Denkmal
Der Tag begann wie jeder andere. Nun ja, bis auf die Tatsache, dass ich frei hatte, aber auch das kommt dann und wann mal vor, also war es ein Tag wie jeder andere, an dem ich frei hatte.
Das hieß, ich konnte ausschlafen. Theoretisch. Wenn mir nicht gegen neun Uhr mein dreijähriger Labradorrüde unmissverständlich klar gemacht hätte, dass er von Ausschlafen nicht so viel hält.
Also quälte ich mich aus dem Bett, kochte mir einen Kaffee und machte mich fertig für den Morgenspaziergang.
Mit meinen dreißig Jahren ist es mit dem Ausschlafen sowieso nicht mehr so wie vor zehn Jahren.
Jedenfalls bin ich dann losgegangen und zwar dieselbe Strecke wie meistens. Einmal durch die Siedlung und dann das kurze Stück durch den Wald.
Tom, mein Hund, las begierig die Tageszeitung, welche aus den Markierungen anderer Hunde bestand und gab dann zum Schluss seinen Beitrag dazu.
Wir kamen an einem ziemlich großen Gebüsch- vielleicht könnte man auch Wäldchen dazu sagen- vorbei und Tom verschwand darin.
Bisher war er niemals darin verschwunden, und es konnte nur zwei Erklärungen für sein Verschwinden geben. Entweder befand sich in dem Gebüsch eine Hündin, was ich aber sofort ausschloss, da weder Gehechel noch aufgeregtes Gekläffe zu hören war, oder aber er hatte die Witterung von irgend etwas Köstlichem aufgenommen, dann würde es schwierig werden, ihn dort herauszubekommen. Wenn es ums Fressen geht, vergisst er gerne seine gute Erziehung und ist dann auch vorübergehend taub, wer einen Labrador hat, der weiß, wovon ich rede.
Zumal er auch noch alles isst, was mal halbwegs als Lebensmittel durchgegangen ist.
Das hieß jetzt für mich im Klartext: entweder ich hole ihn da raus, oder ich riskiere, dass er mir heute Nacht die Bude vollkotzt. Ich entschied mich für Ersteres und schälte mich durch die ersten Zweige, als ich es sah.
Das Denkmal.
Klar, es war wahrscheinlich schon immer da gewesen, jedenfalls so lange ich hier wohne, aber ich hatte es bisher nie gesehen oder aber bewusst wahrgenommen.
Heute jedoch blieb ich davor stehen und betrachtete es. Zuerst dachte ich, dass es sich um einen Grabstein handeln würde, verwarf diese Idee aber gleich wieder, schließlich war hier ja kein Friedhof und dafür war es auch viel zu groß. Von seiner Form her erinnerte es an die Miniaturausgabe eines Turms, der auf einem Sockel ruhte.
Das einst wohl grau oder vielleicht weiß gewesene Monument war nun überall mit Moos bewuchert und die Inschrift war verwittert und nicht mehr lesbar.
Ich zog mit dem Zeigefinger langsam über die Einkerbungen, die einst die Schrift gewesen sein musste, als ich hinter mir eine Stimme vernahm.
„He! He Sie! Was machen Sie denn da?“
Ich drehte mich zu der Stimme um und stellte fest, dass sie zu einem älteren Herrn gehörte, der mich über seinen Krückstock gebeugt nicht gerade freundlich ansah.
Meine Güte, der muss mindestens zweihundert Jahre alt sein, dachte ich, als ich in sein Gesicht sah. Dass man zwischen den ganzen Falten und Furchen noch Augen ausmachen konnte, lag wahrscheinlich nur daran, dass diese so böse funkelten.
Bevor ich was sagen konnte, setzte er wieder an.
„Das hier ist Privatgrundstück, Sie haben hier nichts verloren“.
„Doch“, erwiderte ich übertrieben freundlich, „meinen Hund habe ich hier verloren und es tut mir wirklich überaus Leid, dass ich ihr Grundstück betreten habe, aber ich möchte doch wirklich vermeiden, dass mein ungezogener Hund auf ihrem Boden hier Schaden anrichtet“.
Der Mann schien nicht nur sehr alt zu sein, sondern wohl auch etwas senil, denn er bemerkte die Ironie in meiner Stimme nicht und seine Gesichtszüge entspannten sich.
„Sie schauen sich das Denkmal an, was?“ fragte er mich und zeigte mit seinem Krückstock hinter mich zu dem Mal.
„Ja, ja“, sagte ich und drehte mich wieder in die andere Richtung, um es abermals zu betrachten.
„Scheint ja schon sehr alt zu sein. Schade, dass man die Inschrift nicht mehr lesen kann.“
Der alte Mann schien gerade zu einer Erklärung anzusetzen, als mein Hund aus den hinteren Büschen gehechtet kam.
Als er sah, dass ich mich unterhielt, lief er auf den Mann zu und sprang freudig an ihm hoch, um ihn zu begrüßen.
Da der Mann aber immer noch mit seinem Krückstock auf das Denkmal zeigte, verlor er den halt und fiel um wie ein Stein.
Ich machte mir große Sorgen, ob er nun so unglücklich gefallen war, dass er tot ist, aber da fing er auch schon lauthals an zu fluchen.
„Rufen Sie doch Ihren verdammten Köter zurück, der ist ja gemeingefährlich! Anzeigen werde ich Sie, jawohl anzeigen!“
Ich eilte zu dem Mann, um ihm auf die Beine zu helfen und nach einigen Flüchen und Beschimpfungen stand er dann wieder halbwegs aufrecht.
„Also das tut mir wirklich außerordentlich Leid. So was hat er wirklich noch nie gemacht“, beteuerte ich, obwohl Tom das eigentlich immer macht und vorzugsweise bei alten Leuten und Kleinkindern. Weil die dann meistens umfielen und er sie dann genüsslich abschlecken konnte.
Der alte Mann war wirklich sauer, aber es gelang mir mit einigen weiteren Beteuerungen, ihn wieder einigermaßen zu besänftigen.
Wäre da nicht Tom gewesen, der nun wohl hinter meinem Rücken interessiert das Denkmal erforschte.
Als das Gesicht des alten Mannes plötzlich leichenblass wurde, drehte ich mich um und bekam gerade noch mit wie Tom seinen Blaseninhalt von scheinbar mindestens drei Tagen gegen das Denkmal entleerte.
Oh nein, dachte ich mir und dann tickte der Greis vollends aus, scheinbar war das Denkmal sein Heiligtum.
„Zur Hilfe, zur Hilfe!“ kreischte er nun und fuchtelte wie wild mit seinem Stock vor meiner Nase herum.
An dem Weg vor den Büschen gingen gerade ein paar Passanten vorbei und blieben neugierig stehen.
„Rufen Sie die Polizei“, krächzte der Alte weiter und traf mich schmerzhaft in der Magengegend.
An dieser Stelle beschloss ich für mich, dass es das Beste wäre, sich jetzt aus dem Staub zu machen und rief nach meinem Hund.
Nach dem, was heute schon alles schief gelaufen war, rechnete ich nicht damit, dass er kommen würde, aber er kam.
Und so stürzte ich an dem fuchtelnden Alten vorbei und rannte aus dem Gebüsch raus.
Das heißt, theoretisch wäre ich aus dem Gebüsch rausgerannt, wenn ich nicht heute Morgen im Halbschlaf meine viel zu große Jogginghose angezogen hätte, die mir nun über die Knie rutschte und dafür sorgte, dass ich der Länge nach mit heruntergelassenen Hosen aus dem Gebüsch fiel.
Eine der Passantinnen schrie daraufhin sofort: „Hilfe, ein Perverser“.
„Aber nicht doch“, wollte ich mich erklären und versuchte aufzustehen, als schon der Alte hinter mir war und mich daran hinderte, indem er mit seinem Stock auf mich einprügelte.
Tja, und dann war auch schon die Polizei da, die mir sofort wie einem Schwerverbrecher Handschellen anlegte, während der Alte und die Passantin abwechselnd mit dem anderen Polizisten diskutierten, was ich alles verbrochen hatte.
„Hören Sie, das ist ein Missverständnis, ich habe doch nur…“, versuchte ich mich zu verteidigen, aber der Polizist unterbrach mich.
„Nun kommen Sie erst mal schön mit zur Wache und dann werden wir dort alles Weitere klären. Die Liste der Anschuldigungen gegen Sie ist allerdings ziemlich lang“.
Dann seufzte er, allerdings wohl weniger aus Mitleid für mich als für sich selbst, da ihm ein ziemlich langer Bericht bevorstand.
„Was machen wir denn mit dem Hund, Fred?“ fragte der eine den anderen Polizeibeamten, nachdem sie mich ins Auto verfrachtet hatten und mir gütigerweise vorher die Hose hochgezogen hatten. Mein Hund stand nun verwirrt vor dem Polizeiauto und schaute zu mir hinein.
„Tja…ich würde sagen, den nehmen wir erst mal mit, oder?“ antwortete dieser und öffnete den Kofferraum und Tom sprang bereitwillig hinterher.
Und dann wurde ich auf der Wache stundenlang zu den Vorfällen verhört, welche ich natürlich alle abgestritten habe, während mein Hund neben meinem Stuhl lag und leise vor sich hinjankte.
Nachdem die Polizisten meine Personalien überprüft hatten und nach drei Stunden Verhör endlich halbwegs soweit waren, mir meine Version zu glauben, gab Tom auf einmal komische Geräusche von sich, die nichts Gutes bedeuten konnten.
Ich schickte in Gedanken ein Stoßgebet gen Himmel, aber der liebe Gott hatte scheinbar heute auch seinen freien Tag, denn Tom kotzte auf einmal auf den guten Teppich etwas, das sehr an vermodertes Karnickel erinnerte und auch nicht unbedingt angenehmer roch.
Ich schaute die Polizisten entschuldigend und etwas flehend an, doch nachdem Tom sich, scheinbar von heftigsten Bauchkrämpfen geplagt, auch noch einer gehörigen Portion Dünnpfiff entledigte, gefroren ihre Gesichter vollends.
Tja, so war mein freier Tag also gelaufen und nun sitze ich hier in Untersuchungshaft und könnte eigentlich auf Kaution entlassen werden, aber meine Freundin hat sich geweigert zu kommen. Mit einem Perversen möchte sie nämlich nichts mehr zu tun haben.