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Dein Lied
Vollständiges Versinken in mich.
Stumpf, gedankenlos, ängstlich.
Ich habe nichts mitzuteilen, niemals, niemanden. (Franz Kafka)
Die innere Leere konnte einem äußerst willkommen sein, wenn man die meiste Zeit befürchten musste, vor Gedanken, Phantastereien und Gefühlen beinahe zu bersten. Aber sie kam selten, diese Leere.
Ich stand in meinem Flur, einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel werfend. Es war in Ordnung so. Kein Make-Up, das lange Haar durch ein schwarzes Band bebändigt. Ich schlang meinen Mantel um mich und zog ihn so fest zu, wie ich nur konnte. Meine Gitarrentasche stand neben der Kommode und wartete darauf getragen zu werden. Die Schwere, die sie auf meine Schultern legte, kam mir beinahe tröstlich vor. Es konnte los gehen. Ich war auf dem Weg. Dem Weg zu dir. Es schneite.
Ich brauchte dich auch heute nicht zu suchen. Die Bank war unser Treffpunkt. Es gab viele Bänke hier, aber wir hatten diese gewählt. Sie war alt und das Holz hatte sich an zahlreichen Stellen von seinem dunklen Lack befreit. Du saßst da undt starrtest den Schneeflocken nach, die vor deinem Gesicht tanzten.
Ich brauchte nichts sagen, als ich auf dich zukam, du blicktest auf, als du meine knirschenden Schritte im Schnee hörtest. Dein Kopf drehte sich in meine Richtung und ein Lächeln umspielte deine Lippen. Egal, wie ich mich auch immer fühlen mochte, deinem Lächeln konnte ich nur auf eine Ar entgegnen: ich gab es zurück.
Ich setzte mich neben dich, wir ließen wie immer einen Abstand zwischen uns. Es war Respekt vor dem anderen und unsere Freundschaft, die diese Lücke zwischen uns verlangten.
Du sahst gut aus. Dein kurzes Haar war vom kalten Wind zerzaust, dein Gesicht war blass und zeigte kaum ein Anzeichen, dass dir die Kälte etwas ausmachen würde. Deien Augen fixierten die meinen und ich fühlte mich, wie jedes Mal, nackt dabei. Ich hatte nie herausgefunden, wie du es machtest, aer du konntest in mir die Worte sehen, die ich viel zu selten über die Lippen brachte. Die Furcht hatte mich gelehrt, dass ein Wort sowohl Segen als auch Fluch zugleich sein konnte, je nach dem an wen man es richtete. Meist schwieg ich. Nur bei dir war diese Angst nahezu verschwunden. Wir waren uns ähnlich, beinahe gleich.
Ich kannte deine Geschichte, weil du sie mir erzähltest. Du hattest sie mir nie komplett erzählt, aber ich du gabst mir die Möglichkeit zwischen deinen Worten das zu hören, was du nicht sagen konntest. Und ich verstand. Verstand warum du warst, wie du warst.
Als wir uns das erste Mal trafen, weintest du. Vor mir, ohne Scham. Bei einem Lied. Deinem Lied. Damals meintest du, es läge an der Stimme der Interpretin. Ich ahnte das es nicht stimmte, zumindest nicht ganz. Aber ich ließ dich, widersprach nicht, fragte nicht nach. Wir kannten uns erst wenige Stunden und ich wollte, dass du die Wahl hattest, was du von dir offenbaren möchtest. Man lernt am meisten aus Menschen, wenn man sie einfach tun ließ, was sie tun mussten. Wenn man einfach beobachtete und nur sprach, wenn man gefragt oder dazu aufgefordert wurde.
Wir hatten wenig gesprochen, an diesem Herbsttag.
"Wie geht es dir?"
Ich erschrak beinahe, als diese Frage mich aus meinen Gedanken riss. Deine Stimme war beruhigend, gefasst. Doch ich könnte mich an einige Momente erinnern, als deine Wut sie verzerrte.
"So wie immer, wenn ich dich sehe." Ich gab auf diese immer gleiche Frage, die immer gleiche Antwort.
Du nicktest und branntest dir eine Zigarette an. Ich folgte deinem Beispiel.
Wieder Schweigen.
Wir saßen einfach nebeneinander, rauchend, und sahen den Dampf- und Qualmwölkchen nach, die unsere Münder in die Kälte der Welt entließen.
Der Schnee ließ nach.
Ich wusste nicht, wie lange wir so auf unserer Bank verharrten, bis du auf meine Gitarre zeigtest.
"Etwas Neues dabei?" Du lachtest wie ein kleiner Junge, die blauen Augen strahlend hell.
"Ich bin nicht sicher, ob du es mögen wirst." Mein Blick glitt mit diesen Worten ins Leere. Du wusstest nicht, was ich diesmal spielen würde. Ich hatte lange geübt. Sehr lange.
"Hat mir jemals etwas nicht gefallen, das du gespielt hast?" Du zwinkertest mir aufmunternd zu und ich schwieg. Heute würde ich dich wieder weinen sehen. Ich wusste es und hoffte, dass du es trotzdem verzeihen würdest.
"Spiel einfach, was soll schon passieren?"
Deine Frage trieb mir selbst fast die Tränen in die Augen, aber ich weinte nicht. Wollte nicht weinen. Konnte nicht. Nicht jetzt.
Ich befreite zögernd die Gitarre aus ihrer Tasche und pürfte, ob die Saiten gestimmt werden mussten.
Dann begann ich.
Dein Blick veränderte sich. Wenn man dich nicht kannte, fiel es nicht auf. Aber ich sah es. Sah, wie das Blau deiner Augen eine Nuance dunkler, dein Blick leerer wurde. Ich spielte einfach weiter, es gab kein zurück. Ich schickte diese Melodie in den Schnee, in die Kälte und in die Wärme deiner Selbst. Du sangst mit. Erst ganz leise, dann immer lauter. Mit geschlossenen Augen. Deine Stimme passte nicht zu diesem Lied, aber es war egal. Es war dein Lied. Und ich mochte es, wenn du es sangst. Auch wenn die Tränen sich bereits einen Weg durch deine geschlossenen Lider bahnten.
Hatte ich dir je gesagt, dass ich dieses Lied nie gemocht hatte, bis ich dich traf und es für mich eine Bedeutung bekam? Ich war mir sicher, dass ich es nie gesagt hatte. Und nie sagen würde. Weil ich wusste, das du es weißt.
Als ich den letzten Akkord verklingen ließ, sah ich dich an. Du versuchtest nicht, die Tränen weg zu wischen. Es war dir nicht peinlich, zumindest nicht vor mir.
Dein Blick war auf den Schnee gerichtet, welcher zu unseren Füßen lag und ich ließ dich. Du brauchtest Zeit und ich gab sie dir, weil du mein Freund warst. Ich legte eine Hand auf deine. Du hieltest dich an die Bank geklammert, als würdest du befürchten ins Nichts zu stürzen, wenn du sie los ließest.
Es schneite nicht mehr.
"Spiel dieses Lied ab jetzt immer, wenn wir uns sehen." Deine Stimme war noch brüchig, beinahe heiser, aber es würde schnell wieder besser werden.
"Versprochen." Ich zündete mir die nächste Zigarette an. Er tat es mir diesmal gleich.
"Ich muss gleich gehen." Du sagtest es, nach dem vierten Zug an deinem Glimmstängel und ich nickte. Ich wusste das du gehen musstest, auch wenn ich dich ungern gehen ließ. Es war immer das selbe Spiel. Wir beide wollten nicht gehen und doch mussten wir es. Auch wenn wir wussten, dass danach etwas fehlte und wir uns fühlten, als seien wir leer.
"Darf ich dich wieder besuchen?"
"Du darfst mich nur nicht nicht besuchen." Das jungenhafte Lächeln war in dein Gesicht zurück gekehrt. Es war die immer gleiche Antwort, auf eine immer gleiche Frage.
Ich nickte und schloss kurz meine Augen.
Die Sonne brach durch die Wolkendecke.
Ich war allein. Allein auf unserer Bank am Friedhof. Die Sonne verwandelte den Schnee in ein Meer aus funkelnden Kristallen. Ich blickte zum Friedhofstor. Einige Eiszapfen hingen an den verschnörkelten Ornamenten herab. Als das Licht sie traf, zerbrach es in zahlreiche Farben. Ich hielt die Tränen nicht mehr zurück.
Es war dein Lied gewesen. Allein dein. Du hattest es nicht geschafft, mir all deine Farben zu zeigen. Aber die, die ich sehen durfte, hatten mich fasziniert. Sie waren wirklich schöner, als es jeder Regenbogen hätte sein können. Du hattest es damit geschafft, aus meinem tristen Grau eine Welt zu machen die lebte. Ich hatte dir das nie gesagt. Nun war es zu spät.
Als ich den Rückweg antrat, setzte der Schnee wieder ein.
Weiß, auf grauer Straße, grauen Gebäuden, grauen Leben.