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Den Ozean zwischen Eden und mir
Venezuela. Deine Töchter rauben mir den Atem. Die dunkle Schönheit ihrer Blicke blendet mich. Ihre Augen sind tiefe Brunnen, ohne deren Wasser man verdurstet.
Sanfte Lippen entblössen weisse Zähne, wenn deine Töchter mit mir reden oder ihr Lächeln die Luft verzaubert, Venezuela.
Ihr Haar scheint durchzogen von den Wellen des Meeres. Es fällt über ihr Gesicht wie der Sommerregen, der deinen Boden nährt, und hat die Farbe der Schatten, die es in ihre Gesichter wirft.
Anmut geht Hand in Hand mit deinen Töchtern, wenn sie sich am Strand bewegen und die Sonne goldigen Staub auf ihre Haut wirft. Lichtstrahlen tauchen ins Meer hinein und es sieht aus, als würden sie deinen Töchtern den Weg in ein Reich zeigen, das nur für sie existiert.
Venezuela. Blut dieser Erde wurde zu Feuer vermischt; in deinem Leib verbrennt man vor Begierde. Deine Töchter tragen Welten in sich und ich möchte mich in ihnen verlieren.
Es ist so lange her.
*
Anfangs wollte sie keinen Namen haben. Sie habe nie einen bekommen und ich könne sie nennen, wie ich wolle. Nein, nicht wie ich wolle: Ich solle ihr den schönsten Namen geben, den es in meinem Land gäbe.
„In meinem Land?“
„Ja. Wie heissen dort die Frauen, die du liebst?“
„Ich liebe die Frauen meines Landes nicht und wenn doch, sind ihre Namen dein Lächeln nicht wert.“
„Danke. Aber ich will einen Namen aus deinem Land. Hast du eine Schwester?“
„Zwei.“
„Wie heissen sie?“
„Hör jetzt: Ich bin nicht über den Ozean geflogen, um eine Angelina oder eine Daniela kennen zu lernen.“
Sie schwieg einen Moment und ihr Mund vergass kurz, wie man lächelt. Doch auch so waren ihre Lippen reizend.
„Also müssen wir uns jetzt trennen“, sagte sie schliesslich und grinste fast so sehr, wie ihre Augen strahlten.
„Was?" Ich glaubte, sie nicht recht verstanden zu haben.
„Ich heisse Daniela. Wie deine Schwester.“
Sie begann zu lachen. Ein spontanes, ungezwungenes Lachen, das etwas kindisch klang und mich sogleich zwang, mit einzustimmen.
Sie verzauberte mich.
*
Venezuela. Statuen wurden lebendig und Gott sprach Schönheit heilig. Ich war arm, ehe du mich verführtest. Ich war unschuldig, ehe du mich wie einen Verbrecher in deine Ketten warfst. Ich konnte sehen, ehe ich dir meine Augen lieh.
Venezuela, du bist Königin. Du brauchst kein Eisen, um einen Fremden niederzuwerfen, brauchst ihm das Brot nicht zu nehmen, damit er hungert. Deine Waffe ist die Liebe und hungern tut jeder den sie mal getroffen hat.
*
Sie zeigte mir schwarz auf weiss, dass sie hiess wie meine kleine Schwester.
Ich hatte „Daniela“ immer für einen dummen und somit hässlichen Namen gehalten. Meine Schwester war weder hässlich, noch dumm, obwohl Letzteres manchmal so schien. Sie war blond, blau, sah aus wie eine Puppe und nahm sich immer Männer, die zehn Jahre älter waren. Deshalb wirkte sie in meinen Augen dumm und ihr Name mit ihr.
Venezuelas Tochter; ihre Natürlichkeit und ihr ehrliches Lächeln veränderten den Klang des Namens auf einen Schlag. Daniela gefiel mir. Sie hatte zudem einen hübschen zweiten Namen: Aldana. Das klang schon weit mehr nach dem Boden, der sie zur Welt gebracht hatte:
Venezuela.
Lateinamerika.
Nach dem Boden, in den ich mich für immer verliebt hatte.
„Wie gefällt dir mein Land?“, fragte Daniela Aldana.
„So gut wie du.“
Sie schlug mich und befahl mir, klarere Antworten zu geben. Ich grinste und schwieg. Sie war süss, wenn sie Verärgerung mimte. Und sah selbst dann entzückend aus.
„Wie gut ist ‚so gut wie du‘?“, hakte sie nach.
„Zu gut.“
„Schon wieder!“
Ihr Lächeln bildete einen interessanten Kontrast zur Faust, die mich wieder schlagen wollte. Ich ergriff die Faust und sie löste sich auf, nahm meine Hand und ruhte einen Moment in ihr. Dann zog mich Daniela vorsichtig zu sich.
Ebenso vorsichtig küsste ich ihre Stirn, ihr Auge und das Lächeln auf ihren Lippen.
Sie veränderte mich.
*
Venezuela. Labyrinth voller Wunder. So gerne verirrt habe ich mich noch nie.
*
„Wenn mein Bruder dich sieht, bringt er entweder dich, mich oder uns beide um.“
„Letzteres wäre wenigstens ein romantisches Ende“, sagte ich und sah mich trotzdem intuitiv um, als erwartete ich, hinter einer Hecke einen Einheimischen mit einem Dolch zu entdecken. Aber die anderen Leute im Park kümmerten sich nicht um unsere Küsse.
„Hat dein Bruder etwas gegen mich?“, wollte ich wissen.
„Nicht nur gegen dich. Er hasst alle Gringos.“
„Lieber er als du ...“
Sie lachte kurz auf ihre puerile Art, ehe sie weiterfuhr: „Früher wart ihr ihm gleich. Eine blonde Europäerin hat seine Liebe entfacht. Und kurz darauf seinen Hass.“
Ich nickte. „Immer ist die Liebe Schuld.“
„Ja, immer die Liebe.“ Ihr Haar war mir ins Gesicht gefallen und sie strich es beiseite. Dann drückte sie ihre Stirn gegen meine, sah mir tiefer in die Augen, als mir behagte, und sagte: „Versprich mir, dass ich dich nie werde hassen müssen!“
Ich versprach es, sie umarmte mich fest, küsste mich und fragte: „Deine Schwester ist blond, oder?“
Ich ahnte, woran sie dachte und sagte: „Ja, aber sie war noch nie in Lateinamerika.“
An ihrem Grinsen sah ich, dass ich ins Schwarze ihrer Gedanken getroffen hatte. Es wurde dunkel und wir blieben noch eine Weile im Park, gaben uns die Wärme, welche mit der Sonne gegangen war.
Am folgenden Tag sah ich sie am Hafen, sie war bunt gekleidet, hüpfte wie ein Kind und ihr Strahlen durchdrang den Nebel. Ich setzte mich auf eine Bank, ohne ihr zuzuwinken, denn ich wusste; sie hatte mich bereits gesehen. Sie kam zu mir, setzte sich neben mich, sprach kein Wort und legte mir den Finger auf den Mund, als ich es tun wollte.
Wir sahen stumm ins Meer, den Wellen und Möwen nach und liessen die Zeit zusammen mit den Wolken am Himmel vorbeiziehen. Plötzlich drehte sie sich um, starrte mich mit verdrehten Augen an, lachte kurz irr und stürzte sich darauf auf meinen Mund.
Nach einem langen, einzigen Kuss stand sie auf und erklärte mir grinsend: „Ich sollte gar nicht hier sein und du weisst das!“
„Ja. Es tut mir ausgesprochen Leid.“ Ich mimte Schuldgefühle und fiel dabei in ihr Grinsen ein.
„Aber ich bin trotzdem hier und du weisst hoffentlich, was das bedeutet, Gringo?“
Bevor ich ihr etwas antworten konnte, war sie schon im Nebel verschwunden.
*
Venezuela, in dir keimt die Sünde. Für deine Tochter könnte ich jeden Apfel deines verbotenen Baumes essen.
*
Ihr Kopf ruhte auf meiner Brust, ihre Beine neben meinen. Sie nahm meine Hände und drückte sie an ihr Herz. Wir sahen beide zur leeren Decke hinauf, als stünde etwas Bedeutsames auf ihr geschrieben.
„Möchtest du Salsa tanzen lernen?“, fragte sie, ohne mich anzusehen.
„Das täte ich gerne.“
„Darf ich deine Lehrerin sein?“
„Wer sonst? Du bist eine ausgezeichnete Lehrerin.“
„Woher willst du das wissen?“
„Du hast mir Lächeln beigebracht.“
„Quatsch! Das konntest du schon wunderbar, als ich dich zum ersten Mal sah.“
„Was siehst du in meinen Augen?“
„Die Nacht voller Sterne.“
„Die Sterne stehen für meine Gedanken?“
„Genau. Und was siehst du in meinen Augen?“
„Den blauen Himmel und eine graue Wolke.“
„Die graue Wolke musst du mir erklären.“
„Das ist der Tag, an dem du Venezuela verlässt.“ Sie sah mich traurig an und ich senkte meinen Blick zu Boden. Ich hatte mich daran gewöhnt, jeden Gedanken an diesen Tag zu verdrängen.
„Können wir das Thema wechseln?“, sagte ich schliesslich und unterstrich die Frage mit einem Seufzer.
„Hab ich ja soeben getan. Aber wenn du nicht über graue Wolken reden willst, musst du ein anderes Thema vorschlagen.“
Ich nickte und liess meinen Blick durch den Raum streifen, um auf frische Gedanken zu kommen.
„Willst du Tee?“, fragte ich nach einem eher unkreativen Schweigen.
„Interessantes, neues Thema“, sagte sie mit einem Hauch Ironie, meinte dann aber: „Ja, gerne.“
Ich machte ihr eine Tasse Zimttee mit einer Unmenge Zucker, wie sie es mochte, und mir einen schwarzen, puren Kaffee, wie ich ihn seit Ewigkeiten schluckte.
„Nachher nimmst du einen Kaugummi. Ich trinke keinen Kaffee und möchte ihn auch nicht passiv zu mir nehmen.“
Ich hielt mir die Tasse Kaffee wie ein Glas Wein unter die Nase und schnupperte. Dann nahm ich ein Schlückchen und liess es übertrieben lange auf der Zunge zergehen.
„Ausgezeichnet“, kommentierte ich schliesslich die Degustation. Sie schien nicht ganz einverstanden, liess die Unterlippe nahezu das Kinn hinunter rollen und zog die linke Seite der Oberlippe zu ihrer Nase hinauf. Ich musste lachen.
„In deinem Land trinkt wirklich mehr als die Hälfte der Leute regelmässig dieses Gift?“
„Ja. Und anschliessend wird fleissig geküsst. Die haben da nicht so Komplexe wie du.“ Ich grinste, um zu vermeiden, dass sie es falsch auffasste. Sie lächelte auf eine Art, die schon fast ein Lachen war. Es sah so bezaubernd aus, dass ich mich fragte, warum ich ihr statt des Tees nicht gleich einen Kuss vorgeschlagen hatte.
„Wenn du noch einen Schluck trinkst, mache ich Schluss!“, meinte sie und zeigte mir ihre Zunge.
„Der Kaffee ist das Einzige, wonach ich genauso süchtig bin, wie nach dir. Also muss ich wohl heimlich weitertrinken. Aber unter uns: du machst nicht gerade den Eindruck, als wolltest du wegen einer Kleinigkeit wie dem Kaffee Schluss machen. Liege ich falsch?“
„Nein, tust du nicht“, meinte sie leise. Ihr Blick irrte auf dem Boden umher, was er immer tat, wenn ihr etwas Unangenehmes durch den Kopf ging.
„Wieso ...“, begann sie schliesslich wieder, „wieso sollte ich Schluss machen?“ Ihre Augen sahen traurig aus, ihre Stimme klang bitter. Sie fuhr fort: „Wo das Meer doch so gnädig ist, dies für mich zu übernehmen.“
Da wurde ich zum ersten und einzigen Mal wütend auf sie. Das Blut stieg mir in den Kopf, die Tasse Kaffee fiel auf den Boden.
Sie fuhr zusammen und sah mich überrascht an.
„Das Meer, das Meer! Verdammte Scheisse! Du weisst doch, dass ich auf dieses Thema verzichten kann!“ Dann sah ich die im Kaffee badenden Scherben, holte kurz Luft, weil sie mir vor Wut ausgegangen war und brüllte weiter, wobei ich auf den Boden zeigte: „Sieh doch! Das kommt von deinen idiotischen Kommentaren!“ Sie schluchzte. Ich aber wollte die Scherben durch die Gegend kicken, um meinen Zorn zu verdeutlichen, traf beim ersten Versuch daneben, rutschte beim zweiten aus und fiel rücklings auf den Boden. Dort verwandelte sich meine Wut vorübergehend in Selbstmitleid, die sich wiederum in Wut auf mich selbst veränderte, weil ich mir der Jämmerlichkeit meines Auftrittes gewahr wurde.
„Es tut mir so leid“, sagte ich etwa zum fünften Mal in Folge. „Es hätte nicht passieren dürfen.“
„Nein, hätte es nicht. Aber ich habe dir verziehen. Du warst nicht du.“
„Ich habe die Selbstkontrolle verloren.“
Sie lächelte – die schönstmögliche Verzeihung.
„Und ich nahm dich nicht ernst, als du mich batest, das Thema sein zu lassen.“
„Vielleicht, aber du hast es nicht böse gemeint.“
„Du schon?“
Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, was sie meinte. Dann fiel ich ihr um den Hals und weinte fast, als ich ihr sagte, dass ich sie liebe.
*
Venezuela, dein Labyrinth hat keinen Ausgang.
*
Kerzenlicht fiel ihr wie Seide ins Gesicht. Ihr Haar hatte sich mit der Dunkelheit vermählt. Sie bat mich, ihre Hände zu nehmen und zu schweigen. Sie sah mich so ernst an, dass es schon fast böse aussah. Sie öffnete den Mund, in dem viele Schatten lagen und zog die Augenbrauen hoch.
„Schliess deine Augen!“, flüsterte sie.
„Wieso?“
„Tu es einfach!“
Ich gehorchte und stellte fest, dass ich auch mit geschlossenen Augen ihren Blick spürte.
„Hörst du die Kerze?“
Ich rührte mich nicht und versuchte die Spur eines Geräusches in der Stille auszumachen. Schliesslich glaubte ich zu hören, wie die Flamme am Docht nagte und das Wachs schmolz.
Ich wagte kaum zu atmen.
Sie liess einige Sekunden in Stille versinken. Dann streifte ihr Atem mein Gesicht und ein verstärkter Duft von Wachs und Kohle schwebte mit. Sie hatte die Kerze ausgeblasen. Die Flamme war nicht mehr zu hören, ihre Wärme irrte verloren zur Decke und sickerte durch sie in die kühle Nacht.
„Was hörst du jetzt?“ Sie sagte es so leise, dass ich sie kaum verstand.
Sie atmete fast lautlos. Aber tief, regelmässig und einen Hauch zu schnell für die Ruhe dieses Raumes.
Ich stellte mir vor, ich wäre die Luft, die sie atmete. Liess mich in Gedanken von ihren Lippen fangen, liess ihre Zunge mich liebkosen, glitt in ihre Luftröhre, tauchte in die Lunge, um ihr Blut, ihren Körper und vor allem ihr Herz zu ernähren.
Sie drückte meine Hände, um mich daran zu erinnern, dass sie eine Frage gestellt hatte.
„Ich kann dich atmen hören“, flüsterte ich.
„Hörst du auch dich?“
Erst da stellte ich fest, dass auch ich atmete. Leise wie sie. Tief und regelmässig. Genauso schnell wie sie. Gleichzeitig. Jetzt hörte ich uns beide und es klang noch immer nach dem Atem eines Einzigen.
Sie liess meine Hände los, berührte meinen Kopf an den Schläfen und zog ihn behutsam zu sich. Ich ergriff ihr Haar. Unsere Stirnen und Nasen berührten sich. Ich wollte sie küssen, sie hielt mich vorerst zurück und wollte wissen, ob ich bereit wäre, ihr einen Wunsch zu erfüllen.
„Welchen?“, fragte ich.
„Atme nicht durch die Nase.“
„Wieso nicht?“
„Weil ich will, dass dir der Atem ausgeht. Weil ich will, dass du an meinen Lippen stirbst.“
Dann küssten wir uns und ich dachte, mir würde nebst dem Atem auch noch der Verstand ausgehen.
*
Venezuela. Die Lippen deiner Tochter sind mein Verderben.
„Du bist meine Droge“, habe ich ihr gesagt. „Machst mich süchtig, lähmst mich, begräbst mich lebendig.“
Venezuela. Ich hasse es, dich lieben zu müssen.
Venezuela. Es ist so lange her. Und doch bist du so nah.
*
Es ist Sonntag an einem Strand, der nur uns gehört. Die Wellen dürfen ohne Ende Land anlegen, die Vögel ihren Gesang durch den Wald ans Meer tragen und die Bäume dem Wind Klang geben.
Die Sonne darf ohne Ende Tag für Tag strahlen, der Sand ohne Ende in ihrem Licht baden.
Wir dürfen das nicht, aber heute tun wir so, als wäre auch unser Zusammensein endlos.
Daniela hat sich ausgezogen und hingelegt. Ich bin stehen geblieben, sehe sie einfach an, lasse meinen Blick hundert Mal über ihre glatte, braune Haut gleiten. Fast so, als müsste ich sie auswendig lernen, als könnte jederzeit ein Vorhang zufallen und jemand mich bitten, sie auf ein Blatt Papier zu skizzieren, aber so, dass ihr Lächeln seinen Zauber behält, die Schattierung ihrer Brüste sitzt, ihre Beine an Eleganz nichts einbüssen und der Bauchnabel aussieht, als würde er in ihrer zarten Muskulatur versinken ...
Sie beginnt sich ab meinem Blick zu amüsieren und meint, ich sei seltsam; hätte mitten in der Stadt weniger Berührungsängste, als an diesem abgelegenen Paradies, wo ich keine zu haben bräuchte.
„Vielleicht haben meine Hände Berührungsängste. Aber meine Augen haben sie nicht. Berührte ich dich genauso fest mit meinen Händen, würdest du keine Luft mehr bekommen.“
Sie zeigt mir die Zunge und lacht gleichzeitig.
„Ich fühle mich geehrt, dass du mich angaffst, als sähest du mich zum ersten Mal.“
„Du siehst auch immer noch so unwiderstehlich aus, wie beim ersten Mal.“
Und sie ist es auch.
„Manchmal möchte ich deine Gedanken lesen können, wenn du mich so anstarrst. Was denkst du gerade?“
Ihr Lächeln ist von der Art, die mir den Verstand raubt.
„Ich denke gerade, dass du einst in einer Muschel aus dem Meer gestiegen bist. Wie die Venus.“
Von der Art, die mich zum Sklaven macht.
„Hast du Ideen, Gringo! Aber wenn du dich jetzt nicht ausziehst und zu deiner Venus kommst, geht sie zurück ins Meer.“
Ich komme schon, meine Liebste.
„Du hattest eine Freundin, bevor du hierher kamst, oder?“, fragt sie eine Stunde später. Wir liegen noch immer am Strand, der nach wie vor nur uns beiden gehört.
„Möglich.“
Die Erinnerung an Marina ist verschwommen. Als wäre sie schon lange her. Dabei ist ein halbes Jahr nur wenig mehr als ein Augenblick.
„Was heisst ‚möglich‘?“
„Ich hatte eine Freundin, zweifle aber daran, dass es Liebe war.“
Man liebt immer wie zum ersten Mal. Liebe zerstört ihre Vorgänger. So erging es mir, bis ich Daniela Aldana kennen lernte. Ab diesem Zeitpunkt begann Liebe, auch ihre Nachfahren zu vernichten.
„Dann muss ich also keine Angst haben, dass du zu ihr zurückkehrst, wenn du wieder in deinem Land bist?“
„Du glaubst doch nicht, dass ich dich in Gedanken so schnell verlassen könnte?“
„Ich hoffe es nicht, Gringo. Mir wäre es lieber, wenn du mich überhaupt nicht verlassen könntest.“
„Ich kenne jemanden, dem es auch lieber wäre. Aber Donnerstag in einer Woche sitzt dieser jemand im Flugzeug.“
„Wir haben noch elf Tage. Wieso können es nicht Jahre sein?“ Sie verbirgt die Augen hinter den Händen und ich nehme sie in meine Arme. Sie weint wie ein kleines Kind, will ihre Tränen vor mir verstecken und versteckt sich dabei bei mir. Ich drücke meine Lippen auf ihren Hals und spüre, dass ein Zittern durch ihren Körper geht. Sie lässt ihren Arm fallen und ihre Hand gräbt sich in den Sand, als könnte sie sich an ihm festhalten.
Ich spüre ihren Mund an meinem Ohr und ihr Flüstern. „Vergiss mich nie!“ Ihre Hand hat eine Muschel aus dem Sand gegraben und in meine gelegt. Ich drücke sie, als wäre es ihr Herz.
„Das könnte ich unmöglich“, antworte ich. „Du lebst in mir.“
„Du bist meine ...“, sagt sie und ihre Stimme versagt. Sie schluchzt, nimmt Luft, drückt ihre Wange an meine, als könnte sie so Kraft für neue Worte tanken.
Stumm löst sie sich aus meiner Umarmung, kniet nieder und lässt ihr Haar zu Boden sinken, sodass es die Trauer in ihrem schönen Gesicht verbirgt. Dann malt sie die unausgesprochenen Worte in den Sand.
Während ich sie lese, schafft sie es, gleichzeitig zu weinen und zu lachen.
*
„Du bist die Liebe meines Lebens.“
Venezuela, so fühlt sich der Dolch an, den deine Tochter mir liebevoll ins Herz schiebt.
So darf sich deine Tochter nicht verabschieden. Mit diesen Worten im Kopf will ich nicht gehen. Sie soll mich verletzten, soll mein Herz entzweibrechen – und die eine Hälfte behalten.
Wenn sie es nicht tut, wird mein Herz immer bei ihr sein, wenn ich wieder zu Hause bin – und glaubst du, dass es dann noch Kraft haben wird, für mich zu schlagen?
Hab Erbarmen, Venezuela. Ich knie vor deinen Füssen und flehe dich an: Nimm mein Herz oder gib es mir zurück.
*
Sie drückt mich an sich. Sie sagt, sie würde noch weinen, wenn mein Flugzeug Venezuela längst verlassen hat. Ihre Wange ist warm. Ihre Träne, die sich darauf mit meiner vermischt, etwas weniger.
„Sehen wir uns wieder?“, fragt sie. Es ist so sehr eine Bitte, dass es schon fast ein Gebet ist.
„Natürlich.“ Ich drücke meine Lippen zusammen, weil sie nicht zittern dürfen, weil ich es ernst meine.
Sie lächelt so traurig, dass ich mir wünsche, sie hätte es gar nicht versucht.
Ich lasse ihre Hand los und sie meinen Blick.
Dreh dich um und geh.
Bitte dreh du dich zuerst um.
Ich selbst kann es nicht.
*
Wir haben uns verloren. Die Erinnerung ist so schön. Zu schön, um gut zu tun. Die Zeit trennt uns. Der salzige Ozean. Mein Magen fühlt sich an, als wäre der Ozean in ihm. In meinem Bauch haben die Schmetterlinge ihre Flügel verloren.
Die Nacht ist gnädig, lässt mich von Daniela träumen. Der Tag ist grausam, zwingt mich an sie zu denken. Manchmal ist mir so übel, dass ich erbrechen muss. Ich hoffe fast, eines Tages mein Leben ebenso zu erbrechen, doch das, was heute aus mir kommt, ist nur die beste Beschreibung meiner Gefühle.
Wie konnte dieses aussergewöhnliche Glück, nur zu meinem grössten Unglück werden? Wie diese Augenblicke der Freiheit, zur Peitsche, die mich martert?
*
Venezuela. Deine Liebe ist so grausam.
Das Haar deiner Tochter würgt mich. Ihr Lächeln zerfleischt meine Gedanken. Denke ich an ihre Augen, falle ich in eine unendliche Tiefe und breche mir die Knochen.
Schneid mir die Kehle durch, Venezuela.
Ich selbst kann es nicht.
*
„Sehen wir uns wieder?“
Worte, die mich verfolgen, die mich jagen.
Es sind zehn Jahre her. Wir haben aufgehört, uns zu schreiben. Ich bin wieder mit Marina zusammen, aber ich zweifle daran, dass es Liebe ist.
Sehen?
Wir haben ein Kind und wenn ich die Augen schliesse, hat es dein Lächeln.
Wir?
In einem deiner letzten Briefe fragst du mich, wann ich dich endlich besuchen würde. Ich hatte keine Antwort und nicht den Mut, es dir zu gestehen.
Uns?
Wie versprochen, meine Liebste, habe ich dich weder vergessen, noch könnte ich es jemals. Du lebst in mir. Ich wäre bereit, dir meine Seele zu opfern.
Wieder?
Noch immer steckt dein Dolch in meinem Herz und der Gedanke daran, dass du seinen Griff jemals wieder in die Hand bekommen könntest, macht mir Angst.
So könnte ich es dir unmöglich sagen, du würdest die Erklärung nicht hinnehmen. Aber noch weniger könnte ich dich belügen.
„Sehen wir uns wieder?“
Ich habe dir nicht zurückgeschrieben, obwohl alles in mir nach dir schrie.
Marina glaubt, dass ich ihretwegen den Kontakt zu dir abgebrochen habe. Sie weiss zum Glück nicht, warum ich die Augen schliesse, wenn ich sie küsse. Es gefällt ihr, dass ich das Licht lösche und eine kleine Kerze anzünde, bevor wir uns lieben.
„Sehen wir uns wieder?“
Wenn du nur wüsstest, wie oft ich dich sehe. Jeden Tag begegne ich dir. An jedem Ort. In jedem Gesicht. Und jeder Gedanke trägt dich in seinem Kern.
Vielleicht ist das nicht die Vorstellung von Wiedersehen, die wir damals teilten, doch zu mehr bin ich nicht fähig.
*
„Sehen wir uns wieder?“
Deine Stimme liegt in meinem Ohr, als hätte sie sich dort wie eine Zecke festgesaugt.
Du bist mehr als eine Droge.
Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob wir uns nicht doch irgendwann wiedersehen werden.
Du bist Gift.
Vielleicht treffen wir uns eines Tages in Eden. Ich jedenfalls spüre, dass ich bald dort sein werde.