Der Anruf
Es ist ein friedlicher Dienstagabend mitten im Juli. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages scheinen auf das kleine Städtchen in Ostdeutschland. Die Berge färben sich flammend orange und am Himmel zeichnet sich bereits das nahende Abendrot ab.
Und während draußen die Schatten nicht mehr länger werden und sich der Tag neigt, geht in einem der Häuschen Frau Schneider stetig in der Küche auf und ab, schaut zwischendurch auf die große Standuhr und murmelt vor sich hin:"Wo bleibt er nur, wo bleibt er nur, er wollte doch um Sechs zu Hause sein." Doch noch während das Pendel siebenmal ertönt, läutet plötzlich das Telefon. "Ah, das wird er sein," ruft Frau Schneider erleichtert und eilt zum Hörer.
"Ja, hallo?"
Es vergehen einige Sekunden, ehe sich eine junge Frau mit französischem Akzent am anderen Ende der Leitung meldet.
"Guten Tag, spreche ich mit Frau Schneider?"
"Ja, das tun sie", antwortet Frau Schneider in einer Mischung aus Enttäuschung und Neugier, "wer ist denn da dran?"
"Mein Name ist Simone Guerlaine. Ist ihr Mann zu sprechen?"
"Nein, tut mir leid, er ist noch nicht zu Hause, worum geht es denn?"
"Ermm..," die junge Französin zögert hörbar, weiterzureden, "es geht um eine private Angelegenheit."
"Na, also hören sie mal", antwortet Frau Schneider aufgebracht, "ich bin seine Ehefrau, bei uns gibt es keine 'privaten Angelegenheiten', alles was ihn betrifft, darf ich auch erfahren!"
"Nun ja", erwidert die junge Frau höflich, "ich bin nicht sicher, ob ihr Mann wünscht, dass sie von dieser Sache erfahren."
"Nun, da bin ich aber anderer Meinung", antwortet Frau Schneider, nun schon ziemlich wütend, "mein Mann und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Wir sind nun schon beinahe 20 Jahre verheiratet und werden auch den Rest unseres Lebens miteinander verbringen. Also - was auch immer sie meinem Mann sagen wollen, das können sie auch mir sagen!"
"Nun gut", antwortet die junge Frau langsam, "sie wissen ja wahrscheinlich, dass ihr Mann während dem Krieg für längere Zeit in Frankreich stationiert war?!"
"Ja, das weiß ich."
"Gut, dann wissen sie bestimmt auch, dass dies während einer Zeit war, als es den Soldaten beinahe unmöglich war, mit Frauen und Kindern in Deutschland in Kontakt zu bleiben, da die meisten Postsendungen ihr Ziel nie erreichten."
"Ja, das habe ich selber miterlebt, was wollen sie damit sagen?", antwortet Frau Schneider misstrauisch.
"Wie es der Zufall so will", entgegnet die Französin, ohne weiter auf Frau Schneiders Frage einzugehen, "arbeitete unweit entfernt von dem Lager, in dem ihr Mann stationiert war, eine junge Frau in einer Bar als Kellnerin. Die Soldaten gingen ab und zu dorthin, auf der Suche nach Zerstreuung und Ablenkung."
"Das ist ja wohl nur natürlich", erwidert Frau Schneider und versucht dabei so gleichgültig wie möglich zu klingen.
"Aber sicher ist es das", meint die Französin beschwichtigend. "Nun gab es sich allerdings, dass ihr Mann an einem dieser Abende einen über den Durst getrunken hatte und in seinem Rausch, der Kellnerin sein ganzes Herz ausschüttete. Diese hatte Mitleid mit dem verzweifelten Mann, dem der Krieg so sehr zusetzte und nahm ihn mit in ihre Wohnung, um ihm in diesen harten Zeiten wenigstens ein winziges bisschen Liebe zu schenken."
"Das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein, sie lügen doch!", antwortet Frau Schneider und schreit dabei beinahe.
"Sie wollten die Geschichte erfahren, nun lassen sie mich sie auch zu Ende erzählen", entgegnet die junge Frau sachlich, "Die beiden verbrachten also diese eine Nacht zusammen und trennten sich wieder, ohne auch nur den Nachnamen des anderen erfahren zu haben."
"Ich glaube ihnen kein Wort. Mein Mann hätte mich nie mit einer anderen Frau betrogen, auch nicht während dem Krieg!",
"Nun, ob sie es glauben oder nicht, aber so war es. Am nächsten Morgen wurde ihr Mann in ein anderes Lager versetzt und die beiden haben sich nie mehr gesehen. Allerdings merkte die Kellnerin ein paar Wochen später, dass sie doch mehr von dem Soldaten behalten hatte als nur den Vornamen und neun Monate später gebar sie ein gesundes Mädchen."
"Hören sie auf zu reden", entgegnet Frau Schneider und ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern, "ich will das nicht mehr hören, ich glaube ihnen nichts. Woher wollen sie das alles überhaupt wissen?"
Nun fällt es der jungen Französin merklich schwer, weiterzusprechen und man kann fühlen, dass es ihr leid tut, was sie nun sagen will, doch schlussendlich sagt sie: "Ich bin dieses Mädchen. Meine...."
In diesem Moment geht in Schneiders' Haus die Türe auf und noch während Herr Schneider das Zimmer betritt, hängt Frau Schneider den Hörer auf und wendet sich ihrem Mann zu. "Hallo Liebling, da bist du ja, ich habe mir schon Sorgen gemacht", sagt sie, während sie ihm einen kurzen Kuss gibt.
"Ja, ich wurde im Geschäft noch aufgehalten, tut mir leid. Wer war denn da am Telefon?"
"Ach, da hatte sich nur jemand verwählt. Ich werde dir dann gleich mal das Abendessen bereit machen."