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Dein Platz
Es war kalt draußen, doch ich musste einige Schritte gehen, um den ganzen Menschen zu entkommen. Ich schwankte etwas, und innerlich beschimpfte ich mich selbst dafür, heute mehr getrunken zu haben, als ich es sonst tat. Ausgerechnet heute. Hatte ich nicht immer gesagt, dass man mit Alkohol keine Probleme lösen kann? Kopfschüttelnd blickte ich in den klaren Sternenhimmel. Der Schnee unter meinen Schuhen knirschte leise und ich genoss das eigenartige Geräusch, das mich wenigstens für einen Moment von meiner Angst ablenkte. Hier draußen, allein und ohne all die fremden und bekannten Gesichter und die gemischten Eindrücke, die auf mich einfielen, drohte alles wieder zurückzukommen und mich mit voller Wucht zu treffen. Dabei wusste ich selbst nicht einmal, vor was ich eigentlich Angst hatte. Vor dem Leben. Und dem Alleinsein vielleicht. Aber so einfach war es nicht. An manchen Tagen machte es mich geradezu krank, mich nicht selbst vollständig erfassen zu können, meine Ängste nicht in Worte fassen zu können. Wie sollte ich sie so jemals besiegen?
Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir, dann eine fremde Stimme: „Maria? Kommst du nicht wieder mit rein?“ Ich drehte mich um. Dort stand Danny, ein Junge, den ich schon lange kannte und doch eigentlich wieder nicht. So scharf ich auch nachdachte, ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals länger als das übliche „Hey, wie geht’s?“ mit ihm unterhalten zu haben.
Egal, beschloss ich in diesem Augenblick, ich würde mich heute amüsieren. „Doch, klar“, antwortete ich und trat hinter ihm wieder in die stickige Wärme der Disko.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte mich Danny, nachdem er mir eine Cola in die Hand gedrückt hatte. Ich nickte. Seine braunen Augen blickten mich forschend an. „Naja, eigentlich…“ Ich senkte den Kopf. Und so erzählte ich ihm an diesem Abend davon, wie es mir wirklich ging, das, was ich noch nie einem Menschen anvertraut hatte. Kein einziges Mal kam ich mir lächerlich oder bloßgestellt vor.
„Ich glaube, ich brauche jemanden.“
„Tust du nicht. Du allein bist genug wert“, sagte Danny sanft. Sein Gesicht war sehr nah bei mir, doch er versuchte nicht, mich zu küssen. Vielleicht wusste er damals schon, dass es nicht das war, was ich wollte. Er nahm meine Hand. Es fühlte sich seltsam tröstend an und so ließ ich es zu, dass seine Finger meine umschlossen.
Der Himmel ist blau, ironisch blau schon beinahe, mit vereinzelten kleinen Schleierwölkchen. Alles ist wie immer. Glaub nicht, dass ich gedacht habe, die Welt würde jetzt stehen bleiben und alles wäre anders und mich dann gewundert habe, warum sie sich doch weiterdreht.
C’est la vie, oder nicht? Das hast du oft gesagt. Und obwohl ich darüber, wie über so vieles, nicht reden wollte, hattest du letztendlich doch Recht.
Als ich die Kirche betrete, schreit irgendwo ein Vogel, als wolle er mich zurückhalten. Ein bisschen wehklagend klingt es und traurig, fast wie ein letztes Aufbäumen gegen das Schicksal.
Einen Fuß vor den anderen setzen, langsam gehe ich hinter den anderen Leuten her und es kommt mir vor, als wäre ich die einzige ohne Begleitung. Ich war schon lange nicht mehr in der Kirche, doch die Bänke aus dunklem Holz sind noch genau so ungemütlich wie eh und je und die Heiligenbilder an den Wänden scheinen mich noch immer mahnend zu beobachten.
Während ich alles sehe und gleichzeitig nichts mitbekommen, rieche ich den Duft von Weihrauch. Hättest du das gemocht? Hätte es dir gefallen, dass jetzt dir zu Ehren ein Gottesdienst abgehalten wird, der eigentlich so gar nichts mit dir zu tun hat? Die Worte, die der Pfarrer vorne sagt, erscheinen mir seltsam leer, es sind nicht mehr als Worte. Warst du das? Warst du ein „kontaktfreudiger Mensch, der seine Arbeit sehr ernst nahm“? Am liebsten würde ich schreien, schreien, nur um die Worte, die leeren Sätze zu verfluchen, die so entsetzlich falsch sind. Merkt es keiner außer mir?
Das Leichenschauhaus, wie makaber es auch klingt, ist überfüllt von Kränzen und Blumensträußen. Ich habe nur einen kurzen Blick hineingeworfen, bevor ich mich abwandte. Sogar Rosen sind dabei. Du mochtest sie nicht, hast du das nicht mal gesagt? Sie sind dir zu pompös, zu teuer, zu aufgesetzt. Trotzdem ist es irgendwie schön. Schön- traurig.
Ich bin selbst erstaunt, als ich etwas Feuchtes auf meiner Wange spüre. Hast du mir nicht immer gesagt, ich wäre stark, Danny? Ist es schlimm, dass ich es nicht bin, in der Kirche, umgeben von schwarzgekleideten Menschen, mit dir in dem Sarg?
Ich hatte dich länger nicht mehr gesehen. Einfach, weil es keine Verpflichtung war, weil es Zufälle waren, die uns zusammenführten. War es dieses letzte Mal, als du meine Hand genommen und mich festgehalten hast, oder ist es schon länger her? War es nicht immer so?
Der Abend war mild, mit wenigen Wolken und sanftem Frühlingsduft, doch ich nahm nichts davon wirklich war. Innerlich war ich leer und ausgebrannt. Ich fror. Ist es so, wenn etwas zerbricht? Es gab kein Herz, das wehtat, oder einen Schmerz in der Brust. Ich fühlte mich einfach nur leer. Ausgehöhlt. Während ich an Mattias zärtliche Berührungen dachte, die mir für einen Moment den Glauben an Sicherheit und Geborgenheit zurückgegeben haben, verflocht ich meine Finger ineinander. Verzweifelt versuchte ich, mir darüber klar zu werden, ob ich etwas anders hätte machen können. Wäre ich dann noch mit ihm zusammen? Hätte es länger mit uns funktioniert? Ich konnte kaum glauben, dass ich nun wieder allein war. Allem ausgesetzt, ohne einen festen Halt zu haben. Idiotisch, dass ich mich hatte überreden lassen, zu dieser blöden Party zu gehen. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach wieder umzudrehen, als Danny auftauchte. „Hallo“, sagte ich leise, schaffte es aber dennoch, ein Lächeln in mein Gesicht zu zaubern. „Hey!“, Dannys Gesicht strahlte, „Dass du auch da bist! Ganz alleine? Wo ist denn Mattias?“ Ich schluckte. „Mattias ist… Wir… wir sind nicht mehr zusammen.“ In diesem Moment schlug die Realität auf mich ein. Es war kein schlechter Film, in dem ich mich befand, in dem die Hauptdarstellerin schließlich doch noch glücklich wird. Es war bohrende, harte, echte Realität. Mattias würde nicht wieder zurückkommen. Er würde mich nicht mehr in dem Arm nehmen und trösten, wenn ich traurig war, oder mich zum Lachen bringen. Von nun an führten wir getrennte Leben.
„Weinst du etwa?“ Danny trat näher heran und berührte sacht meine Wange. Seine Fingerspitze glitzerte feucht. Ich wandte den Kopf ab, weil es mir trotz allem, trotz unserer Nähe immer noch peinlich war, vor ihm zu weinen. Obwohl er schon beinahe alles von mir wusste, fühlte ich mich plötzlich meilenweit von ihm entfernt. „Hey. Sei nicht traurig.“ Danny umarmte mich und ich ließ es widerstandslos zu. Er roch fremd und doch vertraut, so, wie man sich an manche Eindrücke aus seiner frühesten Kindheit erinnert, die seltsam verschwommen sind. Langsam schloss ich die Augen. Mir war warm.
Aufstehen, der Gang nach draußen. Ich selbst bin mein Fels in der Brandung, etwas, an dem ich mich festhalten kann in all dem Schwarz.
Dein Grab, dein zukünftiges Grab ist ein wenig abseits, im Schatten eines kleinen Baumes. Sonnenlicht fällt in Sprenkeln auf das Gras und da, am Rand des Loches, in das sie dich gleich legen werden, blüht ein Gänseblümchen. Ich blicke auf die Blume in meiner eigenen Hand, eine einzelne Margerite, schlicht, ganz sie selbst. So wie du.
Weißt du noch, unsere erste Begegnung? Ich habe mich immer gefragt, wie du dieses Strahlen in dein Gesicht bekommst. Hätte ich damals gewusst, dass ich einen Menschen gefunden habe, der mir selbst so ähnlich ist, dann… Was dann? Ich weiß es nicht.
Es war ein Abend, an dem selbst ich mich amüsierte. Die Musik war gut, laut, genau so, wie ich es heute mochte. Ich unterhielt mich gerade mit Lena und Mareike, als ich Danny in der Menge erblickte. Vergnügt trat ich zu ihm. Sein Gesicht war ernst, doch ich war zu gut gelaunt, um darauf einzugehen. „Wie geht’s?“, fragte ich ihn. „Ganz gut“, antwortete er. Ich bemerkte die Sehnsucht in seinem Blick, als er mich ansah, und mein Herz tat weh. Mittlerweile wusste ich, was er für mich empfand, wenn ich es nicht schon von Anfang an gewusst hatte. Es machte mich traurig, ihm so viel Schmerz zu bereiten. Ich hätte ihn niemals so nahe an mich heranlassen dürfen, dass er zu einem Teil meines Lebens wurde, den selbst ich nicht mehr wegdenken konnte. Jedes Mal, wenn wir uns sahen, wurde es schlimmer. Ich war egoistisch, und ich wusste es. Aber es war so schön, jemanden zu haben, auf den man sich verlassen konnte…
Später bekam ich Kopfschmerzen. Dannys Angebot, mich heimzufahren, schlug ich freundlich, aber bestimmt aus. Eine Bekannte von mir wollte ebenfalls heimfahren und konnte mich mitnehmen. „Das ist doch viel praktischer so“, sagte ich zu Danny. Er nickte nur. Zum Abschied küsste er mich auf beide Wangen, zart, ein unbestimmter Hauch von Sehnsucht. „Mach’s gut!“, rief er noch. Seine braunen Augen verfolgten mich durch die Dunkelheit.
Ich war erstaunt, als mich früh am nächsten Morgen Tina anrief, deren Bruder seit kurzer Zeit mit Dannys Schwester zusammen war. „Maria?“ Ihre Stimme klang seltsam belegt und ich bekam Angst. Wie ein eisiger Ring umschloss sie meine Brust und hinderte mich am Atmen. „Maria, wie bist du gestern eigentlich heimgekommen?“
Eine Vorahnung überkam mich und mir schwindelte. An der gegenüberliegenden Wand kroch eine Spinne empor und ich konzentrierte mich auf den kleinen schwarzen Punkt, um mich gerade zu halten. „Ich bin mit Susi mitgefahren“, erwiderte ich. „Schon eher. Mir ging’s nicht so gut.“ Am anderen Ende herrschte Stille. Ich hielt es nicht mehr aus, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Noch eine Minute länger, und ich würde umfallen. Einfach umfallen, und im Flur am Boden liegen bleiben, bis mich jemand fand. „Was ist denn? Nun sag schon!“ Tina schluckte. Dann holte sie tief Luft. „Es geht um Danny. Maria, es ist was Schreckliches passiert…“
Wenn ich gewusst hätte, dass deine Zeit so kurz bemessen ist, hätte ich dir das gegeben, was du wolltest. Du warst unglücklich, oder, Danny? Und trotzdem hast du mir immer geholfen, du mir, nicht umgekehrt. Ich kann nicht sagen, ich bereue es, aber ich bin traurig darüber, wie es nun ist. Du fort und ich hier. Vielleicht geht es dir dort, wo du jetzt bist, besser? Dann vergiss mich, Danny.
Weißt du was? Ich habe schon einen Platz gefunden, einen Ort nur für dich. Man kann von dort über die Felder und Wiesen sehen und am Rande des Hügels steht eine Eiche. Sie erinnert mich an dich. Oft, wenn der Wind weht, und die Blätter knistern, sodass Sonnenlicht in Sprenkeln über meinen Körper tanzt, kommt es mir vor, als wärst du bei mir.
Nur noch Zwei vor mir. Eine Schaufel, das Weihwasser, die Blumen, kurze Gedenkzeit. Bedeutet dir das etwas?
Ich fühle mich alleine, so alleine.
Jetzt stehe ich vorne, blinzle einmal, zweimal. Wieso sehe ich verschwommen? Ich bin doch stark. Stark. Ich knie mich nieder, werfe vorsichtig eine Schaufel Erde auf deinen Sarg, das Weihwasser lasse ich aus. Dann die Blume. Unschlüssig verharre ich kurz, bis Wind sanft mein Haar zerzaust und meine kalten Wangen streichelt.
Wiesen, Sonnenstrahlen, ein kleiner Bach, Sternenhimmel. Das Gänseblümchen.
Dein Platz.
Die Margerite fällt nach unten, ein wirbelndes Durcheinander von Weiß, Orange und Grün.
Mach’s gut, Danny.
Ich hab dich lieb.