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Der übellaunige Skarabäus
Als ich ein kleiner Junge war, so sechs oder sieben Jahre alt, war ich des Öfteren krank und falls ich dies einmal nicht war, hatte ich mit gebrochenem Arm oder verstauchtem Knöchel zu kämpfen. Insgesamt also war es eine Zeit, in der ich viel im Bett lag und sehnsüchtig hinaus schaute, während meine Freunde Fußball spielten, im Meer badeten oder Drachen steigen ließen. Unsere Haushälterin, die ich immer Tante Tiff nannte und die mit uns im Haus wohnte, kümmerte sich laufend um mich, brachte mir heiße Schokolade, Apfelkuchen und andere Dinge, von denen sie überzeugt war, dass diese den jeweiligen Genesungsprozess beschleunigten. Auch meine mich liebende Mutter ließ es sich nicht nehmen, mich ständig zu umhegen, schließlich hatte sie auch sonst nichts zu tun. Den Haushalt erledigte Tante Tiff und der Tabakladen meines Vaters lief so gut, dass wir nicht nur keine Geldsorgen hatten, sondern er sich auch einen Gehilfen leisten konnte. Wenn mein Vater nach seinem Erfolg gefragt wurde, sagte er stets durch seinen Bart hindurch mit der vollen, wohltönenden Stimme, die schon damals - wie sie immer scherzhaft versicherte - der vornehmliche Grund meiner Mutter gewesen war, seinem Heiratsantrag zuzustimmen, dass zwar auch die diesjährige Regierung so schlecht wie die vorige sei, doch ein anständiger Engländer trinke immer seinen Fünf-Uhr-Tee. Dann lachten die Leute immer und sagten, dass er wirklich viel von der hohen Politik verstünde. Mit mir hingegen konnte er nur wenig anfangen und selbst als ich krank im Bett lag, kam er nur selten zu mir. Wenn er es dann tat schaute er nur kurz herein und sagte etwas wie:
„Bald kannst du wieder draußen spielen, warte es nur ab. Und dann zeigst du es denen!“
Ich hatte mir dann immer gewünscht, er würde länger bleiben und mir eine Geschichte erzählen, so wie es mein Onkel immer tat, wenn er bei uns war. Mein Onkel war ein großer Mann mit breiten Schultern und immer braungebranntem Gesicht, mit wirrem Haar, das er mit einer Schiffermütze zu bändigen suchte. Er kam ein oder zwei Mal im Jahr vorbei und plauderte dann tagelang mit meinen Eltern über Politik, Wirtschaft, die Vereinigten Staaten und viele andere Sachen. Doch immer fand er Zeit, um mir seine Geschichten über fremde Länder, unglaubliche Tiere und geheimnisvolle Rituale zu erzählen.
Als er in diesem Jahr zu uns kam, es war 1892, freute ich mich natürlich besonders. Von meiner Mutter hatte ich erfahren, dass er in Ägypten gewesen war und ich hatte Tante Tiff dazu bewegen können, mir ein Buch über Ägypten zu besorgen. Zwar hatte ich Mühe mit dem Lesen, doch ich hatte ja Zeit reichlich und wollte ihm beweisen, dass auch ich über Ägypten Bescheid wusste. Als er dann eintraf, kam er sofort zu mir, anstatt erst mit meinen Vater eine Pfeife zu rauchen. Er trat an mein Bett in welchem ich aufgrund eines gebrochenen Beines zu liegen hatte, und sagte mit seiner Erzählstimme:
„Oho! Ist hier der kleine Unglücksknabe, der von Bäumen fällt und verflucht ist im Bett zu liegen?“
Ich blickte ihn an und nickte, in der Erwartung, dass er nun erzählen würde. Doch weder setzte er sich noch begann er damit, mir eine spannende Geschichte zu erzählen. Stattdessen griff er in eine seiner vielen, großen Taschen und legte mir etwas in die Hand. Bei genauerer Betrachtung stellte es sich als ein kupferfarbener Käfer von der Größe einer Walnuss heraus, der an einer dünnen Kette hing.
„Du musst immer auf diesen Käfer Acht geben, es ist ein Skarabäus“, sprach er eindringlich. „Er bringt dir Glück, solange du ihn trägst. Mir hat er schon oft geholfen, aber nun soll er dir gehören. Damit du nicht wieder von Bäumen fällst“, hatte er lachend hinzugefügt, mir den Kopf zerzaust und mich alleine gelassen. Aus meinem Buch wusste ich, dass er Recht hatte. Und da ich ihm auch sonst glaubte, tat ich wie geheißen und hängte mit den Käfer um. Ich gewöhnte mich schnell daran ihn Tag und Nacht zu tragen und legte ihn nur ab, wenn ich schwamm oder duschte. Ich war der Überzeugung, dass ein Käfer aus Ägypten nicht allzu viel Wasser vertrüge, und ersparte ihm deswegen das nasse Element. Außerdem hatte ich bemerkt, dass er im feuchten Klima noch schneller grün anlief als sonst, was gewiss ein schlechtes Zeichen war. Da England aber ein nebliges Klima vorzieht, gewöhnte ich mir auch noch an, meinen Käfer unter dem Hemd zu tragen, um ihn zu schützen.
Die nächsten knapp zwanzig Jahre verlief mein Leben so, wie es für den Sohn eines wohlhabenden Vaters normal war: Ich besuchte eine gute Schule, hatte Stunden in Benehmen und Manieren und ging auf eine der besten Universitäten des Landes. Zudem kam im Laufe der Zeit der markante Charme meines Vaters immer mehr zum Vorschein und so verkehrte ich bald von Damen umworben in guten Kreisen. Kurzum, ich war mit mir selber so zufrieden, wie auch der Rest der Gesellschaft mit mir. Ich hatte meinen Doktor in Medizin, war bewandert in Literatur, Musik und Kunst, konnte über Politik, Physik und Mathematik diskutieren und besaß dennoch so viel Witz und Einfühlungsvermögen, dass ich mir auch der Gunst der Frauen sicher sein konnte. Längst hatte ich den Glauben an irgendwelche magischen Kräfte meines kleinen Gefährten verloren, doch seit mein geliebter Onkel bei der Erkundung eines Kratersees auf Neuseeland tödlich verunglückt war trug ich den ulkigen Krabbler in Erinnerung an ihn immer noch jeden Tag unter meinem Hemd. Außerdem war er ein guter Aufhänger, wenn eine peinliche Gesprächspause während meiner vielen Gesellschaftsabende entstand. Dann holte ich ihn hervor und erzählte teils erfundene Geschichten, die ich mit meinem unfassenden Wissen untermauerte. Frauen konnte ich so immer wieder derart beeindrucken, dass sich die Begegnung öfters noch zu einer interessanten Zweisamkeit entwickelte.
Eines sommerlichen Abends im Jahre 1911 ereignete sich jedoch ein merkwürdiger Zwischenfall. Ich war in meiner Wohnung in London und hatte meinen Skarabäus wie üblich abgelegt, um mich zu duschen. Als ich aus dem Bad zurückkehrte, voller Elan und Freude auf den morgigen Tag, der mein erster als praktizierender Arzt in einem Krankenhaus sein sollte, stieß ich mir den kleinen Zeh an einer Schrankecke. Wütend humpelte ich zum Bett. Schon wieder hatte ich mir denselben Zeh an derselben Ecke gestoßen! Ich setzte mich auf das Bett und betastete den pochenden Zeh. Er schien nicht gebrochen zu sein, lief aber schon blau an. Bei jeder Berührung schoss ein stechender Schmerz durch den Fuß. Wie lächerlich es aussehen musste, wenn ein Arzt durch ein Krankenhaus humpelt, dachte ich mir, und sann darüber nach, was ich dagegen unternehmen könnte. Ich muss einen strammen Verband anlegen, kam mir in den Sinn. Auf der Suche nach geeignetem Material stand ich wieder auf und mein Blick streifte dabei den Nachttisch. Der Skarabäus war verschwunden. Andererseits war mir das in dem Moment egal. Ich humpelte durch die ganze Wohnung und verfluchte reihum den schmerzenden Zeh, den Schrank, die unauffindbaren Mullbinden und den Käfer. Schließlich fand ich, was ich suchte. Aber es waren nicht die Mullbinden.
Ein erneuter Fluch über den Schrank und nichtsnutzige Auswüchse an menschlichen Füßen blieb mir im Halse stecken, so sehr verwunderte mich die Szene. Der echt kupferne Käfer krabbelte emsig auf die Balkontür zu! Ich schüttelte den Kopf und schaute einmal woanders hin, doch als ich wieder hinsah marschierte der Knabe, zwar nicht schnell, aber nichtsdestotrotz zielstrebig, immer noch weiter auf die Tür zu. Ich war schon zu der Erkenntnis gekommen, dass es sich um einen Käfer handeln musste, der meinem eben sehr ähnlich sah, als ich etwas bemerkte. Eine feine Kette in der Art an der mein Skarabäus hing schlängelte sich hinter ihm durch den Teppich! Es konnte keinen Zweifel geben: mein langjähriger Freund, den ich Tausende von Tagen um den Hals getragen hatte, war lebendig geworden und kroch jetzt über meinen Fußboden! Scheu ergriff ich das Ende der Kette und hob den zappelnden Käfer ungläubig hoch, um ihn genauer zu betrachten. Doch ich hatte nicht lange Zeit, ihn mir anzusehen, denn der Skarabäus tat sein Maul auf und sprach sehr deutlich:
„Lass mich sofort herunter, du unmöglicher Mensch!“
Vor lauter Schreck ließ ich ihn tatsächlich fallen und starrte ihn an. Ich hatte schon viel gehört, von Schlangen, die nach Musik tanzten, von Toten, die wieder auferstanden, und zur Arbeit gingen als ob nichts gewesen wäre, von leuchtenden Tiefseefischen, aber so etwas konnte nur Einbildung sein. Wirre Gedanken rasten durch meinen Kopf. Halluzinierte ich? Träumte ich? War ich gestorben und befand mich gänzlich woanders, als ich vermutete? War das Ganze ein Scherz und jemand sah mir zu und amüsierte sich?
Der Käfer riss mich aus meiner Erstarrung. Er richtete sich auf ich glaubte zu erkennen, dass sich sein Gesicht, sofern man davon bei Käfern sprechen darf und kann, ärgerlich verzog.
„Du undankbarer Sohn einer Hündin! Was glotzt du so?“
„Ich …“, stammelte ich. Aber er wandte sich einfach ab und ich musste erstmal damit fertig werden, dass ich von einem Käfer beschimpft worden war. Ich sah mich in meiner Wohnung um. Alles war normal, nichts deutete darauf hin, dass sich an meinem geistigen Zustand irgendetwas dahingehend geändert hatte, einen sprechenden Käfer zu erklären. Also konnte nur der Käfer mir erklären, was hier los war. Ich sah wieder zu ihm hinüber und erkannte, dass er gerade dabei war durch die spaltbreit offen stehende Balkontür zu krabbeln. Ich zog ihn an der Kette zurück, machte die Tür zu und ließ ihn kopfüber vor meinem Gesicht an der Kette baumeln, was ihn dazu veranlasste, sofort wieder in Schimpfkanonaden auszubrechen:
„Verfluchter Egozentriker, du armseliger Wurm, lass mich sofort los, damit ich mir einen würdigeren Träger suchen kann als dich Matschbirne, der du dümmer bist als eine rollige Katze. Und ich schwöre dir, dass du nie wieder die Sonne des Lebens sehen wirst, du elendiger Lump, wenn du mich noch weiter hier hängen lässt ...“
Vorsichtig ließ ich ihn auf meine Handfläche gleiten und erschauderte. Er fühlte sich an wie ein echter Käfer, aber viel schwerer. Ich riss mich zusammen und sah, dass sich seine grimmige Miene ein wenig aufgehellt hatte.
„Wieso lebst du?“, fragte ich ihn verwundert.
„Darum eben, und wenn es dir nicht passt, dass ich lebe, dann lass mich doch laufen!“, erwiderte er barsch, machte aber keine Anstalten, von meiner Hand zu flüchten. Ich schüttelte den Kopf.
„Träume ich?“, fragte ich ihn immer noch verwundert.
Er blickte mich listig an.
„Spürst du deinen Zeh noch? Meinst du lausiger Affe etwa, so einen Schmerz kann man träumen?“
Und ob ich meinen Zeh noch spürte. Argwöhnisch spähte der Käfer über den Rand meiner Hand, als wolle er abschätzen, ob er den Sprung wagen könne oder nicht.
„Wo willst du ihn?“, fragte ich weiter.
„Das ist mal wieder typisch für dich! Jahrein, jahraus hilft man dir wo man nur kann und du stellst nur dumme Fragen!“
„Moment!“, unterbrach ich ihn. „Ich habe alles, was ich erreicht habe ehrlich verdient. Damit hast du doch gar nichts zu schaffen.“
„Das denkst du vielleicht. Aber überlege mal was passierte, nachdem dein Onkel mich dir Gernegroß geschenkt hatte.“
Mit einem spöttischen Blick sah er mich an.
„Keine gebrochenen Beine mehr, deine Noten in der Schule verbesserten sich, bei deinem Sturz aus dem dritten Stock hattest du nur einen verstauchten Fuß, dein zweites Staatsexamen hast du mit Lob bestanden, obwohl du kaum gelernt hattest, sondern lieber den Frauen nachgestiegen bist. Doch du hast ja immer alles auf deinen großen Intellekt geschoben. Alles Pustekuchen! Wen hattest du denn immer an deinem Hals hängen, na?“
„Das ist ja alles schön und gut“, gab ich zu, „und ja, bei der Prüfung hatte ich wirklich Glück ...“
„Nur bei der Prüfung?“, unterbrach er mich. „Die Liste ist beinahe endlos. Und von deinem romantischen Ausritt wollen wir mal gar nicht reden. Hast du dich nie gefragt, wieso du dir nicht den Schädel an dem Eichenast zerbrochen hast? Du bist sogar noch blöder, als ich dachte!“
„Ich hatte halt ...“, begann ich unverdrossen, bis mir aufging, dass ich „Glück“ hatte sagen wollen.
„Soll das heißen, du bist ein echter Glücksbringer?“
„Wahnsinn, der Ignorant mit den vier linken Gliedmaßen hat es verstanden! Vielleicht solltest du wirklich mal versuchen dich alleine an irgendeinen Patienten heranzutrauen. Ach was, lass es lieber, dann würdest du eh nur dumm dastehen und sie womöglich auch noch umbringen!“
Aus einem Grund, den ich selbst nicht verstand, wollte das Ganze nicht in mein Hirn. Ich konnte immer noch nicht glauben, was sich in meinem Wohnzimmer abspielte.
„Aber warum bist du überhaupt so schlecht gelaunt?“, fragte ich ihn verwirrt. „Du hattest es doch gut bei mir. Ich habe dich doch nicht weggeworfen.“
„Nein, wahrlich, das hast du nicht. Du hast mich ständig getragen und ich hatte Haufenweise zu tun. Aber hast du mir das einmal gedankt? Oder mir mal eine Ruhepause gegönnt? Mich mal geputzt? Mir die Welt gezeigt? Ich musste immer unter deinem stinkenden, dunklen Hemd leben, abscheulich!“
„Und warum hast du mir das dann nicht gesagt? Ich meine, wenn du schon sprechen kannst.“
„Du Narr!“, entgegnete er erbost. „Was macht das wohl für einen Eindruck auf dich, wenn ich plötzlich rede? Sieh dich doch an! Du hättest mich womöglich in einen Fluss geworfen oder mich zum Abfall getan. Du schlotterst ja sogar jetzt noch vor Angst und Unglauben, wie wäre das dann erst vor einigen Jahren gewesen?“
„Wahrscheinlich hast du Recht ...“
„Natürlich habe ich Recht!“
„Aber was willst du nun tun. Mich einfach hängen lassen?“
„Zugegeben, das war mein Plan“, antwortete er ärgerlich. „Warum auch nicht? Ich bin ein Glücksbringer, ja, aber du hast sogar deinem Dienstmädchen mehr Dank gezollt als mir.“
Auch da hatte er nicht Unrecht, das musste ich ihm eingestehen. Andererseits offenbarte er mir gerade, dass ich von ihm abhängig war. Wenn er tatsächlich in derartiger Weise mein Leben beeinflusste, konnte ich kaum damit rechnen, es alleine wie bisher fortführen zu können. Dennoch wollte ich mich nicht so leicht geschlagen geben.
„Du glaubst also: Wenn du mich verlässt gerät mein Leben aus den Fugen und mich ereilt damit die gerechte Strafe dafür, dass ich dich nicht wie einen Glücksbringer behandelt habe?“
In einer merkwürdigen Bewegung, die mir in anderer Situation aufschlussreich in Bezug auf die Käferphysiognomie gewesen wäre, bekam er eine Art zustimmendes Nicken hin.
Ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit. „Ich glaube das nicht. Mein Wissen ist umfangreich, was sollte mir da schon passieren? Die Prüfungen sind bestanden, die können mir nicht mehr aberkannt werden.“
„Aber“, unterbrach er mich eindeutig belehrend, „du bist ein Tollpatsch.“
Verwundert blickte ich ihn an.
„Dein Wissen ist immens, das ist wahr, aber ohne mich kannst du kein Glas Wasser halten, ohne davon die Hälfte zu verschütten.“
„So ein Unsinn!“, begehrte ich auf.
Jetzt grinste er tatsächlich. Zuerst dachte ich, er wolle mir etwas sagen, aber das tat er nicht. Er grinste nur auf eine unheimliche Art und starrte mich aus seinen kleinen Knopfaugen an. Und mit einem Mal erschien er mir viel realer und echter als alles andere. Als wäre es nicht die Welt, die ihn erschaffen hätte, einen leblosen Klumpen Kupfer, sondern als wäre er es, der die Welt manipulierte, der den Lauf der Dinge tatsächlich ändern konnte. Ich weiß nicht, wie lange wir uns so ansahen, aber als ich endlich meinen Blick von seinen Augen lösen konnte, war mir klar, dass dieser Käfer weit mehr war, als ein simpler Talisman. Und dass er Recht hatte. Ich schluckte schwer und wollte etwas sagen, aber er kam mir zuvor.
„Na also. Ich sehe, du hast verstanden. Kann ich jetzt gehen?“
Seine lapidare Art, über mein Leben zu entscheiden, entrüstete mich. Entschlossen hielt ich ihn an der Kette fest. Prompt begann er wieder zu fluchen.
„Verdammte Kette! Warum gibt es die überhaupt? Könnt ihr einen nicht in der Hosentasche tragen? Wieso müssen alle Menschen nur immer so besitzergreifend sein? Von Freiheit habt ihr doch keine Ahnung.“
„Du kannst jetzt nicht gehen!“, entgegnete ich.
„Ach nein? Und warum nicht?“
„Weil ...“, ich zögerte.
„Weil was?“, fuhr er auf. „Weil ich ein Glücksbringer bin? Als dein Eigentum keine Rechte besitze? Auf meine Ehre achten muss? Sonst nicht in den Käferhimmel komme?“
Die abfällige Art, wie er „Käferhimmel“ betonte, ließ in mir die Vermutung aufkommen, dass er etwas Konkretes darüber wusste, aber meine Gedanken wurden von seinem Gezappel unterbrochen, mit dem er sich zu befreien versuchte. Ich blickte ihn an, er hörte auf und glotze zurück.
„Lass mich runter!“
„Nein.“
„Nein“, äffte er mich nach. „Doch, sage ich dir. Ich habe keine Lust mehr auf deine Undankbarkeit, deine Missachtung ...“
„Ich werde mich ändern.“, sagte ich schnell. Er lamentierte noch einen Moment weiter, bevor er stockte und mich überrascht ansah.
„Ich verspreche es“, sagte ich, bevor er etwas sagen konnte. „Ich werde dich immer über dem Hemd tragen und dich jede Woche polieren und wenn ich Glück habe, werde ich dir danken.“
Ich erwartete eine zynische Antwort von ihm, doch als ich ihn ansah, hockte nur ein kleiner, kupferner Skarabäus an einer Kette auf meiner Hand, der nichts Ungewöhnliches zu sein schien.
„Abgemacht?“, fragte ich, erhielt aber keine Antwort.
Am nächsten Tag schritt ich, den Schmerz überspielend, zur Arbeit und ließ meinen Zeh untersuchen. Mein zukünftiger Kollege schaute mich seltsam an und meinte, der Zeh sei in Ordnung. Ich lachte innerlich auf und strich dem Skarabäus, der über dem Kittel hing, sanft über den Rücken.
Im Laufe der Jahre, die ich meinen kleinen Freund mit mir herumgetragen habe, sprachen mich immer wieder Leute auf meine seltsame Gewohnheit an. Und ich antwortete ihnen stolz, dass dies ein Skarabäus sei, also bei weitem kein gewöhnlicher Käfer, sondern ein echter Glücksbringer. Und obwohl er seit jenem Abend nie wieder mit mir gesprochen hat und ich manchmal fast denke, dass alles doch nur ein sehr merkwürdiger Traum gewesen ist, meine ich einen amüsierten Zug in seinem kleinen Käfergesicht auszumachen, der vorher ganz sicher nicht da gewesen ist.
So ich dies schreibe, bin ich nunmehr zweiundachtzig Jahre alt, habe zwei Kriege miterlebt und manche kalte Zeit, doch ich habe sie alle gut überstanden und erfreue mich nun meiner Enkel, während mein Skarabäus hochglanzpoliert von meiner Brust in die Welt schaut.