- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Der 170 Kilo-Mann
Ich kannte ihn nur vom Sehen. Man nickte sich zu, wenn man sich auf der Straße traf, aber es war mehr ein Nicken des Erkennens denn ein Nicken aus Freude. Man ging sich aus dem Weg. Wobei sich das schwierig gestalten konnte, besonders, wenn man sich im Treppenhaus traf: Er war so dick, dass man sich nur schlecht aneinander vorbei quetschen konnte. Er war der dickste Mensch, den ich je leibhaftig erblickt hatte, so was bekam man sonst nur in Fernsehreportagen über fettleibige Amerikaner zu sehen.
Ich selbst war gerade auf meinem Rekordtief, was mein Gewicht anging, ich achtete sehr darauf, ernährte mich bewusst und joggte jeden Morgen eine Stunde am Fluss entlang, das war eine schöne Laufstrecke, an der man sogar ab und zu ein prominentes Gesicht sah. Manche würden sagen, ich war magersüchtig, aber das waren nur Diffamierungen von Leuten, die selbst zu dick waren und nicht die Disziplin zum Abnehmen entwickeln konnten, sprich sie waren neidisch. Zumindest saß ich rank und schlank allein abends vor dem Fernseher, mit meinem Freund, dem roten Wein.
Der dicke Mann hatte einen Hund, einen Mops, und auch dieser Hund war bestimmt der dickste Hund auf dem ganzen Planeten, man hatte Angst, dass er irgendwann platzt wie eine Bratwurst in der Mikrowelle. Dieser Mops musste einen Kleiderschrank haben, größer als meiner, aus dem der dicke Mann kuriose Hundecapes und –umhänge zauberte. Seine Lieblingsfarbe war olivgrün, was schwer an Tarnfarbe erinnerte, man dachte Dschungel, man dachte Vietnamkrieg, Handgranaten und Agent Orange und dieser Hund mittendrin, ich taufte den Mops „Camouflage“.
Der dicke Mann selbst lief nicht in Tarnfarben herum. Ich konnte mir denken, dass in seiner Kleidergröße die Auswahl nicht besonders vielfältig sein konnte. Im Frühling und im Herbst trug er eine hellblaue Funktionsjacke mit unzähligen aufgenähten Taschen, Handytaschen, Kleingeldtaschen, Schlüsseltaschen, MP3-Player-Taschen, er sah aus wie ein riesenhafter Planet auf Beinen, übersät mit Meteoritenkratern.
Im Winter war er mit einem zu kleinen schwarzen Mantel bekleidet, den er offenbar aufgrund seiner Leibesfülle nicht zumachen konnte, denn er trug ihn immer offen; die wollenen Ärmel rutschten weit über seine Handgelenke, so dass man die Manschetten des billigen Hemds darunter sehen konnte.
Er trug im Winter wie im Sommer eine Jeans, die er in einem Spezialgeschäft für Dicke gekauft haben muss, ich habe so was noch nie gesehen: er musste einen Taillenumfang von mehr als einem Meter haben. Die Beine standen keilförmig vom Rumpf ab und verjüngten sich nach unten. Seine Füße waren winzig, so klein, dass ich mich fragte, wie sie diesen großen, schweren Körper tragen konnten; wenn diese Füße sprechen könnten, was würden sie sagen? Gnade, bitte, befreit uns von diesem Gewicht, wir können nicht mehr!
Das erste Mal trafen und sprachen wir einander an einem heißen Sommertag, ausgerechnet in der Lebensmittelabteilung eines großen Kaufhauses, das für seine exotischen Spezialitäten bekannt war. Er stand vor mir in der Schlange und legte seine Waren aufs Laufband. Eine genervte, rot gefärbte Kassiererin scannte das Zeug ein, es sah so aus, als mache sie die einzelnen Einkäufe der Kunden für das verkorkste Leben verantwortlich, das sie führen musste, weil es für mehr nicht gereicht hat.
Der Warenkorb des Mannes war wohl beispielhaft zu nennen: Von Pudding über Pizza bis hin zu Tiefkühl-Croissants war alles vertreten, auch die obligatorische Cola Light, als ob das irgendwas retten würde.
Dem dicken Mann fiel ein Päckchen Diät-Salami runter und ich hob es auf, da ich sah, dass ihm das Niederknien Mühe machte; er konnte kaum in die Hocke gehen, weil seine stämmigen Beine das nicht zuließen. Er nahm das Päckchen entgegen und bedankte sich artig. Die Luft war sehr warm, sicher 30° Celsius, und man konnte seine strengen Körperausdünstungen wahrnehmen. Er trug ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt mit dem Schriftzug AC/DC drauf und ein paar dunkle Jeans, die ihm immer wieder ein paar Zentimeter herunterrutschten, so dass man seine Arschfalte sehen konnte. Ich überlegte, ob ich ihm das sagen sollte, entschied mich aber dagegen, vielleicht wusste er es sogar und konnte nichts dagegen tun, weil es beispielsweise keine anderen Hosen in seiner Größe gab oder was weiß ich. Wenn er es nicht wusste und ich es ihm sagte, wäre das eine peinliche Situation für ihn und für mich. Ich blieb bei meiner Entscheidung. Ich wollte ihn auf keinen Fall kränken.
Er drehte sich wieder zur Kasse um und zahlte bar. Beim Einpacken war er langsam, ich hatte mehr Waren als er und brauchte weniger Zeit. Mir fielen seine Hände auf, sie waren schlank und fein, das genaue Gegenteil vom restlichen Körper. Wir wurden etwa zur selben Zeit fertig und machten uns gezwungenermaßen gemeinsam auf den Weg zum Aufzug. Als er im Lift auf den Knopf fürs Erdgeschoss drückte, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass wir vielleicht zu schwer waren und darum der Fahrstuhl abstürzen könnte ... Ich wusste, es war irrational ... Aber es war ein kleiner Fahrstuhl ... Dieser Aufzug ist für sechs Personen oder für 800 kg ausgelegt, las ich auf einem Schild über der Tür, und ich seufzte, ein Glück. Dann dachte ich nach.
Ich sprach zuerst. Aus Neugier.
„Wo ist denn Ihr Hund?“
Er zuckte entschuldigend mit den massigen Schultern.
„Zuhause.“
„Sie wohnen ein Stockwerk über mir, nicht wahr? Ich höre Sie manchmal nachts rumlaufen.“
„Ja, wenn ich nicht schlafen kann ... Aber bin ich so laut?“
Er errötete, wobei sich nur an den Wangen die Haut färbte; ringsum im Gesicht blieb es käsig weiß, so dass die nervösen Flecken noch stärker hervortraten, es sah aus, als hätte man ihn mit Tomatenmark eingerieben.
„Sie laufen nachts nicht nur rum, Sie sind auch manchmal in der Küche beschäftigt, ich höre Sie mit Töpfen und Pfannen klappern.“
Dies schien ihm noch peinlicher zu sein, denn diesmal errötete er überall. Vielleicht war es gemein von mir, das Thema Essen zu erwähnen.
„Ja, ab und zu ... habe ich nachts akuten Hunger”, sagte er, er flüsterte das letzte Wort und blickte zu Boden.
„Macht doch nichts”, sagte ich. Mittlerweile waren wir aus dem Aufzug und dem Kaufhaus raus und hatten die Busstation erreicht, wir sahen den Bus kommen. Wir stiegen ein, wobei er Schwierigkeiten hatte, mit seinen beiden Einkaufstüten die Stufen zu erklimmen.
Seine Hand griff nach der Haltestange und hinterließ dort einen schmierigen Film aus Schweiß. Der zum Festhalten erhobene Arm gab die Sicht frei auf einen riesigen Schweißfleck unter der Achsel.
Seine schwarzen Haare waren feucht oder fettig oder beides und hingen ihm ins Gesicht; ein kleiner Schweißtropfen erdreistete sich und lief langsam die Nase des dicken Mannes herunter. Es war ein frecher kleiner Schweißtropfen. Ich hatte den Drang, ihn abzuwischen, tat jedoch nichts. Was hätte es geändert.
Wir fuhren aneinandergequetscht den Weg zu unserem Haus und stiegen aus dem Bus. Dann, er keuchend, die Treppen rauf. Vor meiner Wohnungstür verabschiedeten wir uns. Er ging weiter nach oben, vierter Stock, und ich hatte nicht das Gefühl, dass ich ihn wieder sprechen würde. Ich verschloss meine Tür und begann, in der Küche meine Einkäufe in den Kühlschrank zu sortieren.
Ich musste den ganzen Nachmittag an den dicken Mann denken. Mir gingen seine Augen nicht aus dem Kopf; er hatte samtige schwarze Augen und ganz lange Wimpern, wie ein Kamel. Es passte nicht zu ihm. Bei seiner Statur, bei seinen Fettmassen, müsste er eigentlich kleine verkniffene Schweinsaugen haben, die unablässig blinzelten. Hatte er aber nicht. Er hatte diese Augen, die ich einfach nicht vergessen konnte.
Ob er eine Freundin hatte? Je gehabt hat? Masturbierte er? Bemerken tat ich jedenfalls nichts, und durch die dünnen Wände nahm man alles wahr.
Ich hörte ihn oben in seiner Küche herumfuhrwerken und musste lächeln. Der Mops bellte. Der Mann hantierte mit Tellern und Gläsern, offensichtlich war er an seiner Spülmaschine zugange. Dann fiel etwas herunter, es traf auf dem Kachelboden auf und zersprang und mein Nachbar, der dicke und schüchterne Mann, fluchte ordentlich; das konnte er also auch, das zeigte eine andere Seite von ihm, die unbequeme, interessant. Ich überlegte mir, hochzugehen und ihm meine Hilfe anzubieten, ließ den Gedanken aber fallen. Wozu? Er kam schon allein zurecht, es wäre nur aufdringlich. Vor meinem inneren Auge stellte ich mir vor, wie er mit seinen schlanken Fingern die Scherben mit einem Fegeblech und Handfeger im Müll entsorgte und hoffte, er würde sich dabei nicht schneiden, das wäre zu schade. Hoffentlich kam er dieses Mal besser in die Hocke als vorhin, das konnte eng werden.
Ich wechselte mit einem Glas Rotwein und einem leeren Aschenbecher von der Küche zum Wohnzimmer und machte es mir auf meinem roten Samtsofa gemütlich. Kaum hatte ich die TV-Fernbedienung in der Hand, klingelte es an der Tür. Das war nicht nett. Ich quälte mich aus meiner Wohlfühlposition und öffnete, bereit, jedem den Marsch zu blasen, egal wer da stand – es war der dicke Mann.
„Mir ist eine Flasche Ketchup runter gefallen“, sagte er und hielt mir die Scherben auf dem Fegeblech als Beweis entgegen. „Haben Sie vielleicht Ketchup ? Ich möchte ein Hot Dog essen.“
„Sie machen sich selbst Hot Dogs?“, fragte ich und bat ihn gleichzeitig herein, obwohl ich keinen Ketchup hatte, aber das verriet ich ihm nicht. „Bekommt Ihr Hund vom Würstchen was ab?“
„Er soll nicht so ... na ja, dick werden“, meinte er und musste lächeln. Ich lächelte auch. Es war ein schönes Lächeln, ein erleichterndes, von uns beiden. Dabei fielen mir seine Zähne auf. Es waren gute Zähne ohne Löcher oder Lücken. Sie sahen gesund aus und zermalmten gerade ein Aniskaubonbon.
„Und wie viele Hot Dogs essen Sie, wenn Sie ein Hot Dog essen?“, wollte ich wissen, ich konnte es nicht lassen. Maßlosigkeit ekelte mich an.
„Ich reduziere es gerade auf zwölf Stück“, sagte er wieder lächelnd, ich wusste nicht, ob er mich auf den Arm nahm.
Mittlerweile standen wir in der Küche, schwarzweiß gefliest, vor meinem General Electrics Riesenkühlschrank mit Eiswürfelspender, ich sah in das fett- und zuckerfreie Innere, aber Spirituosen en masse, heuchelte Überraschung, ups, kein Ketchup mehr da, schade, und verheimlichte, dass ich nie Ketchup im Haus hatte, einfach, weil er zu viel Kalorien mitbrachte.
Der dicke Mann sah sich in meiner Küche um, als hätte er noch nie eine gesehen. Sein Hemd stand offen und man sah die Haare auf seiner Brust, die ihm eigentlich nicht zustanden, denn Haare hat nur ein Mann und war er denn ein Mann mit seinem Schwabbel-Busen, seinem weichen Mund, seiner runden Knubbelnase? Er wirkte wie ein Typ in einem Affenkostüm.
„Sie haben einen viel schöneren Küchenboden als ich“, sagte er.
„Den hab ich auch extra verlegen lassen“, meinte ich.
„Edler Herd“, meinte er. „Gas? Mit Gas kann man viel besser kochen.“
Ich nickte.
Er analysierte weiter und stand mit dem Rücken zu mir.
Sein strähniges schwarzes Haar lief im Nacken zu einem hübschen kleinen Dreieck zusammen, ganz eng anliegend, so dass es aussah, als trüge er das Käppchen eines Haubentauchers auf dem Kopf, es wirkte fast possierlich.
Er drehte sich wieder um, so dass ich die Seite mit den Kamelaugen und den gutem Zähnen sah, er beugte sich zu mir herunter und ich konnte seinen Anisbonbon-Atem riechen.
„Wollen Sie auch manchmal weglaufen?“, fragte er mich.
Das war die Frage des Tages. Er war jetzt so nah, dass meine Stirn fast seine berührte, es hätte mich nicht gewundert, wenn ein paar Schweißtropfen von ihm zu mir übergelaufen wären.
„Nein“, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an. „Ich laufe generell nicht davon.“
Ich log. Er wusste das.
Ich machte einen Schritt zurück und hielt mich an der Kante der Arbeitsfläche fest. Er stellte sich wieder aufrecht hin.
„Wissen Sie“, setzte er an, „mit dem Essen ist es für mich so eine Sache: Es ist schädlich und ich brauche es trotzdem. Wie Rattengift. Jeder hat so sein Thema. Mein Thema ist das Essen. Was ist Ihr Problem?“
„Ich weiß nicht, ob ich das schon herausfinden möchte“, sagte ich und schenkte mir ein Glas Rotwein ein, schön voll. Ich prostete ihm zu. „Nee, das möchte ich wirklich nicht herausfinden.“
Ich wusste, was er meinte. In manchen Situationen kann die Sucht einen retten. Sie hilft, zu funktionieren, eine gewisse Zeit. Doch dann fordert sie ihren Platz im Leben des Süchtigen, sie will an erster Stelle stehen und tut alles, um sich durchzusetzen. Wie ein verschmähter Liebhaber.
„Was kann man da machen?“ fragte ich in die Stille hinein.
„Üben“, kam es von ihm.
„Okay“, sagte ich. „Und wie?“
„Ich gehe jetzt nach oben und komme gleich wieder mit einer Tüte Pommes und Mayo und du heizt schon mal den Ofen an!“
„Glaub bloß nicht, ich würde deinetwegen aufhören zu trinken!“, sagte ich.
„Und glaub bloß nicht, ich würde deinetwegen aufhören zu fressen!“, sagte er.
Wir verstanden uns. Alles war klar.