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Den Geist tragen
Da ist wieder dieses Mädchen. Den fünften Tag in Folge. Sie kommt kurz vor Ladenschluss und setzt sich an den Tisch neben dem Fenster. Ein paar Minuten bleibt sie sitzen, bevor sie an den Tresen kommt. Sie betrachtet den übriggebliebenen Kuchen in der Auslage und bestellt schwarzen Kaffee.
„Bring‘ ich an den Tisch“, sage ich, und sie nickt und sieht noch einmal in die Auslage. Apfeltarte und ein halb auseinandergefallener Nusskuchen. Ich nehme eine frisch gespülte Tasse aus dem Regal und stelle sie unter die Düse, danach befülle ich das Sieb mit frischem Pulver. Der Automat gibt ein lautes Zischen von sich. Der Kaffee fließt pechschwarz in die Tasse. Ich bleibe vor der Auslage stehen – ein fettiger Handabdruck auf dem Glas. Das Mädchen sitzt über ein leeres Blatt gebeugt, hält einen Stift in den Fingern, die dünne Spitze berührt das Papier. Ich öffne die Auslage, wische mit dem Lappen über die Scheibe und nehme die Apfeltarte heraus. Sie sieht kurz auf, als ich den Teller mit dem Kuchen neben die Tasse stelle.
„Geht auf’s Haus.“
„Danke“, sagt sie und lächelt. Sie hat einen Satz auf das Papier geschrieben.
„Arbeit?“
Sie schließt für einen Moment die Augen und schüttelt den Kopf.
„`tschuldigung.“ Ich lege noch eine Kuchengabel neben den Teller. „Geht mich ja eigentlich auch nichts an.“
„Schon okay“, sagt sie und umfasst mit beiden Händen die Tasse.
Als ich wieder hinter dem Tresen stehe, legt Paul die Zeitung zusammen. „Bist du jetzt verknallt in die Kleine?“
„Ich geb‘ mir nur Mühe.“
„Mühe?“, wiederholt er und hebt seine leere Tasse. „Seit wann das denn?“
„Von zu viel Kaffee fängst man an zu stinken.“
„Was du so alles weißt …“
„Wollte das nur mal gesagt haben.“
Ich nehme eine neue Tasse aus dem Regal, aber Paul zeigt auf die benutzte in seiner Hand. „Die is‘ noch gut, da is‘ nix dran.“
„Ich hab‘ doch eben gesagt: Ich geb mir Mühe.“
„Na, wenn das so ist …“ Paul streicht schweigend über die Kante der Zeitung.
Der Kaffee dampft. Ich stelle die Tasse auf die Zeitung.
„Wie hat Fortuna gespielt?“
„Noch oben dran, aber wird nicht reichen für `n Aufstieg, die werden wieder Zaungäste sein. Denen fehlt einfach die Bank. Sind ja nicht Bayern.“
„Nee, das sind se wirklich nicht.“
„Na siehste“, sagt er und nimmt einen Schluck Kaffee. „Seitdem der Löring nich‘ mehr is‘, is‘ nix mehr mit dicker Kohle. Da können die nur Spieler holen, die woanders nix gebracht haben. Und dann kannste eben nur drauf hoffen, dass die hier ihren Durchbruch haben. Wie mit dem Typ, der im Knast war, weil er mit `n paar Kumpels `ne Bank überfallen hat. Dass ausgerechnet der da jetzt zwanzig Buden macht, da konnte ja keiner mit rechnen.“
„Spielt nächste Saison sicher `ne Liga höher.“
Paul nickt. „Isso. Kaum winken die mit den großen Scheinen, dann is‘ alles vorbei, dann sind die Jungs hundertpro weg. Und, mal ganz ehrlich, ich würd‘s genauso machen.“ Er schüttelt den Kopf. „Man lebt schließlich nur einmal.“
Das Mädchen hat eine halbe Seite geschrieben. Sie legt den Stift auf das Papier und teilt den Kuchen in vier Portionen. Ein Krankenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht fährt vorbei. Paul kramt nach den Zigarren in seiner Brusttasche. „Auch `ne Rillo?“
„Ist `ne gute Idee.“ Ich ziehe den Schlüssel von der Kasse, lasse ihn in meine Hosentasche gleiten. Außer dem Mädchen ist niemand im Laden. Ich öffne die Eingangstür und schiebe einen Holzkeil in den Lüftungsschlitz. Draußen lehnt sich Paul gegen die Hauswand, zündet sich einen Zigarillo an und hält mir die Schachtel hin. Rauch wabert in den Eingang. Auf den Straßen ist es still, die Luft kühl und sauber. Ich nehme einen ersten Zug. „Schmeckt nach Urlaub.“
„Urlaub, ja … könnt‘ ich auch gebrauchen. Kann seit `ner Woche wieder nicht schlafen“, sagt er. „Versuch‘ echt alles – ich lieg da, alles dunkel, und dann hab‘ ich schon die gelben Dinger in den Ohren, aber nix. Ich dreh mich, ich dreh mich nochmal, nix.“ Er sieht mich an. „Wenn du nicht wärst, wüsst‘ ich gar nicht, was ich machen soll.“
„Würdeste bei dir in der Küche sitzen und aus`m Fenster glotzen …“
„Ja, wahrscheinlich haste Recht.“ Paul steckt sich die Rillo in den Mundwinkel. „Vielleicht bin ich auch schon verrückt geworden.“
„Nein“, sage ich. „Das merkste.“
„Ja? Woran merkt man das, das man verrückt wird?“
„Ich weiß nicht“, sage ich. „Aber ich kannte mal einen, das war noch in Fenergierscheid, sicher über zehn Jahre her – Ingenieur bei Walterscheid, schon lange Rentner, und der kam immer ins Westfälische Eck, trank da sein Herrengedeck. `n stiller Typ, so einer von der Sorte, die selten was sagen, nie laut werden, und dann, keine Ahnung, ich steh am Tresen, zapf Kölsch, ja?, und da erzählt der mir, dass einem Farn aus der Brust wächst, wenn man vom Blitz getroffen wird …“
Paul zieht die Augenbrauen nach oben. „Also das hab‘ ich ja noch nie gehört!“
„Ja, ich hatte da auch noch nie was von gehört, ich meine … von den Anderen auch keiner, also dacht‘ ich zuerst, ich dacht‘ natürlich, der will mich nur auf den Arm nehmen, aber ... naja, die Leute erzählten mir später dann so Geschichten, wie er auf den offenen Feldern stand, immer wenn `n Gewitter aufzog.“
Paul schüttelt den Kopf. „Aber vielleicht hat er ja wirklich dran geglaubt – ich meine, dann bist du doch noch nicht verrückt, wenn du an was glaubst, oder?“
Asche schwirrt durch die Luft. Das Licht der Reklame fällt auf das Fensterglas. Das Mädchen schreibt, den Kopf leicht auf die Brust gesenkt. Ihr Haar ist schwarz und kurz geschnitten. Paul lehnt sich zu mir herüber. Er riecht nach Brisk und Nikotin. „Die Kleine“, sagt er und hebt sein Kinn. „Die is` auf jeden Fall schon alt genug dafür …“
„An so was denke ich gar nicht …“
„Tu mal nicht heiliger als der Papst.“
Sie legt den Stift auf das Papier und führt die Kuchengabel zum Mund. Sie kaut langsam, bedächtig. Sie sieht aus dem Fenster. Ihre Augen sind grün. Sie lächelt. Zuerst höre ich die Flügelschläge, ein kurzes, heftiges Flattern in der Luft – dann sehe ich einen schwarzen Punkt aus meinen Augenwinkeln, und wie er schnell näher kommt. Der Vogel trifft mit einem wuchtigen Geräusch auf, prallt von der Scheibe ab und bleibt auf dem Bordstein liegen. Der Körper zuckt noch einmal, danach bleibt das Gefieder ganz ruhig. Paul sieht mich an, die brennende Rillo zwischen den Lippen. Dann starren wir beide auf den Vogel, wie er da auf dem Asphalt liegt, so dunkel und erstarrt.
Ich hebe die Hand. „Vorsicht“, sage ich und bücke mich. Die Augen erloschen und matt. Der Schnabel mit Federn bedeckt.
„Was macht du da?“, fragt Paul. Seine Stimme ist vom Rauch belegt, klingt aber hell und brüchig wie die eines kleinen Jungen. Ich hebe den Vogel auf und gehe durch die Eingangstür ins Innere. Das Mädchen ist aufgestanden, lehnt am Tisch, hält das Blatt Papier in einer, die Kuchengabel in der anderen Hand.
„Abgestürzt“, sage ich und gehe hinter den Tresen. Paul tritt den Keil aus dem Schlitz und schließt die Tür. Ich lege den Körper auf ein Silbertablett neben der Kaffeemaschine. Eine hauchdünne Feder bleibt an meinen Knöcheln kleben, löst sich und schwebt in die Auslage mit dem Kuchen.
„Hat’s hinter sich“, sagt Paul. „Siehste doch.“
Ich gebe dem Tablett einen Ruck. Nichts geschieht. Das Mädchen tritt neben mich, fährt mit den Fingerspitzen den Schnabel entlang bis zu den Kehlfedern. „Das Genick ist gebrochen.“
„Genick gebrochen …“, wiederhole ich und blicke kurz zu Paul. Sie schließt die Augen, dann nimmt sie meine Hand, führt sie zu einer Stelle dicht hinter dem Kopf, und ich sehe auf ihre Hand, die klein und warm auf meiner liegt, spüre ein scharfkantiges Stück Knochen aus dem dichten Federkleid herausragen. Meine Finger zittern. Sie sieht mich an, die Lippen geöffnet, die Augen so grün. Ich ziehe die Hand zurück und greife unter die Theke, wo ich die Flaschen mit Hochprozentigem aufbewahre. Den Klaren gieße ich einfach in ein benutztes Wasserglas, trinke und wische mir mit dem Handrücken über den Mund.
„Und der Flattermann?“, fragt Paul. „Machen wir mit dem jetzt?“
Ich trinke den letzten Rest und blicke zu dem Mädchen, das immer noch neben mir steht. „Was meinst du zu der ganzen Sache?“
Sie legt einen Finger auf das Silbertablett. „Ich finde, wir sollten ihn beerdigen.“
„Beerdigen!“ Paul winkt ab. „Ab in die Tonne damit.“
„Nicht immer so schnell“, sage ich und wende mich wieder an das Mädchen. „Wie hast du dir das vorgestellt? Beerdigen … ich meine, wo willst du ihn denn beerdigen?“
„Ach, das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Paul fährt sich mit den Fingern über seine öligen Haare. „Is‘ doch nur `n toter Vogel, Mensch.“
Ich tippe mir gegen die Stirn. „Bist vielleicht doch schon verrückt geworden.“
Sie sieht aus dem Fenster. „Da draußen im Blumenkübel.“
„Einfach in dem Blumenkübel da?“
„Ja“, sagt sie. „Ja, ich finde, das gehört sich so.“
Ich nicke, und sie nimmt das Tablett und geht. Paul öffnet ihr noch kopfschüttelnd die Tür, und dann sehe ich durch die Fensterscheibe, wie sie das Tablett auf den Rand des Kübels stellt und beginnt, mit der Kuchengabel ein Loch in der schwarzen, lockeren Erde zu graben. Sie tut es langsam, häuft die Erde neben den Zierpflanzen auf, gräbt mit dem Stiel noch tiefer.
„Ich weiß nicht“, sagt Paul. Er hat die Tür geschlossen, seine Hand liegt noch auf der Klinke. „Ich weiß ja nicht.“
„Lass sie. Ich glaub`, sie weiß, was sie tut.“
„Was du nicht alles glaubst …“ Paul setzt sich zurück an den Tresen und zieht die Zeitung unter der Tasse hervor.
„Und was hättest du getan? Einfach weggeschmissen?“
Er atmet scharf ein und sieht mich über den Rand der Zeitung an. „Wasch dir erstmal die Hände, du weißt ja nicht, ob dein toller Piepmatz da nich irgend`n Virus hatte … nachher steckste dich an, oder noch schlimmer, du steckst mich an!“
Das Mädchen ist immer noch da draußen, sie verschließt das Loch, in dem der Vogel liegt, drückt die lose Erde mit den Zinken der Kuchengabel flach. „Ist bestimmt schon verletzt gewesen … Windräder, `ne Angelschnur, oder sonst was.“
„Sterben Tausende, ach was, Tausende – Millionen Vögel, jedes Jahr. Willst du da jetzt jedes Mal so `n Aufriss machen? Ich meine …“
Ich zucke mit der Schulter. „Nein“, sage ich. „Nein, ich glaube nicht.“ Ich stelle das leere Wasserglas in die Spüle, drehe den Hahn auf, lasse mir lauwarmes Wasser über die Hände laufen. Dann betätige ich den Seifenspender, eine kleine Portion tropft auf meinen Handrücken, ich verteile die Seife bis unter die Nägel, atme den sauberen, reinen Duft ein. Für einen Moment halte ich die Hände wie zum Gebet, lasse das Wasser durch die Finger gleiten, betrachte, wie es am rostfreien Stahl der Spüle abperlt, mit einem leisen Gurgeln in den Ausguss fließt.
„Du willst doch nur bei der Kleinen landen“, sagt Paul. „So ist es doch, deswegen spielt man da mit, bei so `ner bescheuerten Sache. Oder?“
Ich starre auf die weiß gekachelte Wand über der Spüle, auf die Risse in den Fugen. Pauls Gesicht spiegelt sich auf der glatten Oberfläche, es ist nur ein verzerrter Umriss, aber sein breites Grinsen kann ich gut erkennen. Das Wasser läuft. Ich drehe es ab, nehme ein frisches Handtuch aus dem Regal und falte es auseinander. Sie ist weg. Das Mädchen ist weg. Ich lasse das Handtuch auf den Boden fallen, gehe an Paul vorbei zur Tür. Ich zögere, warte ab, und als ich die Klinke schließlich umfasse, bemerke ich, dass meine Hände immer noch feucht sind.
Ich versuche, die Ziffern auf der Leuchtuhr beim Juwelier gegenüber zu erkennen, aber das Licht der Reklame ist defekt, und es ist zu dunkel. Ich trete auf den Bürgersteig hinaus, spüre, wie die Kühle vom Asphalt aufsteigt, wie sie mir unter den Hosensaum kriecht, langsam das Wadenbein hinauf. Ich sehe die Straße entlang – die Ampel ist ausgeschaltet, sie blinkt gelb, grelles, gelbes Licht, im immergleichen Rhythmus, ein Augenaufschlag, dann noch einer. Ich atme ein und mache einen großen Schritt. Da ist nichts, eine schmale Mulde, kaum so lang wie meine Handkante, mehr ist nicht zu sehen. Das ist nur der Geruch von Erde, schwer und würzig und so durchdringend, dass ich den Kopf abwenden muss.
Auf der Parkplatzmarkierung vor dem Kübel liegt der Zigarillo, den ich fallengelassen haben muss, ich bleibe stehen, um ihn aufzuheben, puste gegen den Aschekegel, der sich ablöst und auf dem Asphalt zerfällt. Ich sehe Pauls Schatten im Inneren, wie er sich bewegt, höre, wie er die Tür aufzieht und sagt: „Komm rein, komm wieder rein.“
Ich nicke und sehe noch einmal die Straße entlang, das gelbe Licht der Ampeln, ansonsten Dunkelheit. Drinnen nehme ich Pauls Feuerzeug vom Tresen. Der Tabak schmeckt bitter, ich muss hart ziehen, bis die Glut wieder entfacht ist.
„Rauchst doch sonst nie hier drin“, sagt Paul und reibt sich mit der Hand über den Nacken.
„Ja, ich weiß“, sage ich. „Ich weiß.“ Auf dem Tisch liegt das Blatt Papier, der Stift und der Teller mit den drei kleinen Kuchenstücken. Ich setze mich auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hat, nehme eins der Stücke vom Teller und schiebe es mir in den Mund. Der Teig ist trocken, ich kaue langsam.
„Sie hat die Gabel mitgenommen.“
Was?“ Paul beugt sich nach vorne und runzelt die Stirn. „Was hat sie mitgenommen?“
„Die Gabel, die Kuchengabel“, wiederhole ich, ich nehme einen tiefen Zug, lehne mich zurück und atme den Rauch aus den Nasenlöchern.
Paul presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf. „Junge, junge“, murmelt er und zerknüllt dann die Zeitung.
„Ich glaub, ich schließ ab“, sage ich und stehe auf. „Ich schließ ab, und dann, dann mach‘ ich Urlaub.“ Ich lege meine Hand auf Pauls Schulter, drücke sie leicht. „Wenn wir nicht bald Urlaub machen, werden wir wirklich noch verrückt, ich sag’s dir.“
Paul sieht mich an, öffnet den Mund, sagt aber nichts. Einen Moment lang stehen wir da, hängen unseren Gedanken nach – ich denke an nichts, ich sehe nur die grünen Augen des Mädchens, diese seltsamen, grünen Augen, und die ruhigen Bewegungen, mit denen sie das Grab für den Vogel geschaufelt hat. Es ist eben erst passiert. Es ist, als wäre sie noch hier, als müsste sie noch hier sein. Dann sagt Paul doch etwas, er sagt: „Red‘ keinen Stuss, von wegen Urlaub und so, du stehst morgen hier, genau hier, und verkaufst deinen Kaffee. So isset doch, oder?“
Ich klemme mir den Zigarillo in den Mundwinkel, setze mich wieder an den Tisch, lese den Satz, der auf dem Blatt steht, ich lese ihn langsam, lese ihn noch einmal, dann nehme ich den Stift und ziehe eine Linie über das Papier, eine lange, schwarze Linie, die niemals aufhören sollte. „Ja“, sage ich leise und starre auf die Linie, der Rauch beißt in meinen Augen. „Ja, so wird’s sein.“