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Der Abendgast (bearbeitete Fassung)
Es war einer dieser Tage, die eigentlich gar keine Tage sind, und irgendwie dann doch.
Unlogisch.
Aber für mich stimmte es. Hat irgendjemand schon einmal eine alte Frau ganz alleine zwei Stunden lang, im tiefsten Schnee alleine an einer Bushaltestelle warten sehen?
Ich nicht.
Ich stand an meinem Fenster, blickte hinaus in den wintertrüben Schnee und schüttelte seit bestimmt einer halben Stunde den Kopf. Was tat diese Frau da nur?
Es hatte vor ungefähr zwei Stunden angefangen. Da war sie, gemächlich wie alte Menschen nun mal sind, mit kleinen Schritten und einer Riesentasche an jeder Hand an die Bushaltestelle gleich vor meinem bescheidenen Häuschen getreten und hatte lange und eingehend den Busfahrplan studiert.
Ich werde es gleich vorwegnehmen, es war Sonntagabend, nach achtzehn Uhr und da fuhren in unserer Vorstadtgegend keine Busse mehr.
Im Normalfall.
Auch nicht für ältere Damen mit zwei schweren Einkaufstaschen.
Wo hatte sie die überhaupt her? Am Sonntag...
Ich wusste jedenfalls nicht so recht was ich davon halten sollte, als ich eine Stunde später aus der Wanne wieder zurück war und sie immer noch dort stand und sich mittlerweile wahrscheinlich schon die Füße blau gefroren hatte. Mir wäre sogar fast die Wasserflasche aus der Hand gefallen, als ich sie da so stehen sah.
Ich denke, da fing das Kopfschütteln zum ersten Mal an. Nur so ein kleines am Anfang, aber nachdem ich mir dann etwas zum Essen gemacht hatte – Pizza à la Dr. Oetker – und sie noch immer dem immer stärker werdenden Schnee trotzte, hatte ich meinen Kopf nicht mehr unter Kontrolle.
Und nun saß ich hier, hatte meine Singleküche in Ordnung gebracht, die Heizung aufgedreht und sah hinaus auf diese wahrscheinlich Irre, die am Sonntagabend alleine an einer Bushaltestelle saß (sie hatte sich wahrhaftig auf die eiskalte Stahlbank gesetzt) und auf irgendetwas zu warten schien.
Nur wartete sie da vergebens.
Leider.
Sollte ihr das nicht jemand sagen?
Wer ich?
Wieso denn? Ich sah nicht so recht ein, warum ich mich in dieses Sauwetter begeben sollte nur um einer alten Frau klarzumachen, dass sie wohl nicht ganz dicht im Kopf war und sie lieber nach Hause gehen sollte bevor sie sich in ernsthafte gesundheitliche Gefahr begab. Wenn sie wenigstens lesen konnte, dann hatte sie wohl auch dem Fahrplan entnommen, dass der letzte Bus in die Stadt um 17.57 fuhr und danach die Strecke tot war. Und zwar bis exakt 4.47 Uhr am nächsten Morgen.
Das wusste ich, sehr genau sogar, dieser Bus ersetzte mir sozusagen den allmorgendlichen Wecker, wenn sie verstehen, was ich meine.
Wie auch immer, ich hatte gesehen wie innig sie den Fahrplan studiert hatte und konnte mir einfach keinen Reim darauf machen, warum diese alte Dame nun immer noch dort saß und kein Wässerchen trüben konnte.
Während mein Kopf sich von alleine weiter hin und her drehte fragte ich mich ob die Nachbarn unseren seltsamen Abendgast wohl schon bemerkt hatten. Was würden die wohl denken?
Die Ganters von gegenüber hatten sie bestimmt bemerkt. Denen entging nichts. Ich würde mich ehrlich gesagt nicht wundern, wenn ich eines Tages erführe, dass Herr Ganter früher bei der Stasi war. Ehrlich, diese Menschen – und es schien sich auf die ganze Familie auszuwirken – hatten einen ernsthaften Knall.
Ich weiß, keine Vorurteile und so, aber ich hasste diese Menschen. Ich hasste sie so sehr, dass ich mich dazu zwang, jeden Abend ja jede einzelne Jalousie herunterzumachen und dabei aufs Genaueste darauf zu achten, dass auch kein Spalt offen blieb. Herr Ganter hatte mich eines Tages gefragt, wie ich mir denn in meinem Alter schon ein eigenes Haus leisten könne. Ich hatte damals in meinem jugendlichen Leichtsinn geantwortet, das Geld käme aus dem Bordell meines Vaters, außerdem verkauften sich Drogen ziemlich gut unter den Jugendlichen.
Glauben sie mir, er hat noch nicht einmal den Mundwinkel verzogen.
Wie dem auch sei, ich hasste die Ganters und basta.
Fast so sehr wie ich meinen direkten Nachbarn, Herrn Eisel, liebte.
Herr Eisel war fünfundachtzig Jahre alt und lebte bestimmt schon seit einer Million Jahren in dem netten kleinen Vorstadthaus nebenan. Als ich damals, vor drei Jahren hier eingezogen war, da war er der erste, der morgens früh um sechs, als der Laster in die Einfahrt rollte, zu mir herüber kam und sich anbot zu helfen.
Ich hätte damals beinahe losgelacht, dieser Greis, der mir anbietet meine Eichenmöbel zu tragen?
Ich musste sein Angebot aber natürlich annehmen, wenn ich nicht gleich am ersten Tag in der Nachbarschaft verhasst sein wollte.
Sie glauben mir nicht, was dieser alte Mann, mit seinen damals zweiundachtzig noch alles schleppen konnte. Mein alter Schreibtisch aus Studiumszeiten, der über hundert Kilo wog, stand in Nullkommanichts in meinem Arbeitszimmer und auch die restlichen Möbel bekamen wir gut hoch.
Danach meinte er nur augenzwinkernd: „Hätten sie einem alten Knacker wie mir nicht zugetraut, was?“
Ich hatte nur gelacht.
Mein Kopf schien sich zu fangen. Er fixierte die alte Frau, die immer noch die Haltestelle in Beschlag nahm und sich wohl ernsthaft vorgenommen hatte, diese Nacht zu erfrieren. Es war nun beinahe neun, mitten im Januar und es war, verzeihen sie mir den Ausdruck, arschkalt. Und wenn ich arschkalt sage, dann meine ich arschkalt. Sibirien war nichts dagegen, geschweige denn meine geliebte Tiefkühltruhe.
Langsam fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Was tat diese Frau hier? War sie wirklich psychisch krank? Und musste man ihr dann nicht helfen?
Warum taten denn die sonst so pflichtbewussten Ganters nichts? Was war denn aus dem guten Staatsdiener geworden? Ein Blick hinüber und meine flache Hand knallte gegen meine Stirn.
Ein Wort: Skiferien.
Herr Ganter hatte noch groß geprahlt, die Kinder würden jedes Jahr besser und dieses Jahr würden sie schon alleine, ohne Skikurs, auf der Piste unterwegs sein können. Wie toll, hätte ich am liebsten gesagt, erzähl’s mir nächstes Jahr, vielleicht hab ich da mal n guten Tag und interessier mich dafür.
Ich hatte meine Klappe gehalten. Versteht sich, du kannst dir solche Kommentare als Rechtsanwalt einfach nicht leisten.
Die Frau saß noch immer dort, unbeweglich, blickte weder nach rechts noch nach links und irgendwie erschein sie mir apathisch. Ich weiß nicht, vielleicht spielte mir auch nur meine Fantasie wieder einmal einen Streich, aber es kam mir ernsthaft so vor, als sei diese alte Dame in eine Art Delirium verfallen. Ihr Oberkörper begann nun sanft hin und her zu schwingen und ihr Kopf wippte seltsam auf und ab.
Was für ein scheiß Tag. Ich traute meinen Ohren nicht, als sie plötzlich auch noch zu singen anfing. Ich befand mich, wohl gemerkt, noch immer in meiner Küche hinter guten deutschen Doppelglasfenstern und konnte sie dennoch hören. Nur so viel zur Lautstärke, mit der sie schräg ihre Stimme erklingen ließ.
Ich konnte all das gar nicht fassen. Das war doch ganz einfach zu abstrus und surreal als dass es wahr sein konnte. Da saß diese Frau auf dieser verdammt kalten Bank, wippte mit dem Kopf auf und ab und sang aus voller Kehle. Ich hatte etwas ähnliches schon einmal in einem uralten Horrorstreifen gesehen...aber lassen wir das.
Ich war mir auf jeden Fall sicher, dass die Nachbarn das auf gar keinen Fall überhört haben konnten.
Irgendwer würde sich schon um diese arme Irre kümmern. Vielleicht Frau Kühnlein, die war sowieso immer so hilfsbereit und Krankenschwester noch obendrein, die würde sich schon irgendwann aufraffen und dieser Verrückten zur Hilfe kommen.
Mein Körper entspannte sich. Ich war raus aus der Sache, es ging mich nichts mehr an. Mühsam unterdrückte ich ein Gähnen und mit Blick auf meine nagelneue Küchenuhr beschloss ich, ins Bett zu gehen.
Zehn Minuten später lag ich, zufrieden in meine Decke eingehüllt in meinem warmen Bett und schloss die Augen.
Meine Gedanken schweiften zu der alten Frau, die ich im Moment nicht mehr hören konnte, woraus ich schloss, dass sich wohl jemand ihrer angenommen hatte. Arme Irre.
Mitten am Sonntagabend mir zwei Einkaufstaschen an der Bushaltestelle warten und dabei singen wie eine Krähe. Mir entglitt ein leises „Ts“ ob der Absurdität der Situation. Und vielleicht auch aus ein wenig Verachtung heraus, aber das hätte ich natürlich nie zugegeben.
Mir war es jetzt egal. Sie störte mich nicht mehr in meiner kleinen Welt, ich konnte sie auch nicht mehr hören und sie saß jetzt bestimmt irgendwo in dem kleinen warmen Wohnzimmer von Frau Kühnlein und ließ sich deren, in der Nachbarschaft berühmten, Kakao schmecken, während sie auf die grüne Minna wartete.
Mich ging sie nichts mehr an und damit hatte sich die Sache.
Zufrieden, mich innerlich auf die neue Woche vorbereitend, schlief ich ein.
Der nächste Morgen war unheimlich.
Es war ganz still im Viertel, die Schneeflocken fielen geräuschlos vom Himmel und bedeckten den kalten Boden mit weißem Puder. Irgendwo bellte ein Hund, aber seltsam war, dass ich keinerlei Autos, geschweige denn Menschen auf der Straße sah. Normalerweise war um diese Zeit im Viertel Hochbetrieb, alle gingen zur Arbeit oder zur Schule.
Heute war überhaupt nichts los. Das einzige Geräusch, das mir zu Ohren kam, als ich zur Bushaltestelle ging war der knirschende Schnee unter meinen Füßen. Der Hund hatte aufgehört zu bellen und Stille umfasste mich.
Ich schüttelte mal wieder den Kopf und trat an die Haltestelle.
Überall lag Schnee, die Bank war mit einer meterhohen Schneeschicht bedeckt und auch der Gehweg machte es einem nicht gerade leicht darauf zu gehen, doch ich sah die alte Frau sofort, die da vor meinen Füßen im Schnee lag, ihre Einkaufstaschen neben ihr, und sich nicht mehr rührte.
Ich fing an zu zittern. Was tat die denn noch hier?
War sie tot? Das konnte doch gar nicht wahr sein. Ich beugte mich zu ihr hinunter, fühlte ihren Puls. Sie war tot.
Tot!
Was war hier passiert, hatte sich denn wirklich niemand für sie interessiert? Was war denn nur los mit dieser Nachbarschaft?
Ich blickte mich um. Versuchte, irgendwo ein Gesicht hinter einem Fenster zu erkennen, doch es war keiner da.
Keiner da.
Niemand interessierte es, dass diese alte Frau hier im Schnee lag.
Schwindel überkam mich.
Ruf die Polizei, kam es mir in den Sinn.
Nein, das konnte ich nicht tun, ich war ja sozusagen schuld an ihrem Tod.
Schuld?
Ich war schuld? Wieso? Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich war nicht schuld, im Leben war ich nicht für den Tod dieser Irren verantwortlich. Sie war selbst für ihr Leben verantwortlich, jeder war selbst für sich verantwortlich.
Oder?
Da überkam mich plötzlich dieses Gefühl, dieses Gefühl, wenn man instinktiv weiß, dass man etwas falsch gemacht, aber es mit dem Verstand zurückzudrängen versucht. Man kämpft und kämpft gegen sich selbst, bis man schließlich davon überzeugt ist, nichts Schlimmes getan zu haben.
Ich hatte nichts Falsches getan. Basta.
Und doch lag sie hier.
Was sollte ich tun? Tausend Gedanken rasten in meinem Kopf hin und her. Würden sie mich wohl wegen unterlassener Hilfestellung anzeigen? Oder was, wenn ich einfach sagte ich hätte sie heute morgen hier gefunden?
Würden sie mir glauben? Und warum, verdammt noch mal, war hier niemand auf der Straße?
In meinem Kopf drehte sich alles. Ich blickte weg von der Toten - dass sie tot war, daran bestand für mich kein Zweifel - und ehe ich mich versah, fand ich mich wieder in meinem Bett, weich in warmen Federn gebettet, den Sand noch in den Augen.
Verwirrt richtete ich mich auf, blinzelte, rieb mir die Augen. Konnte das wahr sein? War alles nur ein Traum gewesen?
Mit einem Satz, der wohl jeden Leichtathleten hätte alt aussehen lassen, war ich am Fenster und sah hinunter zur Bushaltestelle.
Ein Seufzen erklang aus meinem Hals als ich mit unglaublicher Erleichterung feststellte, dass draußen weder besonders viel Schnee lag, noch die Straße übermäßig verlassen war. Schräg gegenüber holte Herr Buhl gerade seinen Mercedes aus der Garage und weiter drüben standen Frau Bader und ihre Nachbarin Frau Müller beieinander und hielten ihr allmorgendliches Schwätzchen.
Die Bushaltestelle war ebenfalls besetzt, jedoch sah ich weder alte Frau noch irgendwelche mysteriösen Einkaufstaschen oder dergleichen.
Mein Körper entspannte sich. Ein Traum.
Nur ein Traum.
Das konnte doch wirklich nicht wahr sein. Du Esel, schien ich zu mir selbst zu sagen. Du elendiger Esel, was du dir wieder für Sachen einbildest.
Mit fröhlichem Pfeifen saß ich eine dreiviertel Stunde später am Frühstückstisch und ließ mir meine Cornflakes schmecken. Danach fuhr ich in die Kanzlei, winkte dabei noch Herrn Eisel gutgelaunt zu und machte mich an die alltägliche Arbeit.
Als ich nach einem sehr ertragreichen Arbeitstag am Abend wieder in meine Straße einbog, hatte es doch noch geschneit und alles war in ein träumerisches Winterweiß getaucht. Ich freute mich auf meine Wanne und machte schon Pläne für das Fernsehprogramm, als ich plötzlich die alte Frau wieder sah.
Augenblicklich stand ich auf der Bremse und kam nach einigem Rutschen direkt vor der Bushaltestelle zu stehen, wo sie sich wieder auf die Bank gesetzt hatte und einmal mehr auf irgendetwas oder irgendjemanden zu warten schien.
Meine Laune schlug schlagartig um. Passierte das hier wirklich? Träumte ich schon wieder? Ich hatte noch nie Tagträume gehabt, aber wer wusste schon was...
Verdammt, hör auf damit, mahnte ich mich selbst innerlich. Dies war alles logisch zu erklären. Wahrscheinlich war sie gestern doch noch nach Hause gegangen und kam eben heute wieder hierher, wusste der Himmel warum, aber ich war mir nun ganz sicher, dass sie nicht ganz klar im Kopf sein musste. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.
Oder doch?
Ich nahm all meine Kraft zusammen, versuchte tief auszuatmen und drehte schließlich meinen Kopf zur Seite, bereit dem Grauen ins Gesicht zu blicken.
Ich weiß nicht so recht, was ich erwartet hatte zu sehen, vielleicht zwei verdrehte Augen, in denen nur noch das Weiße zu sehen war, oder eine ekelhafte Fratze irgendeines Zombies, jedenfalls kann ich nur sagen, dass mich überraschte, was ich sah.
Die alte Dame hatte sehr, sehr tiefe Augenhöhlen, die über einem schmalen Mund saßen und von deutlich eingefallenen Wangenknochen abgerundet wurden. Sie blickte mich nicht direkt an, schien mich nicht einmal zu bemerken und doch konnte ich ihre traurigen Augen genau erkennen.
Sie war nicht im geringsten Furcht einflößend. Überhaupt nicht Furcht einflößend.
Wie gebannt saß ich da in meinem Wagen und musterte diese alte Frau, die mir so viel Kopfschmerzen bereitet hatte und bemerkte gar nicht, wie meine Finger immer schneller auf das Lenkrad trommelten.
Was sollte ich tun?
Was soll ich tun?
Weißt du das nicht?
Weiß ich das nicht?
Jetzt blickte sie doch noch auf, sah mir plötzlich direkt in die Augen. Ich sah nichts darin, keine Furcht, keinen Vorwurf, keinen Horror, nur Freundlichkeit. Sie sah mich freundlich an, so als wolle sie mich im Vorbeifahren grüßen.
Ihre Stirn runzelte sich ein wenig, als ich schmunzelnd weg sah.
Ich war ein solcher Narr gewesen!
Weiß ich das nicht?
Das Schmunzeln wurde zu einem Lächeln.
Ich wusste es.
Schnell zog ich die Handbremse und stieg aus dem Wagen um der alten Frau ins Haus zu helfen.