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Der alte Mann
Etwas hatte sich geändert. An einem so unangenehmen Tag wie diesem, an dem man irgendwie zu nichts Lust hat und die Minuten sich wie Stunden hinzogen, fiel es sofort auf. Trotzdem konnte ich nicht sofort sagen was es war. Rechts auf der Wiese spielten Kinder Fußball. Daneben standen mehrere Frauen, die mindestens genauso gelangweilt waren von diesem Tag wie ich, und dies mit typischen Frauenthemen zu überdecken versuchten. Mir kamen Leute entgegen, Jogger, Fahrradfahrer, Spaziergänger. Alles war wie immer. Und doch, irgendetwas war anders. Dann plötzlich fiel es mir auf. Es war die Bank. Das war seltsam, denn nie zuvor hatte ich diese Bank registriert, was eigentlich auch kein Wunder war, denn sie stand etwas abseits von der Promenade unter einem Kastanienbaum, umgeben von Schlehenbüschen. Auf der Bank saß ein alter Mann. Er schien mich nicht zu bemerken, als ich mich der Bank näherte. Er starrte geradeaus und regte sich noch immer nicht, als ich neben ihm stand. Ich fragte mich, warum er gerade auf dieser Bank saß, denn weder war sie schön, im Gegenteil, sie war schon recht morsch und der Lack war schon lange abgesplittert, noch hatte man eine gute Aussicht. Den alten Mann schien dies nicht zu stören. Er saß ganz still und blickte mit versteinerter Miene auf die Fassaden der grauen Mehrfamilienhäuser die jenseits der Promenade in den Himmel wuchsen und heruntergekommen wirkten. Dieser Anblick trug nicht gerade dazu bei, meine Stimmung zu verbessern und so wollte ich gerade wieder gehen,
als der Mann plötzlich zu reden begann:
„Es ist schön hier, nicht wahr?“ Ich wandte mich erstaunt um und blickte dem Mann direkt ins Gesicht. Er hatte hellblaue Augen, die aus seinem kalkweißen Gesicht heraus stachen und völlig deplatziert wirkten. Sie waren das einzig lebendige an seiner Gestalt und in ihnen schien sich seine gesamte Lebensenergie zu befinden. Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte und meinte deswegen: „Ja, stimmt“. Ich bemerkte, dass das nicht genug war, um der Frage des alten Mannes zu genügen und fügte hinzu: „Wenn diese hässlichen Häuser da nicht wären.“ Der Alte nickte gedankenverloren und blickte wieder auf die Häuser. „Sitzen Sie öfters hier?“, fragte ich Neugier heuchelnd, um die Stille mit einem sinnvollen Satz zu überbrücken. „Mein ganzes Leben, so lange ich denken kann.“, kam es überraschend schnell von dem alten Mann zurück. „Dies ist das Paradies auf Erden“, fügte er hinzu, „ich kenne keinen schöneren Ort.“ Ich wollte ihm nicht widersprechen und nickte nur. „Sie glauben mir nicht?“ fragte er erstaunt, aber ohne Zorn. „Doch, doch, wenn Sie das sagen“, antwortete ich rasch. „Es ist nur, ich kenne Orte, die find ich persönlich schöner.“ „Und trotzdem sind Sie hier her gekommen, oder nicht?“ Das stimmte. Aber warum war ich bloß gekommen? „Ich hab diese Bank noch niemals zuvor gesehen, obwohl ich öfters hier her gehe. Deswegen bin ich gekommen“, dachte ich laut vor mich hin. „Ah ja“, der Alte nickte wissend. „Ja ja so ist das heutzutage“, murmelte er vor sich hin, „niemand achtet auf die kleinen Dinge des Lebens, die versteckt am Wegesrand liegen. Jeder schaut nur nach vorne, um den Horizont zu sehen, der so gerade noch hinter den Bergen auszumachen ist. Dabei sind es gerade diese kleinen Dinge, die das Leben so lebenswert machen.“ Ich nickte zustimmend, obwohl ich eigentlich gar nicht richtig gehört hatte, was der alte Mann gesagt hatte. „Aber stören Sie nicht diese Häuser, die einem die Sicht versperren?“ Der Alte schien eine ganze Weile nachzudenken und blickte mit ausdruckslosem Gesicht zu den Häusern hinüber, wobei er jedoch durch sie durch zu blicken schien. Ich wollte meine Frage gerade wiederholen, als plötzlich etwas Unerwartetes geschah.
Auf dem bleichen Gesicht zeichnete sich mit einem mal ein Lächeln ab. Zuerst zuckten nur die Mundwinkel ganz vorsichtig, aber dann wurde der Mund immer breiter und es gruben sich kleine Lachfältchen in die raue, weiße Haut und verliehen dem alten, verbrauchten Gesicht einen nie zuvor da gewesenen jugendlichen Glanz. „Nein“, sagte er unvermittelt, „überhaupt nicht. Genauso wie sie die kleinen Dinge am Wegesrand sehen, so müssen Sie auch die Großen sehen.“ „Aber das tue ich doch“, entgegnete ich. „Ich sehe diese überaus großen, dreckigen, heruntergekommenen Häuser da, die einem die Sicht rauben und ich finde ehrlich gesagt nichts was mich daran begeistern könnte.“ „Sie dürfen nicht das vordergründig Schlechte und Hässliche sehen. Sie müssen es mit anderen Augen betrachten. Stellen Sie sich vor, sie wären wieder ein kleiner Junge…“ „…Ich bin aber kein kleiner Junge mehr“, warf ich fast schon trotzig ein. Der alte Mann sah mich mit einem scheinbar ausdruckslosem Gesicht an: „Setzen Sie sich zu mir auf die Bank, ich möchte Ihnen etwas zeigen.“ Ich setzte mich zögernd auf die Bank, aber kaum hatte ich diese berührt, da durchströmte mich ein Gefühl von Zufriedenheit und innerer Wärme. „Schließen Sie die Augen“, hörte ich die Stimme des Alten neben mir. „Und nun stellen Sie sich vor, Sie wären ein Kind und diese schäbige Baracke wäre Ihre Burg. Eine mächtige Festung! Und in dieser Festung wohnen Ihre Untertanen. Auf den starken Mauern stehen Ihre Wächter um den Feind schon in weiter Ferne zu erspähen, in den Gemächern wohnt das Burgfräulein und lässt sich von Ihren Rittern verehren, während diese soeben durch das große Burgtor hinaus, zur Jagd reiten. Im Burghof kommt gerade der Händler an, der seine Ware verkaufen will und dabei Neuigkeiten aus fernen Ländern verkündet, der Bäcker öffnet seinen Laden, um die Burgbewohner mit frischem Brot zu versorgen, der Schmied schmiedet aus glühendem Eisen starke Waffen und der Bauereimeister macht sich auf den Weg um Hopfen aus dem Lager zu holen, um Bier für Ihre Soldaten zu brauen. Sie alle leben in der Burg. In Ihrer Burg!“
Nur mühsam konnte ich mich aus meinen Gedanken befreien, als der Alte sagte: „Sehen Sie? Nichts ist so schlimm, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Es kommt nur darauf an, wie sie es betrachten.“ Ich nickte und war noch immer wie in Trance, als ich mich von der Bank erhob. „Ich hoffe, ich konnte Ihre Stimmung ein wenig heben an diesem etwas ungemütlichen Tag,“ sagte der Alte.„Doch das konnten Sie, das konnten Sie sogar richtig gut“, antwortete ich. „Das freut mich“, entgegnete der Alte, „freut mich wirklich für Sie. Doch nun wird es Zeit für Sie zu gehen.“ Ich wunderte mich ein bisschen über dieses etwas abrupte Ende unserer Konversation, sagte aber nichts, sondern nickte nur. „Werde ich Sie wieder sehen?“ fragte ich mich etwas zu viel Wehmut. „Nein“, kam die sofortige Antwort. „Wozu auch? Wenn Sie einen schlechten Tag haben, denken Sie einfach an unsere Begegnung, das wird reichen.“ „Alles Gute“, sagte ich zu dem Alten, wandte mich um und ging los. Nach ein paar Metern fiel mir ein, dass ich ihn noch was fragen wollte und drehte mich um.
Doch da war kein alter Mann mehr. Da war auch keine Bank mehr. Nur ein Schlehenbusch der unter einem Kastanienbaum stand, mit Blick auf mehrere hässliche Wohnblocks, die im Sonnenlicht, das soeben durch die Wolken brach, eigentlich gar nicht mal so schlimm aussahen.
Mindestens 5 Minuten stand ich so da, ohne mich zu bewegen. Leute glitten an mir vorbei, Jogger, Fahrradfahrer, Spaziergänger, alle ohne ein Ziel, immer nur dem Horizont entgegen.
Lächelnd wand ich mich um und ging an den hässlichen Häusern weiter meinen Weg entlang.