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Dennoch Hoffnung?
Der Abspann läuft, die Titelmusik klingt aus, massives Schweigen bleibt. Wie erwartet, wagt es keiner, sich zu bewegen.
Das Ganze ist aus psychologischer Sicht nahezu leichtsinnig, denke ich verstört. Eine Lawine ist soeben ausgelöst worden, wahrscheinlich in jedem von uns.
Und nun ist der Film vorbei. Der Schaden angerichtet und wir fassungslosen Menschen mit Überschallgeschwindigkeit zurückkatapultiert in die Realität. Peng. Nur sagt uns keiner, wie wir noch länger mit ihr umgehen sollen. Aber eine Alternative gibt es nicht.
Die tiefe Dunkelheit war bis hierhin mein Schutzanzug vor der Außenwelt. Nun sorgt das Kinopersonal dafür, dass die Lampen den Saal unsensibel in ein grelles Licht tauchen, und meine Deckung sich somit in Nichts auflöst. Ich blinzle und nehme zum ersten Mal bewusst die Menschenmenge im Raum wahr. Eigentlich bin ich noch nicht so weit.
Die Körpersprache der anderen sagt mir, dass nicht nur ich unsanft aufgeprallt bin in der Wirklichkeit. Eingefallen sitzen sie in ihren Sesseln, die Augen leblos auf einen Punkt fixiert. Ich fahre mir zerstreut durch die Haare. Es würde mich interessieren, ob ein Psychologe im Saal ist. Ich habe Lust, die Frage in den Raum hinein zu stellen. Mal sehen, ob sich jemand traut zu lachen nach alldem. Alternativ wäre vielleicht auch ein Arzt hilfreich, für die ersten Zusammenbrüche. Der vor mir sieht so aus, als ob er einer sein könnte. Der daneben braucht offenbar bereits dringend einen.
Die Botschaft des Filmes ist klar und unmissverständlich gewesen: Wir haben keine Zukunft, keiner von uns. Die Welt ist ein elender Ort mit Milliarden leidender Menschen, die Verantwortung tragen die anderen. Harter Tobak für sechsundachtzig Minuten.
Ich schaue meinen Sitznachbarn zur Linken betreten, aber zugleich neugierig an. Er sitzt zusammengekrümmt neben mir. Sein Sessel ist seine Höhle, sein Blick starr auf den Boden gerichtet, ohne jede Regung. Er scheint einer der vielen Leidenden zu sein.
Die grau kostümierte Dame in der ersten Reihe erhebt sich und setzt zögerlich ihre Brille auf die Nase. Sie ist genauso blass wie wir anderen, mindestens. Ihr wahrscheinlich sorgfältig erarbeitetes Manuskript zittert in ihren verkrampften Händen und gibt ihr offenbar nicht den erwünschten Halt. Sie hat den professionellen Auftrag, Hoffnung zu verbreiten, nehme ich an. Dementsprechend skeptisch begutachte ich sie.
Erstaunlich souverän beginnt sie ihre Floskeln, oder ich bin einfach nur zu erschlagen, um das Zittern in ihrer Stimme wahrzunehmen.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie recht herzlich hier im Hollywood-Kino. Heute sahen sie im Rahmen unserer Filmreihe ‚Die Zukunft der Erde’ den Film ‚Im Ghetto’. Ein sehr bewegender Film, wie Sie mir vermutlich zustimmen werden. Lassen Sie uns die sich nun anschließende Diskussion in vier Schritte strukturieren…“
Eine Lehrerin, vermute ich.
Ich spüre förmlich, wie sich wohl auch der Letzte nun emotional aus diesem Raum verabschiedet und leere Hüllen zurückbleiben. Ich zumindest erhoffe mir eine erneute Zuflucht zurück in die Scheinwelt, für wenige Minuten nur. Das alles war bloß Illusion, lediglich ein Film, wenn auch ein gut gemachter.
Ich bekomme dennoch mit, wie ein hartnäckiger Alt-68-er uns darlegt, wie das System funktioniert. Die anderen müssen klein gehalten werden, damit wir auf unserem Niveau weitermachen können. Wir leben auf ihre Kosten - aber wissen wir das nicht alle längst? Noch weigere ich mich, wieder aufzutauchen.
„Ist unsere Welt somit dem Untergang geweiht?“
Diese Frage lässt mich wach werden und ich schaue die bedauernswerte Diskussionsleiterin erwartungsvoll an. Wie könnte man nach all dem diese Frage guten Gewissens verneinen? Würde sie es tun? Oder hatte ich sie unterschätzt?
„Gibt es nicht dennoch Hoffnung?“
Na also. Ich hatte ihren Auftrag richtig verstanden und löse meinen Blick verächtlich von ihr. Es fallen Begriffe wie Fairer Handel, Kyoto, Unesco, Patenschaften für süße schwarze Kinder.
Ich sollte wohl sagen, dass man was verändern kann, im Kleinen, dennoch. „Global denken - lokal handeln“ heißt die Devise. Ich bin geradezu verpflichtet dazu, von Berufs wegen, auch wenn ich mir die erwartungsvollen und fordernden Blicke wohl nur einbilde. Jemand muss ihnen ihren Lebenssinn zurückgeben. Ich kann es heute Abend nicht und werfe der verzweifelten Frau einen entschuldigenden Blick zu. Ich schaue abschätzend in die Menge und vermute, dass es auch sonst niemand vermag.
„Zu welcher Position kommen Sie?“
Ein letzter verzweifelter Versuch, uns als ihre Gesprächspartner zu gewinnen.
Die Welt ist verloren, mittelfristig, der Mensch nicht zur Moral fähig, sondern von Natur aus egoistisch, die Politik unterliegt dem Diktat der Ökonomie. Ich überlege, ob ich mich mit dieser Einschätzung zu Wort melden und sowohl der Moderatorin als auch meinen Nachbarn somit den finalen Todesschuss versetzen soll.
Ich komme nicht mehr dazu, meine Beurteilung abzugeben, da plötzlich das Handy meines Sitznachbarn zur Rechten nach der Melodie von „I wish you a merry christmas“ penetrant zu klingeln beginnt. Wir alle sind erleichtert über die Unterbrechung, zwingen uns aber trotzdem, ihn vorwurfsvoll anzusehen. Schließlich hat er unsere angeregte Diskussion gestört. Seine offensichtliche Nervosität hatte mich bereits während des gesamten Films genervt. Hektisch fischt er nun sein Handy aus der Tasche und führt ein Gespräch, das nur wenige Sekunden dauert. Dann beginnt er aufgeregt, auf dem Nachbarstuhl nach seiner Jacke zur kramen, die unter meiner liegt. Er zieht sich umständlich an und steht anschließend tollpatschig auf, mit hochrotem Kopf. Ich überlege nun doch, den Mann vor mir zu zwingen, sich als Arzt zu outen. Mein Nachbar stolpert derweil über meine Beine. Er strahlt, schaut in die Runde: „Es ist soweit, jetzt schon. Mein Sohn kommt auf die Welt. Ich muss zu meiner Frau.“ Während er den Satz vollendet, verlässt er bereits den Saal im Laufschritt und lässt uns so etwas Ähnliches wie ausgelassene Freude zurück.
„Herzlichen Glückwunsch“, ruft einer, andere beginnen zu applaudieren. Ich kann es selber kaum fassen und schaue ungläubig in die Menge. Sie sehen aus, wie ich mich fühle, und ich fühle, ich wage es mir kaum einzugestehen: Glück. Die Moderatorin verdient sich doch noch meinen Respekt, in dem sie das einzig Richtige tut. Sie löst die Runde augenblicklich auf und entlässt uns zuversichtlich in die vorweihnachtliche Welt. Wir greifen dankbar nach diesem Strohhalm der Hoffnung, lächeln uns zögerlich und etwas beschämt an, gehen beschwingt nach Hause zu unseren Adventskränzen und verdrängen wohl alle die Frage nach dem morgigen Tag erfolgreich.
Geschlafen habe ich heute Nacht unglaublicherweise sorglos, tief und fest wie ein Baby. Heute Morgen dann eine kleine Meldung im Morgenecho unter „Vermischtes“, ich habe sie fast übersehen vor lauter ungewohnter Freude:
„Auf ihrem Weg zur Entbindung ins Marienhospital verunglückte gestern Abend um 22:45 Uhr eine 33-jährige schwangere Frau mitsamt ihrem ungeborenen Kind tödlich. Ein Autofahrer mit 1,9 Promille Alkohol im Blut nahm dem Krankenwagen am Luisenring die Vorfahrt. Sowohl der Fahrer des Fahrzeugs als auch der Ehemann der Frau liegen mit einem schweren Schockzustand im Krankenhaus.“
Und so stirbt die Hoffnung letztendlich doch noch, mitten im Advent. Alles andere hätte mich auch gewundert.