Decoder". Ich glaube nicht, dass es diesen Mann jemals gegeben hat. Wenn doch, dann verneige ich mich demütig vor seiner Leistung.
Mein Vater gehörte zu den Menschen, die einen Traum verwirklichten, der schließlich doch noch eine Steigerung brachte. Das "Codebending". Im Volksmund galt es als unmöglich und zeitweise sogar ketzerisch.
"Codebending" ist ein viele Jahre währender Vorgang höchster Ingenieurkunst, der es ermöglicht "Decoder" untereinander zu verbinden. Mein Vater war Gründer der ersten Firma, die Projekte dieser Größenordnung realisieren konnte. Wenn ich ihn heute frage, witzelt er immer, er habe wohl damlas nur die richtigen Drogen genommen oder sei zur richtigen Zeit mit der richtigen Bahn gefahren, aber ich glaube, dass mehr dahinter steckt.
Damals sahen die Satellitenbilder unseres Planeten aus wie ein blauer Sternenhimmel. "Decoder" auf dem Meer oder auf dem Festland, die vom Weltraum aus betrachtet, als glitzernde Punkte zu sehen waren. Heute zeigen die Satelliten die Erde eingesponnen in einem gewaltigen Netz aus Glitzerfäden. Ein leuchtendes Gefelcht aus Rollercoasterstrecken, jede einzelne ummantelt von Lautsprechersystemen und Laserprojektionen. Von hier oben ist es ein friedliches Bild. Die Bahnflechte scheint unseren Planeten zu beschützen. Einzelne Glitzerbänder stehen ab, wie struppige Haare von einem Kopf. Das sind die Strecken der neuen Generation; meiner Generation.
Die Projekte befinden sich noch in den Kinderschuhen, aber seitdem man vor fünfzig Jahren anfing die "Decoder" untereinander zu verbinden, sind der Fantasie keine Grenzen mehr gesetzt. Man träumt bereits von einer Achterbahn, die die ganze Menschheit auf einmal transportieren kann. Ein Thrill, der so unvorstellbar schön ist, dass man ein ganzes Leben auf den Bahnen leben wird. Erfahrungen und Gadgets, die so fremdartig sein werden, dass es einer speziellen Ausbildung auf älteren Rollercoastersystemen bedarf, um sie zu überleben. Familien werden dort entstehen und glücklich werden. Kulturen werden sich entwickeln. Neue Gedanken und Ideen, deren Realisierung in greifbare Nähe rücken wird.
Ich wage es zu träumen und befinde mich noch in der Anfangsphase meines Projekts. Doch in Zeiten wie diesen gehört das Träumen zum Beruf. Mein Team und ich haben die Aufgabe die neuen Schwerkraftrollercoaster auf dem Mond zu installieren. Hier wächst eine ganz neue Generation heran. Meine Frau und ich haben bereits vier Kinder. Zwei Jungen und zwei Mädchen. Wir speisen sie schon jetzt mit mehr Input als Kathrine und ich zusammen ertragen könnten. Ich bin so stolz auf sie. William, unser ältester, hat sich bereits selbstständig gemacht und entwirft neue Subspiele für die nächste Generation der "Decoder". Der Schwerpunkt der neuen Programme soll künftig nicht nur auf motorischer Reaktion beruhen, sondern auch schnelle kreative Leistungen erfordern, um bestimmte Abschnitte der Spiele überleben zu können. Jessica designed Muster und Kurzfilme für den visuellen Input. Die jüngsten Ergebnisse ihrer Arbeit können sich wirklich sehen lassen.
Es wird Zeit das Fotoalbum meiner Mutter wegzulegen und sich von den Erinnerungen zu lösen. Ich werfe einen letzten Blick auf das Bild meines Urgroßvaters. Die zehn oder zwölf Bewegungseinheiten vermitteln das Gefühl einer Bewegung des Karussells im Hintergrund. Plötzlich glaube ich die Melodie der Drehorgel zu erkennen. Eine Melodie... bloße schlichte Töne. Etwas in meinem Inneren spürt so etwas wie Sehnsucht.
Ich schüttel diese Gedanken ab, klappe das Fotoalbum zu und setze mich in die Gondel zu meiner Linken. Automatische Konsolen legen sich sanft an meinen Körper. Verstörender Input überflutet mich wie eine Welle aus Quecksilber, als meine Gondel auf die Mondumlaufbahn zusteuert. Es geht hoch und immer höher. Für einen Moment befinde ich mich in Stasis, am höchsten Punkt der Bahn; ich erreiche den Zenit.
Dann spüre ich die Beschleunigung.