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Den Takt bestimmen die Anderen
Verdammt, war das kalt. Fredy saß auf der Karussellplane und pustete in die klammen Finger. So viel Eis, er fasste das größte Stück, klirrend landete es auf der Straße.
Der Kollege vom Glühweinstand musste ihm helfen, das Karussell herunterzuklappen. Vor der Scheidung hatte Luise das Kindergeschäft mit ihm aufgebaut. Nach ihrer zweiten Bandscheibenoperation war sie ausgezogen. Eine Bekanntschaft in der Kur. Er vertrieb den Schatten, der sich auf sein Gemüt legte. Vielleicht besser so, sie kam von privat. Glücklich war sie mit dem Schaustellerleben nie.
Der Kollege half ihm. „Stehst dieses Jahr auch zum ersten Mal?“
„Seit zwei Jahren das erste Mal. Hab das Geschäft für den Weihnachtsmarkt neu versichern müssen!“
„Ist aber auch ne Scheiße, den Markt in Stuttgart haben sie abgesagt. Den in Aalen auch, da lagen die Würstchen schon auf dem Grill. Eine Stunde vorher sind die Herren gekommen und haben den Markt abgeblasen. Werden jetzt Coronahilfe bekommen, frag mich nur, wer das alles bezahlen soll.“
Fredy arbeitete weiter, schraubte seine Karussellbesatzung fest.
Die Politiker im Fernsehen sagten, sie würden helfen. Er war zum Steuerberater gegangen. Geld bekomme er keins, er falle durch das Raster. Zuerst begriff er das mit dem Raster nicht. Der freundliche Berater erklärte es ihm: Er habe keine Mitarbeiter und seit fünf Jahren arbeite er nebenher in einem Lager.
Die Kredite für Haus und Auto könne er stilllegen. Die Zinsen könnte er mit seinem Verdienst bezahlen.
Letzte Weihnachten war seine Heizung kaputtgegangen. Deshalb hatte er an den Herrn Ministerpräsidenten geschrieben.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident
ich kann mir keine neue Heizung leisten, weil ich meine Märkte nicht machen darf. Ich muss frieren, können Sie mir nicht helfen?
Den ablehnenden Bescheid seines Steuerberaters fügte er bei.
Nach drei Wochen bekam er vom Regierungspräsidium die Antwort.
Sehr geehrter Herr Baier,
es tut uns leid, dass die Coronahilfe nicht jeden erreichen kann.
Wir haben andere Maßnahmen in einem Sozialschutz-Paket …
Nach dem fünften Bier schrieb er: Ein Fredy Baier beantragt keine Sozialhilfe.
Den ganzen Winter verbrachte er mit seinem Heizlüfter im Wohnzimmer.
Fredy sah in das Geschäft gegenüber. Ein Werbeplakat hing dort. Thomas Gottschalk, strahlend weiß, lächelnd, in der Hand einen Taktstock. Fredy fuhr mit der Zunge über die Schneidezähne. Zwei waren ihm letztes Jahr bei einem Sturz abgebrochen, würde ein bisschen was kosten, die zu überkronen. Der Zahnarztbesuch musste bis nach Corona warten.
Sechs Stunden später stand Fredy erschöpft und durchgefroren in seiner Kasse, endlich aufgebaut.
Schnell den Mietvertrag für die fünf Wochen abholen.
Die Miete könne er nicht zurückbekommen, auch wenn der Weihnachtsmarkt doch noch abgesagt werde.
Er unterschrieb.
Absperrzäune, davor die Teststation, zusätzlich zu den 2 G Bestimmungen mussten sich Betreiber und Besucher testen lassen.
Schon um sieben stand Fredy am anderen Morgen vor der Teststation und steckte die Nase durch das Fenster. „Wir wissen gar nicht, wie wir das schaffen sollen“, erzählte ihm die Testdame. „Die ganzen Besucher. Da werden viele warten müssen.“
„Und viele verärgert weggehen“, ergänzte Fredy.
Er nahm sich vor, jeden Tag früh hier zu sein. Bis um elf der Markt anfing, würde er putzen, Glühbirnen auswechseln …
Strahlend begrüßte Fredy die ersten Kunden.
„Guten Morgen Herr Beyer, es ist so schön, dass sie wieder hier sind.“
„Hallo Ines, die beiden sind ja ganz schön groß geworden.“
"Ich bin jetzt schon so!“, strahlend hält der Ältere eine Hand hoch.
„In dem Alter ist eure Mama bei mir auf dem Karussell gefahren.
Sucht euch was raus und dann rauf mit euch, die erste Fahrt geht auf
mich.“
„Danke“, zwei begeisterte Kinder stürmen auf das Feuerwehrauto.
Es begann zu regnen. Hinter der Schaufensterscheibe lächelte Gottschalk.
Obwohl am nächsten und dem darauffolgenden Tag schönes Wetter war, fuhren nur wenige Kinder mit seinem Karussell.
Am Wochenende, tröstete er sich, da kommen die Besucher.
„Sie müssen abbauen“, der Mann vom Ordnungsamt streckte ihm ein Schreiben entgegen. „Der Weihnachtsmarkt wurde abgesagt!“
Fredy baute ab, schraubte seine Besatzung herunter. Hob er den Blick, sah er den taktstockschwingenden Gottschalk.
Er musste sich anstrengen, den Karussellanhänger mit der starrgefrorenen Plane abzudecken. Immer wieder machte er eine Pause, um Kraft zu schöpfen. Blickte ins Schaufenster. Zahnpastalächeln.
Die Anhängerkupplung rastete ein, er konnte nach Hause fahren. Nur noch den Unterlegkeil im Kofferraum verstauen.
Es war eine Bewegung, ein Krachen, die Scheibe riss.