Der Adler
Es war ein bitterkalter Abend. Schnee tanzte auf Böen dem Boden entgegen. Flimmerte in den flackernden Gaslampe, wurde von den dunklen Dächern gewirbelt und verdeckte ganz Berlin unter einem immer dickeren Mantel.
Die Stadt und ihre Straßen waren von einer knisternden Spannung erfasst. Gerade erst war Weihnachten vorbei und das neue Jahr stand kurz bevor.
Kinder erkundeten, eingepackt in mehrer Schichten wollener Kleidung, an den Rockzipfeln ihrer Mütter, die Geheimnisse in den geschmückten Schaufenstern, in den Ecken und Winkeln der erleuchteten Stadt. Wichtige Herren eilten unbeirrt der Tage in ihren dunklen Anzügen die Friedrichstraße hinunter in Richtung Bahnhof. Verliebte Paare aus der Oberschicht kamen ihnen in Pferdekutschen entgegen. Die Kutscher rochen zu dieser Jahreszeit nach Glühwein mit einem ordentlichen Schuss, vermischt mit dem Aroma von schwerem Tabak aus den Ländern der verbrannten Erde.
Dazwischen schlenderten alte Damen und Herren, fein gekleidet. Auch sie hatten sich an diesen festlichen Tagen nach der Geburt des Herren dazu entschlossen, die warme Stube zu verlassen um noch einmal das pulsierende Leben im Herzen von Berlin zu erleben. Ihre Augen glänzten – gerichtet auf die Kinder, deren helles Lachen an ihr Ohr drang – oder angeregt durch Erinnerungen an diesen Ort vor Jahrzehnten, als die Gasbeleuchtung noch spärlich war und starke Kaiser das Land regierten.
Ein Mann in einem langen schwarzen Trenchcoat war vom Schiffsbauerdamm, wo vor weniger als zehn Jahren das neue Theater gebaut worden war, auf die Friedrichtstraße eingebogen. Er ließ sich von der Menge, wie in einem Fluss treiben. Er hatte kurzes blondes Haar und eisblaue Augen, bei denen einem das Blut in den Adern gefror, wenn man sie direkt angeblickt hätte. Er war ordentlich rasiert. Seine scharfen Gesichtszüge wurden nur durch wenige kleine Narben zerrissen. Markant war seine Nase. Ein wenig gebogen wie ein Haken – oder der Schnabel eines Vogels – an den er auch erinnerte. An einen Raubvogel, der ruhig aber zielstrebig nach seiner Beute durch die Luft glitt – wie er durch die Menschenmenge.
Sein Name war Karl von Kaltenburg. Er war gekommen um eine Rechnung zu begleichen – wohl die letzte in diesem Jahr. Nicht die seine, aber die seiner Arbeitgeber und damit auch die seine. Viel hatte man ihm über seinen Auftrag nicht mitgeteilt. Aber das war er gewöhnt. Es war genügend um ihn erfolgreich auszuführen, aber zu wenig um damit dem Feind helfen zu können. Meist waren die Zielpersonen Spione der Franzosen oder Engländer – oder es ging um Machtkämpfe der Geheimloggen. Einerlei. Es war immer zum Wohle Preußens, seiner Braut.
Er seufzte und zog den Kragen seines Mantels noch enger um seinen Hals. Wie gerne würde er doch nun auf Kaltenburg sitzen. Neben dem gemütlich warmen Kamin in seinem fellbezogenen Sessel. In seiner Rechten ein Glas Kognak, in seiner Linken ein gutes Buch. Zu seinen Füßen würden Frostfang und Fritz liegen. Beides erstklassige Schäferhunde – auch wenn sie schon ein bisschen betagter waren. Den Umbruch hätte er mit Karl-Heinz gefeiert. Der hatte keine Familie und war aus diesem Grund zu jeder Zeit auf Kaltenburg – selbst an den Feiertagen. Ein uraltes Gestein. Er hatte schon für seinen Vater gedient und wohl auch schon für dessen Vater. Um sein Alter rankten sich Mythen, welche er nie kommentiert hat oder wollte.
Karl genoß diese einzigartige Spannung in den Menschen an diesen Tagen. Er konnte in ihr schwimmen, sich an ihr laben, die Wünsche, Sehnsüchte und Freuden der Menschen um ihn herum so deutlich wie sonst nie spüren. Früher einmal, da war er an solchen Tagen extra in die Stadt gekommen. Aber heute, da konnte er sich in Berlin nicht mehr darauf einlassen. Zu tief hatten sich körperlose Gifte in diese Stadt gefressen und traten in Form der riesigen Schornsteine und Baracken an die Oberfläche. Sie hatten die Menschen verändert – ihm entfremdet.
Noch einmal seufzte er auf und wünschte sich nach Kaltenburg. Seine Augen scannten die Friedrichsstraße. Ihre Ecken, Winkel und toten Enden, zurückgelassen aus einem anderen Jahrhundert, machten sie zu einem perfekten Nest für Kleinkriminelle, aber auch für das Hauptquartier der örtliche Polizei. Sie war ein Korridor des schnellen Glückes und der tiefen Blicke. Ein Korridor, der einen geheimnisvollen aber sicheren Ort für Träumerein in jeglicher Richtung anbot– selbst wollüstigerer, verkörpert durch die Prostituierten in ihren langen Fellmänteln an den Straßenrändern.
Dann, endlich. Seine Augen erblickten das Gässchen. Beinahe hätte man es übersehen können. So unauffällig schmiegte es sich zwischen die Häuser. Keine einzige Gaslampe erhellte es.
Karl betrat den Schatten und damit auch die Gasse. Es war, als würde man eine andere Welt betreten. Für einen Moment schienen die Schatten zu leben.
Sein Ziel sollte das siebte Haus auf der rechten Seite sein. Keine Lichter erhellten die Fenster. Dunkle Schlünde starrten ihm entgegen. Ein verrostetes Tor verschloss ihm den Weg zu einer steinernen Treppe, die hinauf zu einer massiven Eingangstür führte. Ein früher kunstvoll darauf verarbeitetes Emblem erzählte von dem ehemaligen Reichtum der Hausbesitzer. Eine merkwürdige Gestalt mit einem langem Stab war darauf abgebildet. Wahrscheinlich waren es Patrizier gewesen. Schnell und unauffällig wie eine Katze kletterte er an den steinernen Pfosten über die Abzäunung, ohne das Tor zu benutzen. Das Quietschen der Angeln hätte die gesamte Nachbarschaft alarmiert.
Bevor er die wenigen Stufen zur Tür hinaufstieg, blieb er für einen Moment stehen und sah sich noch einmal um. Er hatte das Gefühl, als würden ihn die beiden Geschöpfe beobachten, welche in die Pfosten gemeißelt worden waren und jeden Moment zum Leben erwachen. Ihre Fratzen starrten ihn höhnisch an. Sie sahen surreal aus. Sie wandten sich um die Pfosten wie Schlangen, doch ihre mit spitzen Zähnen versehenen Mäuler ähnelten mehr Seeungeheuern. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Er konzentrierte sich und versuchte jedes Geräusch aus der Dunkelheit aufzunehmen. Doch nichts. Aus dem Gebäude vor ihm war nichts Verräterisches zu hören. Wartete man auf ihn?
In einer geschmeidigen Bewegung öffnete er die Knöpfe seines dicken Mantels. Darunter schimmerten im fahlen Lichte des Abends zwei Luger Parabellum, Kaliber 7.65. Sie würde er nur im Notfall benutzen. Ihn schickte man, weil er nicht mit solchen Waffen arbeitete.
Als er die Stufen erklomm, sah es im Scheine des wenigen Lichtes so aus, als würde seine Gestalt mit den uralten Steinen eins werden. An der Tür klärte sich dieses Phänomen. Er ging durch das dicke Holz hindurch, als bestände es aus Luft.
Es war der Kern von Preußen, über den er gebieten konnte. Stein und Holz. Tiere und Soldaten. Feuer und Blut.
Die Dielen in der Eingangshalle knarrten leise, als er auf ihnen entlang schlich. Sein Herz klopfte in der Brust. Seine Augen, der Sehkraft eines Wolfes, durchschnitten die Dunkelheit. Noch waren seine Hände im Schatten der Mantelärmel, doch nur ein falsches Geräusch und sie würden sich in todbringende Pranken verwandeln, deren Krallen selbst Stein durchschnitten.
Aus der Eingangshalle führte eine Marmortreppe in den ersten Stock. Plötzlich stockte ihm der Atem. Am anderen Ende der Halle standen zwei dunkle Gestalten – rechts und links von einer zweiflügligen Tür. Sie bewegten sich nicht. Sie standen einfach nur starr da. Warteten sie darauf, dass er etwas unternahm? Oder war er schon eingekreist? War es eine Falle? Sein Kopf ruckte herum, ohne weitere Gestalten in den Schatten erkennen. Doch das bedeutete nichts.
Da, als würde Karl selbst aus Schatten und Dunkelheit bestehen, sah es so aus, als würde er in ihnen verfließen und verschwinden. Nur einen Augenblick später tauchte er neben den beiden Gestalten wieder auf und sog scharf die Luft ein. Es waren nur zwei alte Rüstungen gewesen, die seine Nerven gereizt hatten. Vielleicht wurde er langsam einfach zu alt für diese Arbeit. Wäre ihm früher so etwas passiert? Hätten früher seine Hände gezittert?
Aufatmend trat er durch die zweiflüglige Tür. Eine Wohnstube mit einer langen Tischreihe auf der linken Seite schloss sich daran an. Holz glühte noch im Kamin. Damit stand fest, dass zumindest vor kurzem noch jemand in diesem Raum gewesen war. Ein kalter Luftzug ließ in frösteln. Er kniff die Augen zusammen und sah über die Tischreihe hinweg. Weiße Gardinen bewegten sich sachte im Wind. Ein Fenster stand offen. Warum ließ man bei dieser Jahreszeit ein Fenster offen?
Rechts hinten im Raum befand sich eine weitere Tür. Darüber hing ein Bild. Ein Abbild des Todes mit der Sense, welcher die Sterbenden holen kam. Gerade als er durch die Tür hindurchgleiten wollte, vernahm er hinter sich ein Geräusch. Blitzschnell dreht er sich um. Doch immer noch flatterten nur die Gardinen. Vielleicht war es auch nur das Fenster gewesen.
Im Raum dahinter befand sich eine Küche. Sehr spärlich fiel Licht durch zwei klitzekleine Fenster hinein. In den Schatten schienen riesige Monster zu leben – zumindest in seiner Fantasie. Auf der anderen Seite des Raumes standen mehrere Weinfässer. Eines war angebrochen. Tropfen hatten sich an dem Hahn gesammelt. Er streifte sie ab und probierte sie. Wein, halbtrocken. Zumindest war es kein Blut.
Da erst bemerkte er auf dem Boden eine hölzerne Falltür. Einen Moment überlegte er, dann packte er den eisernen Griff mit beiden Händen und zog daran. Mit einem leisen Knarren öffnete sie sich. Verstört sah er sich um. Wer immer sich in diesem Haus aufhielt, er hätte es hören können. Doch im selben Moment stellten sich seine Nackenhärchen auf und er hob seine Nase. Der süßliche Geruch von Tod und Verwesung wehte ihm entgegen. Ein normaler Mensch hätte es nicht bemerkt.
Noch vorsichtiger als davor schlich er Treppenstufen hinunter, die grob in den Stein gehauen worden waren. Unten angekommen, sah sogar Karl fast nichts mehr. Noch einmal horchte er in die Dunkelheit, dann durchwühlte er seine linke Manteltasche und holte eine Schachtel Schwefelhölzer zum Vorschein. Wenig später erhellte eines davon flackernd die Dunkelheit. Nur für kurze Zeit, doch das war genug.
Auf der rechten Seite befand sich ein großer Lehmofen. Auf der linken Site standen mehrere massive hölzerne Tische. Darauf lagen drei fahle Körper. Lange konnten sie noch nicht tot sein. Vielleicht drei, vier Tage. Todesursache unbekannt.
Kurz darauf erlosch das Schwefelholz wieder und Karl schlich zurück in die Eingangshalle. Die Wolken hatten den Mond freigegeben. Fahles Licht beleuchtete spärlich die marmorne Treppe. Ein dunkelroter Teppich führte darauf verheißungsvoll nach oben. An der Wand gegenüber der Treppe hing ein weiteres großes Gemälde. Es bildete eine in einen Umhang eingehüllte Gestalt ab, welche eine Fähre über einen Fluss geleitete, dessen anderes Ufer im Nebel verborgen war. Eine weitere Gestalt hockte zusammengekauert im vorderen Bereich der Barke. Ein leichter Schauer jagte Karl den Rücken hinunter, als er den Treppenaufgang in den ersten Stock hinaufglitt.
Und da plötzlich konnte er etwas spüren. Es war so fremdartig, dass er es überhaupt nicht einordnen konnte. Es überwältige ihn wie eine Flut und wusch seine Gedanken hinweg, als wäre er ein dürrer Grashalm.
Als er wieder zu sich kam, fand er sich wieder, wie er am Ende eines Ganges eine Tür öffnete. Der Teppich unter seinen Füßen war immer noch dunkelrot. Sich duckend, verfluchte er sich selbst. Was war passiert? Jemand hatte für wenige Meter die Kontrolle über ihn übernommen. Hatte dieser jemand seine Macht demonstrieren wollen? Doch anstatt in einer Falle war er in einer dunklen Kammer gelandet. Nur wenig Licht kam durch die Ritzen der zugezogenen Vorhänge in den Raum.
Karl atmete durch und wartete darauf, das ein zweiter Versuch unternommen wurde, seine Gedanken zu übernehmen. Aber die fremde Macht war verschwunden. Ein zweites Mal hätte er sich aber auch nicht kampflos gestellt. Er spürte wie sie sich erhoben hatten und ihn nun bewachten. Schemen, die das Auge nicht wahrnahm und doch tödlicher als fülliger Riese. Eine untote Garde preußischer Elitesoldaten. Manche von ihnen hatten schon seinem Vater gute Dienste erwiesen. Manche von ihnen hatte er auch auf den Schlachtfeldern in Polen oder 1871 gegen die Franzosen gefunden. Furcht kannten sie nicht. Nur den Sieg und Preußen.
Aber da, auf der rechten Seite, sprang ihm ein kleiner, heller Fleck entgegen. Der Ursprung war ein Schlüsselloch. Wieder begann sein Herz zu pochen. Was war es, das dort auf ihn wartete? Das sich vor seinen Instinkten so gekonnt verbergen konnte, das ihn kontrollieren konnte, das drei Leichen in seinem Keller liegen hatte und wer weiß wie viele schon in dem Ofen verbrannt hatte. Es musste mächtig sein, sehr mächtig.
Plötzlich schnellte er auf die Tür zu – wie ein Blitz – und war in ihr verschwunden. Er fand sich in einem von duzenden großen Kerzen erleuchteten Raum wieder, bereit dem Teufel höchstpersönlich gegenüberzutreten. Doch nichts und niemand machte Anstalt ihn anzugreifen. Alleinig eine junge Frau sah ihn aus aufblitzenden Augen von der anderen Seite des Raumes an. Nicht erschreckt, sondern so, als hätte sie ihn erwartet.
Um diese Beobachtung mit einer Tat zu unterstreichen, kam sie mit zwei dampfenden Bechern auf ihn zu, stellte sie in der Mitte des Raumes auf einen mit vielen Kerben verunstalteten Holztisch und winkte ihn zu sich heran.
„Du bist gekommen, um zu sterben, nicht?“
Ihre Stimme war hell, melodisch und sie sagte es, als würde sie ihn fragen, ob er Zucker in den Tee wollte. Sie trug ein dunkelrotes, mit beigen Spitzen unterlegtes Kleid. Ihre Füße waren unbedeckt. Dunkles Haar fiel ihr dezent gelockt über ihre Schultern. Ihre Haut war sonnengebräunt, ihr Lächeln lebhaft.
Einen Moment antwortete er nicht. Töte sie, sofort, erklärte eine energische Stimme in seinem Kopf, vielleicht hast du keine zweite Gelegenheit mehr. Beinahe hätte er laut gesagt, nein, Vater, noch nicht.
Tatsächlich sagt er: „Bin ich dazu gekommen?“
Sie hob die Schultern, blies in ihren Becher und schmunzelte. „Wer kann schon in die Zukunft sehen?“
Dann zeigte sie auf den Tee. „Setz dich und trink einen Schluck Tee mit mir. Er ist gut gegen die Kälte dort draußen.“
Noch einmal blickte er sich verstohlen um, dann folgte er ihrem Angebot. Der Raum passte überhaupt nicht in das Haus – als wäre er in einer anderen Realität gelandet. Der Moment, als er die Kontrolle über sich selbst verloren hatte, war er da tatsächlich nur die wenigen Meter bis zum Ende des Ganges geleitet worden? Es roch nach Vanille und nicht mehr nach Jahrhunderte altem Moder. Die Wände waren nicht kahl oder holzvertäfelt, sondern mit Tüchern bespannt. Nirgends konnte er auch nur die geringste Gefahr riechen – außer in ihr, doch wirkte sie zu geheimnisvoll und anziehend, als sie sofort zu töten. Sie war wie eine Herausforderung, die er aus Ehre nicht abschlagen konnte. Wie konnte ein Mädchen wie sie Leichen im Keller verstecken?
„Ich liebe diese Tage, da kommen immer soviel Fremde hier her und leisten mir Gesellschaft. Erzählen mir Geschichten aus fremden Ländern und großen Abenteuern.“ Ihre Augen leuchteten auf.
„Erzähl, wie hast du Weinachten vollbracht?“
Sie sprach ihn so vertraut und so keck an. So überhaupt nicht vornehm. Durch ein künstliches Am-Tee-Nippen versuchte er seine Verwirrtheit zu verbergen. Natürlich trank er nichts davon. Er wollte sich erst gar nicht vorstellen, was dort drin sein konnte.
„Ich bin nach Berlin reingefahren und habe die Messe in der [...]Kirche besucht.“, erwiderte er ruhig und blickte in ihre dunkelbraunen Augen, die an zwei schwarze Kohlen erinnerten. Diesen Kampf würde er nicht verlieren. Er hatte schon ganz andere zur Strecke gebracht. Da war das Monster in einem Mädchen nichts Außergewöhnliches.
Als würde sie seine Gedanken lesen können, lächelte sie belustigt.
„Allein?“
„Wie?“
„Allein, oder mit deiner Frau, oder mit Freunden?“
„Allein.“
Sie strich sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares zurück und zog eine Augenbraue hoch. „Wie kommt es, dass jemand wie du an Weihnachten allein in die Messe gehen muss?“
Erschreckt sah er auf seine linke Hand. Er hatte unbewusst eine Münze aus seiner Manteltasche geholt und ließ sie über den Rücken seiner Finger gleiten. War das ein Zeichen? Er hatte die Münzen immer dabei. Er legte sie den Toten auf die Augen. Vielleicht würden sie diese auf der Reise ins Jenseits gebrauchen. Vielleicht auch nicht, aber es erinnerte ihn jedesmal daran, dass selbst er vor den Lebenden und den Toten Respekt haben sollte.
Als er nicht antwortet und sich die Stille dehnte, fing sie wieder an zu erzählen: „Ich bin übrigens auch dort gewesen. Was wäre es doch für ein Zufall gewesen, wenn wir uns getroffen hätten.“
Karl lief ein Schauer den Rücken hinunter. Wo wollte sie mit diesem Gespräch hin? Wollte sie überhaupt irgendwo hin, oder wollte sie nur, dass er den Tee trank?
„Danach bin ich mit der Kutsche raus nach [...] gefahren. Nachts durch den Schnee. Da ist so eine kleine Kapelle, die von den Einwohner mit Hunderten von Kerzen beleuchtet wird. Ist beinahe schon Tradition bei mir das an Weihnachten zu machen. Der Anblick lässt in mir so einen Frieden entstehen.“
Sie sah für einen Moment verträumt in ihren Becher, dann blickte sie ihn wieder an. „Hätten wir uns in der Messe schon getroffen, dann hätten wir zusammen hinfahren können. Es ist nicht schön, Weihnachten alleine verbringen zu müssen.“
Gegen seine Willen verkrampfte sein Körper. Seine Hand hatte sich schmerzhaft um die Münze geschlossen. Eine Chance gab er ihr noch unbeteiligt zu sein.
„Hast du einen Ehemann?“
Sie schüttelte mit dem Kopf und biss sich dabei leicht auf die Unterlippe. Karl ließ sich nicht verwirren.
„Wohnt noch wer außer dir in diesem Haus? Du wohnst doch hier?“
„Nein und ja.“
Damit ist sie die Zielperson, erklärte die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Töte sie!
„Was machst du beruflich? So ein Haus ist doch sicherlich nicht billig zu unterhalten. Oder hast du eine reiche Erbschaft gemacht?“
Wie ein Jäger pirscht er sich an sein Opfer heran. Mit weitausgebreiteten Schwingen kreiste er über ihm – noch weit entfernt, aber es würde keine Chance haben zu entkommen. Allmählich legte sich die Spannung in ihm wieder. Er hatte die Oberhand gewonnen. Sie saß in der Falle, egal wie sie reagieren würde. Beinahe hätte er triumphierend grinsen müssen.
„Ich kümmere mich um Menschen.“
Natürlich, so kann man das natürlich auch ausdrücken, dachte er sich.
„Hier?“
Sie nickte.
„Also ist das hier eine Art karitative Einrichtung?“
Komm, gib einfach zu, was du veranstaltest, es gibt sowieso keinen Ausweg mehr, zischte die Stimme in ihm. Warum wollte er es überhaupt von ihr hören? Das war nicht seine Aufgabe.
Für einen Moment antwortete sie nichts. Dann beugte sie sich zu ihm vor. Ihr Kleid verrutschte leicht. Sie hatte nichts darunter an. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf ihre hellen Brüste zu starren.
„Willst du spielen?“
„Spielen?“ Was?
„Ja, spielen, Karl von Kaltenburg!“
Ohne es zu wollen, sog er scharf die Luft ein. Seine Augen irrten durch den Raum. Sie kannte seinen Namen. Also wusste sie auch, wozu er hier war. Wer spielte nun mit wem?
„Du bist der Adler. Der Preußische Adler. So nennt man dich doch, nicht? Zu Schirm und Schutz / Zu Tat und Trutz / Zu Sieg im Streit / Von Gott geweiht! Wie viele Menschen haben das wohl auf ihre Brust tätowiert?“
Ebenso hätte sie ihn mit der flachen Hand schlagen können. Woher wusste sie? Konnte sie? Wieder sah er sich um – dieses Mal panisch. Die Situation entglitt ihm. Was für ein Spiel wurde gespielt?
Töte sie! Nein, erst musste er erfahren, um was es ging. Warum sie ihn kannte. Durch seine Enttarnung war es auch zu seiner Angelegenheit geworden. Du tötest sie doch nur nicht, weil sie dich anzieht! Die Stimme seines Vaters verhöhnte ihn. Du stehst wohl auf kleine jüdische Mädchen wie sie, was?!
„Die Menschen, was machst du mit ihnen?“
„Ich fresse sie!“ Die Worte verließen beinahe genüsslich ihren Mund. Ihre Augen blitzen belustigt auf. Er konnte seinen Blick nicht mehr von ihr abwenden. Etwas Magisches hielt ihn fest. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Ohne die untote Garde zwischen ihr und ihm hätte er tatsächlich daran geglaubt, dass er dieses Haus nicht mehr lebend verlassen würde.
„Wenn du tatsächlich weißt, wer ich bin, dann ist das nicht lustig.“
Sie wurde sofort wieder ernst und nickte. „Ich verhelfe ihnen zu einem besseren Leben.“
„Vor oder nach dem Tod?“ Wozu diese Frage, er hatte es doch gesehen.
Für einen Moment sah sie ihn nur stumm an. Ihr Gesicht war zu einer Maske geworden, die etwas verbarg. Schmerz? Ungewollt wünschte er sich, er hätte die Frage nicht gestellt.
„Nach“, sagte sie leise. Für einen Moment fühlte sich die Situation für Karl surreal an und er wusste nicht warum.
„Und dazu brauchen diese Menschen dich? Wenn sie wirklich sterben wollten, könnten sie nicht einfach von einer Brücke springen, sich erhängen oder sich eine Kugel durch den Kopf jagen?“
Ihr linkes Augelid zuckte für einen Moment. Das war die einzige Regung in ihrem Gesicht. Als wäre sie zu Stein erstarrt.
„Nein, das können sie nicht. Sonst würden sie es doch machen, nicht?“
Ihre Stimme klang monoton und spiegelte die Maske ihres Gesichtes wider.
„Dazu kommt“, fuhr sie plötzlich fort, „dass sie nicht alleine sind, wenn sie sterben. Das hat mehr Wert als aller Reichtum auf dieser Welt. Ich geleite sie durch die Dunkelheit, ich kenne den Weg.“
Karl seufzte innerlich. Warum hatte man ihm diesen Auftrag gegeben? Um was ging es hier? Eine Verrückte oder eine, die nur Sterbehilfe leisten wollte? Oder beides? Aber was war mit der ungeheuerlichen Macht vor ein paar Augenblicken gewesen?
Laut sagte er: „Warum wollen diese Menschen überhaupt sterben? Ist es nicht ein Zeichen von Schwäche und Selbstmitleid? Eine Flucht vor sich selbst? Ich meine, das Leben ist nie leicht, aber warum hilfst du ihnen nicht dabei es zu meistern, anstatt sie zu töten?“
Da huschte ein trauriger Schatten über ihr Gesicht - wand sich durch die Maske hindurch an die Oberfläche.
„Und was, wenn nicht alle mit deiner Stärke geboren worden sind? Wenn ihnen Dinge passiert sind, die du dir nicht einmal in deinen Alpträumen vorstellen könntest? Wenn es Dinge sind, die sie von innen auffressen, egal wie stark sie einmal waren? Wenn es Menschen ohne Zukunft sind? Sage mir, für was sollen sie leiden? Warum soll ihnen der Weg in eine schönere Welt verwehrt werden?“
Er schwieg und sah sie stumm an. Und wieder hallte ein Gedanke durch seinen Kopf. Was machst du hier?
Sie nippte an ihrem Tee und sagte dann: „Und ist es nicht ein Zeichen von unendlicher Stärke, diesen letzten, endgültigen Schritt zu tun?“
„Oder unendliche Verzweiflung“, brummte er.
„Nun, Stärke wächst oft aus Verzweiflung.“
Plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, wenn auch ein trauriges. „Du kannst deinen Tee ruhig trinken. Ich habe ihn nicht vergiftet. Wenn du heute sterben sollst, dann nicht von meiner Hand.“
„Haben die dort unten im Keller auch vor ihrem Tod einen Tee mit dir getrunken?“
Sie nickte leicht mit dem Kopf. „Aber das hat sie nicht umgebracht.“
Zögernd griff er nach dem Becher und ihre Worte hallten in seinem Kopf nach. Währenddessen hatte sie schon wieder angefangen zu reden. „Was ist so schlimm daran? Sie fallen dem System doch sowieso nur zur Last. Ich bin keine verrückte Mörderin und bin nicht böse!“
Der Tee hatte in Karls Mund einen exotischen Geschmack hinterlassen, vermischt mit Zimt.
„Es ist nicht meine Aufgabe darüber zu richten. Du zumindest hast Preußen und das Deutsche Reich gegen dich aufgebracht. Das schaffen nur wenige und dann nicht ohne Grund.“
„Und damit auch dich?“, erwiderte sie fragend.
Er nickte weder, noch dass er mit dem Kopf schüttelte.
„Du führst die Aufgabe aus, ohne zu wissen, warum? Als du in den Raum gekommen bist, habe ich so etwas wie eine eigene Identität in dir gespürt. Aber ich habe mich wohl getäuscht. Du, du bist der Spiegel des Staates in einem Menschen. Du bist wahrlich der Preußische Adler.“
Ein heißeres Lachen entfohl ihrer Kehle.
Er blieb stumm. Töte sie endlich, zeterte die Stimme seines Vaters. Nein, noch nicht. Er hatte eine eigene Identität. Aber was wusste sie schon von Loyalität? Was wusste sie schon von Preußen? Was wusste sie von seinen Motiven?
Verzweifelt sah sie ihn an. „Spürst du es nicht? Tief in dir? Du hast die Macht. Du musst es spüren! Ihre Quelle muss es dir sagen.“
„Meine Quelle ist Preußen. Seine Wälder und Flüsse. Seine Kinder und Soldaten! Und sie sagt mir etwas anderes über dich und deine Toten!“
Schrill lachte sie auf. „Preußen? Ist es Preußen, das zu dir redet? Wo siehst du es noch? Geh einmal auf die Straße und schau sie dir an, deine Kinder. Vergiftet wurden sie von den Herren, die heute regieren.“
„Der Kaiser regiert.“
„Der Kaiser? Ja, aber als Preuße oder als Puppe? Das Reich ist mit Bismarck gegangen. Preußen stand für Ehre. Für Disziplin. Für Achtung. Für Vernunft. Wilhelm steht für Narzissmus, Hass auf andere Völker und Misstrauen. Er, sie, sind falschen Göttern verfallen. Du, mein Lieber, bist Vergangenheit. Dein Reich hat vor dir erkannt, dass seine Zeit zu ende ist. Du kannst dich nicht von primitiven Hass ernähren.“
„Denkst du, das weiß ich nicht? Aber ist das ein Grund, mich selbst zu verraten? Meinst du, du wirst davon kommen, wenn du versucht, mich zu hinterfragen? An meinen Säulen zu wackeln? Das haben schon ganz andere versucht.“
An ihrem Becher spielend schüttelte sie den Kopf. „Nein, die Würfel sind bereits gefallen. Aber für einen Moment glaubte ich“, sie schüttelte den Kopf und schnitt eine Grimasse. „Ach egal.“
Einen Moment herrschte Stille, dann brauste sie wieder auf – wie Don Quizschottes gegen die Windmühlen.
„Aber was denkst du, wie lange wirst du dich noch in Kaltenburg verstecken können. Es wird dich irgendwann einholen. Dieses Gefühl. Diese Kälte. Du weißt was ich meine. Du musst es einfach auch fühlen!“
„Und was wenn?“
„Karl von Kaltenburg, was du fühlst ist das Ende de Unseren. Unser Zeitalter ist vorbei. Aber es gibt noch Orte, an denen ist es anders.“
„Das Ende unseres Zeitalters.“ Karl lachte heißer auf. „Wie theatralisch. Ich gehöre zu keinem Zeitalter.“
Durchdringend sah er sie an. „Und wer bist du, dass du sagen kannst, unser Zeitalter.“
Einen Moment schwieg sie. „Du weißt es wirklich nicht, oder?“
Er schüttelte den Kopf.
„Wo du der Adler bist, bin ich der Fährmann. Du hättest meine letzte Fuhre sein können. Dich hätte ich auch umsonst passieren lassen.“
„Wohin hättest du mich gebracht?“
„Nach Preußen. Irgendwo in den Tiefen des Nebels hat es wieder einen Platz gefunden. Dein Vater wartet dort auf dich.“
Karl konnte spüren, wie sich die Garde um ihn regte. Er konnte spüren, wie es ihr Wunsch war, hinüberzugleiten. An ihrem Gesichtsausdruck konnte er kennen, dass sie es auch sehen musste.
Er trank den letzten Schluck aus dem Becher aus und starrte ihn für einen Moment an. Eine Stille entstand zwischen ihnen beiden. Dann stand er müde auf und zog eine der Pistolen. Seine Garde zuckte zusammen. Er konnte spüren wie sich das erste Mal überhaupt eine Idee von Wiederstand in ihnen formte. Kein Wort kam ihm über die Lippen. So viele Male hatte er sie schon gespürt. Jetzt erst erkannte er das fremde Gefühl wieder, das eigentlich so vertraut war. Nicht mehr als ein Windhauch war es manchmal gewesen, wenn er den Toten die Münzen auf die Augen gelegt hatte. Doch hatte er einen Eid geschworen. Ihn zu verletzten, wäre der Tod Preußens in ihm selbst. Es würde ihm für immer verschlossen bleiben. Denn daraus bestand es im Kern. Aber war es ihm nicht auch so verschlossen?
Er hob die Waffe. Sie blieb sitzen. Machte keinerlei Anstalten davonzulaufen. Nicht einmal Angst stand auf ihrem Gesicht. Ihre Augen blickten ihn ruhig an. Plötzlich trat ein Lächeln auf ihr Gesicht und erhellte es.
„Mach dir keine Sorgen. So war es vorbestimmt. Du bist gekommen, um dieses Mal mir den Weg zu bereiten. Aber ich hätte dich gerne davor bewahrt, dich mitgenommen.“
Noch einmal blickten sie sich an. Der Augenblick hatte so etwas Unendliches an sich. So etwas Zartes, Zerbrechliches. Ein Bild für die Ewigkeit, das doch nur für einen Moment hielt, zerstört von dem Pistolenschuss, der durch den Raum hallte. Erstarrt sah er zu, wie sie ohne ein Laut von sich zu geben in sich zusammenbrach.
Im selben Moment löste sich etwas, wie ein Bann, von ihm, er stürzte zu ihr hin und fing sie sanft auf. Ihre Augen waren noch offen. Sie blickten ihn an. So unschuldig, ohne einen Funken von Anklage.
„Danke“, hauchte sie. „Nun wirst du allein sein, wenn sie fällt und du erkennst. Der Nebel...“ Die Worte kamen unendlich leise über ihre Lippen. Wie ein leichter Wind in den Ästen. Mehr ein Wispern.
Es dauerte nur kurz, da spürte er, wie ihr kleines Herz aussetzte. Die Wärme aus ihrem Körper entfloh und mit ihr jegliches Leben.
Einen Augenblick konnte er sich nicht rühren, dann kramte er unendlich langsam zwei schwere, bronzene Münzen aus seiner Jackentasche hervor und legte sie behutsam auf ihre Augen. Doch wen sollte er damit bezahlen? Das war es gewesen, was seine Dienstherren von ihm gewollt hatten, realisierte er plötzlich, bevor das neue Jahrhundert anbrach. Preußens Wurzeln in dieser Erde entgültig kappen. Und wie hätten sie sich mehr darüber freuen können, als wenn es der Adler von Preußen selbst aufführt. Er konnte ihr Lachen hören, dass durch ihre verfaulten Zähne tönte.
Und da fiel sie, die Illusion, und es wurde kalt um ihn – eisig. Er ließ die Frau, deren Namen er nicht einmal kannte, zu Boden gleiten und stand auf. Er dachte an Alfred, an Frostfang und an Fritz. An die grünen Wälder und den morgendlichen Nebel auf den Wiesen hinter der Burg.
Mit zittrigen Fingern holte er seine goldene Taschenuhr hervor. Sie war ein Geschenk seines Vaters gewesen. Es war kurz vor zwölf.
Ein Schuss rollte durch den Raum. Etwas fiel polternd. Ein Körper glitt zu Boden. Einsam. Er riss eine Kerze um.
Es dauerte nicht lange, da brannte das Haus lichterloh – hell hinaus in die Nacht wie eine Fackel, hineinleuchtend in die neue Zeit. Eine Brücke zwischen alt und neu.
Die Flammen leckten hungrig an den umstehenden Gebäude. Bald wandelten sie sich in ein Meer, bald heiß fauchend zu einem Dämon, der in das neue Jahrhundert brandete.
In der Ferne heulten zwei alte Hunde. Eine Hand tätschelte beide. „Nun ist es vorbei“, brummte eine gebrechliche Stimme. „Sie sind vergangen. Gott steh uns bei.“
Weit, weit in der Ferne tauchte ein hölzerner Stab ins dunkle Nass ein. Wieder und wieder. Monoton. Würde es jemals ein Ende nehmen? Er wusste es nicht. Er kannte den Weg nicht. Sie konnte er nicht fragen. Sie lag immer noch reglos vor ihm auf der Barke. Die bleiche Garde hielt Wache um sie. Es gab nicht einmal etwas, in das er sie hätte einwickeln können. Wärmen konnte man sich an diesem Ort nur mit Gedanken. Es waren sie gewesen, die Soldaten Preußens, seine alten Gefährten. Sie hatten ihn aus der Dunkelheit gefischt, in der er ohne sie ertrunken wäre.
Alles war fremd und wie hinter einer Nebelbank verborgen. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Doch in ihnen brannte noch ein Feuer. Ein Gedanke. Preußen.