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Der Ärmste
„Mir ist, als ob seien alle Verbindungen mit der Außenwelt gekappt. Ich kann weder sehen, noch hören, weder schmecken, noch riechen, noch fühlen – was sich auch auf den Schmerz bezieht. Da ich allem Anschein nach in irgendeiner Form lebe, muss ich wohl ein Herz besitzen, und eine Lunge. Wobei man sich heute dank unserer Medizin kaum noch sicher sein kann.
Also. Wozu bin ich? Ich bin die wohl niedrigste Lebensform, das schwächste aller Wesen - aber ich kann denken. Ich bin von meinem Körper unabhängig, mein Körper von mir. Ich bin ein freier Geist, und doch eingeschlossen im dunkelsten der Kerker, welches noch vor kurzem mein Palast war – in meinem reglosen Körper. Erinnerung – das ist die einzige Zerstreuung, die mir hier bleibt. Das Schönste von dem, was es auf der Welt gibt, für mich. Man kann damit den Geschmack vor langer Zeit gegessener Leckerbissen wieder genießen. Und den Geruch verwelkter Rosen. Und die Ansicht einer untergegangenen Sonne. Vor langem verstummte Musik. Was ist schöner als die Erinnerung?
Die Vorstellungskraft. Damit kann man Bruchstücke verschiedener Erinnerungen aneinanderbauen, und daraus vollkommen neue Gebilden, neue Erlebnisse erschaffen. Man kann sich zum Beispiel das Meer vorstellen, bei Tag oder bei Nacht. Abwechselnd. Wellen, die über die Wogen einer gigantischen, Horizonte umspannenden Wasserebene gejagt werden. Und einen Strand am Ufer, von den warmen Sternen beschienen. Dort kann meine Phantasie einen paradiesischen Wald wachsen lassen, mit allen Pflanzen und Früchten, die ich kenne.
In diesem Walde siedle ich Tiere an. Verschiedene, schöne Tiere, die ich mir ausdenke – einen Löwen, aber friedlich, ohne Zähne und Krallen. Einen Vogel mit einem Rüssel. Nichts kann mir eine Grenze setzen. Nichts beschränkt meine Macht. Was fehlt noch? Natürlich, ich brauche Menschen, und prompt stelle ich mir einen vor. Er ist ganz wie ich, nur kerngesund und muskulös. Ich nenne ihn... Adalbert – ein schöner Name. Wie er durch meinen Wald stolziert! Lauf' doch mal zum Strand, bade ein wenig. Wenn du genug davon hast, denke ich dir eine Freundin aus, damit du nicht so alleine bist, und natürlich ein paar Gebote und Verbote, aufdass du dich benimmst, in Gegenwart einer Dame. So wird es sein, du... Mensch, wie ich dich doch beneide!“