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Der alte Maler
Der alte Maler
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Durchschritte man den lodernden Regen und die sternlose Nacht, und ginge man die schmale Gasse zur alten Scheuer hinauf; und ließe man die hölzernen Truppenstufen unter der Schwere der Schritte erknarren und die ersten zwei Stockwerke hinter sich liegen, dann beträte man jene Welt, in der jetzt, tief in der Nacht, noch immer ein leises Licht brennt.
Es ist kalt dort in der dunklen Kammer, die nur vom fahlen Lichtschein einer einzigen Kerze erhellt wird. Auf dem Boden liegen Unmengen von Unrat; man müsste es unwillkürlich für das Zimmer entweder eines Genies oder eines Chaoten halten. Die Mitte dieses völlig unbeheizten Raumes bildet ein mannshoher Leinwandständer, der fast die Decke berührt. Ein altes Modell anscheinend; sein hölzernes Gerippe ist über die Jahrzehnte ebenholzfarben geworden. Vor ihm ragt eine Gestalt in den Raum, die, eingehüllt in einen schweren Mantel, einen Pinsel in ihren drahtigen, fast zerbrechlich wirkenden Fingern hält und diesen - als Dirigerstab und Schwert zugleich - über das Feld der Leinwand führt. Wie Tropfen, die sich langsam zu einem Rinnsal, dann zu einem See ausbreiten, lässt sie die angemischte Farbe auf die Fläche fallen; das Weiß schwindet mehr und mehr und wird mit dunklen Flecken gefüllt.
Das Gesicht des alten Mannes ist grau wie die Nacht, die hinter den sorgsam verschlossenen Fensterläden mit schweren Schritten vorüberzieht. Nur wenige, erblasste Haare fallen auf seine von ständigem Gewicht geschwächten Schultern.
Seine Augen beobachten jede Bewegung seiner dünnen Finger, doch sie sehen sie nicht. Ein altes, schmutziges Tuch schmückt den Platz unter seiner Stirn. Nie saß dort etwas anderes. Was das Fenster und die Kerze sagen, weiß er nicht, es geht ihn nichts an.
Überhaupt geht ihn wenig an. Vor der Tür zu der kleinen Dachstube türmen sich die Zeitungen. Wozu sollte er sie lesen, selbst wenn er lesen könnte.
Der Wind trägt die Geräusche eines vorbeifahrenden Zuges zu ihm hinüber. Aus der Ferne mischt sich der Lärm der Stadt in das Plätschern des Regens. Er überhört es. Es sind die Abfälle von anderen. Manch einer kam und brachte ihm ein Radio. Er braucht es nicht. Die Medien haben in ihm keinen Kunden, die Leute keinen Gesprächspartner.
Nie hat ihn das Leben der anderen interessiert. Nie hat ihn das Leben an sich interessiert. Keine Liebe füllte je sein Leben, doch so blieb ihm auch jeder Hass fern. Er schlug dem Glück die Türen zu und ließ das Pech nicht herein. Es gibt welche, die sich fragen, warum er so alt werden konnte, wo er doch keiner Arbeit nachgeht, sich um keine Familie sorgt und überhaupt so ein ganz unerfülltes Leben führt.
Das trug ihm den Namen Eremiten zu. Dabei sind wir doch alle Eremiten (sagt er in seltenen Momenten, wenn er seine Stimme erhebt) und er sei es nicht mehr als irgendjemand sonst.
War er jemals jung? Sicher war er das, aber er kann sich nicht mehr daran erinnern. In seinen Gedanken gibt es weder das Gestern noch das Morgen; es gibt nicht einmal das Heute. Wenn er hier steht und seinen einzigen, befleckten Pinsel führt, dann gibt es für ihn nur die Bewegung, die er vollendet, und die neue, die er beginnt. Dann spürt er nicht einmal die klamme Kälte, die ihm schleichend ins Gebein fährt, oder den Nagelkopf im Boden, auf den sich sein nackter Fuß presst. Dann versinkt er in den Melodien, die ihm seine Bilder malen, und ertrinkt in der Fülle von Farben, die ihm die Welt vor Augen führen. Das Alter spielt keine Rolle. Er war so wenig jung, wie er jetzt alt ist; er war immer nur Maler.
Irgendwann, wenn Stunden vergangen sind und die Kerze auf einen spärlichen Rest hinuntergebrannt ist, setzt der alte Meister mit einem befriedigten Gefühl dern Pinsel ab. Ein Tropfen Farbe fällt auf seinen Fuß. Dann betrachtet er sein Bild und lächelt.
Auf der Leinwand, aus der nun jeder Rest des Weißen verbannt wurde, fällt lodernder Regen in eine sternlose Nacht.
Das Werk des alten Malers ist gelungen.