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Der Anruf

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14.12.2008
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Der Anruf

Da sass sie nun. In der Dunkelheit der grossen Wohnung, allein, lediglich begleitet vom Rauschen der PC-Lüfter und der leisen Musik, die aus den kleinen Boxen drang. Die Szenerie war ihr eine vertraute geworden in den letzten Monaten. Ganze Nächte hatte sie hier verbracht. Vor dem Computer. Sie wusste um die Einsamkeit, die in den angrenzenden Zimmern lauerte. Einsamkeit sass in ihrem Wohnzimmer auf der Couch. Hatte es sich dort mit Tacos, Wein und der Fernbedienung gemütlich gemacht. Einsamkeit lauerte auch in dem leeren Zimmer, in dem sie nun manchmal ihre Wäsche trocknete. Aber die schlimmste Einsamkeit hatte sich in ihrem Schlafzimmer ausgebreitet. Sie lag auf ihrem Bett, versteckte sich in ihrem Schrank, erschreckte sie, wenn sie zur Tür hineinkam. Es hätte sein Zimmer sein sollen. Ihres, das, welches nun leer stand. Im Wohnzimmer hätten sie beide gemeinsam auf dem Sofa sitzen sollen an den kalten Winterabenden und später irgendwann einmal draussen auf dem Balkon in lauen schlaflosen Sommernächten. Gedanken an eine Zukunft, die es nun nicht mehr gab.
Ihr Arbeitszimmer war ihre Zuflucht geworden. Denn es war von Anfang an für sie gedacht gewesen. Hier hätte sie an ihrer Diplomarbeit schreiben sollen, während er nicht einmal zehn Meter entfernt an seinem Schreibtisch sass, den Kopf über den Mathematik-Büchern und die Gedanken in obstrusen Formeln, die sie nie begreifen würde.
Jetzt sass sie zwar hier, aber sie schrieb nicht. Nicht an ihrer Diplomarbeit und auch an sonst nichts. Sie hatte keine Worte mehr. Nicht für den Alltag und ebenso wenig für das Entsetzen, das irgendwann vor Wochen der anfänglichen Fassungslosigkeit und dem Unglauben gewichen war. Hingegen konnte sie sich auch jetzt noch nicht von der Vorstellung an die gemeinsame Zukunft los reissen, welche für sie so lange ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen war.
Sie hatte sich immer vorgestellt, wie sie beide in vielen vielen Jahren, bereits alt und tattrig, gemeinsam auf einer Bank sitzen würden, den Blick in Richtung Sonnenuntergang, die eigene Hand in der des anderen, lächelnd und glücklich ob des gemeinsam verbrachten Lebens.
Selbst jetzt konnte sie von dieser Idee nicht ablassen. Obwohl sie nur zu genau wusste, dass die Realität eine andere sein würde.
Sie war nicht bereit irgendeine Realität derzeit anzunehmen. Irgendwann, das wusste auch sie, würde sie in ein Leben zurückkehren müssen. In welches auch immer. Ihres würde es nicht mehr sein. Das Leben der Anderen.
Sie blickte aus dem Fenster hinaus in die Finsternis der Winternacht. Sie sah, wie ein kleines Auto startete, vorsichtig zurücksetzte und dann zu schnell davon fuhr. Ein Mensch auf der Flucht vor etwas, das sie nicht kannte.
Sie floh nicht. Sie war hier geblieben. Nicht im ersten Moment. Sie erinnerte sich vage an den Tag an dem die Nachricht kam. Nicht an das, was sie gefühlt hatte. Aber an ihren Weg. Sie war in ihr Auto gestiegen und zuerst ziellos losgefahren. Irgendwann war ihr das Meer in den Sinn gekommen und sie war immer weiter gefahren in Richtung Frankreich. Mitten in der Nacht auf einem Rastplatz hatte sie völlig erschöpft und übermüdet aufgegeben. Der Weg zurück war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen. Trauer. Hatte sie das damals schon empfunden? Jetzt ja. Inzwischen war es ein vertrautes Gefühl, das sich wie warmer Honig um alles legte. Erstickend und tröstlich zugleich.
Der CD-Spieler surrte und wechselte die Platte. Jazz. Sie hörte beinahe nur noch Jazz. Atonal, schwermütig, die Gedanken wenig belastend. Unvermutet schob sich ein anderes Geräusch dazwischen. Ein Summen, laut, erschreckend. Sie sah, dass das Telefon blinkte. Erkannte seine Nummer auf dem leuchtenden Display. Sie würde nicht antworten. Nie mehr.

 

Hallo nur ein tag,

hm... ich mag Deine Geschichte. Mir gefallen diese unaufdringlichen Geschichten, die einfach einen Ausschnitt aus Dasein und Erleben eines Menschen abbilden. Dabei muss der Spannungsbogen für mich nicht bis Anschlag angezogen sein, es muss nicht funkeln, tosen und glitzern. Leben, Alltag, schnörkellos, gut. Insofern schon mal ein Plus! :)

Eine Irritation gab es beim Lesen dann aber doch - an der Stelle mit dem "Huch?"-Effekt, den Du wahrscheinlich intendiert hast. Ich las das Thema Trauer in der Geschichte, aber nicht unbedingt Trauer wegen Verlassenheit, sondern Trauer nach dem Tod eines geliebten Menschen. In jeder Zeile schwang das für mich mit.

Sie hatte keine Worte mehr. Nicht für den Alltag und ebenso wenig für das Entsetzen, das irgendwann vor Wochen der anfänglichen Fassungslosigkeit und dem Unglauben gewichen war.

Sie war nicht bereit irgendeine Realität derzeit anzunehmen. Irgendwann, das wusste auch sie, würde sie in ein Leben zurückkehren müssen. In welches auch immer. Ihres würde es nicht mehr sein. Das Leben der Anderen.

Sie erinnerte sich vage an den Tag an dem die Nachricht kam. Nicht an das, was sie gefühlt hatte. Aber an ihren Weg.

An diesen Stellen wurde es für mich dann konkret. Durch seinen Anruf platzt diese Idee. Mein automatischer Gedanke in diesem Moment war, "was zur Hölle hat der Kerl getan, was die Protagonistin so entsetzt sein, und sooooo trauern lässt??"
Die Wendung ist also spannend, in dem Sinn, dass man anfängt sich zu fragen, was denn nun wirklich passiert ist, wenn der Typ anscheinend nicht tot ist. Man erhält keine Antwort, was ich in diesem Fall etwas unbefriedigend finde. Es ist, als sei die Geschichte am Ende plötzlich darauf reduziert (immerhin trägt sie das verblüffende Element sogar als Titel!), dass der Leser ein "Huch?"-Erlebnis hat, sieht, dass er auf der flaschen Fährte war, und ... das war's. Offene Fragen am Ende sind per se nichts Schlimmes, gerade in diesem Falle für mich jedoch wie gesagt unbefriedigend.

Noch eine kleine Rechtschreibanmerkung: "ss" steht nicht nach lang gesprochenen Vokalen, dort wie gehabt "ß" (z.B. in "Da saß sie nun").
Und zum Ausdruck: Ich finde das Wort "obstrus" ganz wunderbar, habe mich aber gefragt, ob es an dieser Stelle passt. Können mathematische Formeln skurril, unglaubwürdig oder zweifelhaft sein für jemanden, der offenkundig in diesem Bereich keine Qualifikation hat? [Wie wäre es stattdessen mit "diffizil" oder "komplex"?] War nur so ein Gedanke beim Lesen.

Gruß, Sister Vigilante

 

Hallo nur ein tag

und willkommen auf kg.de :)

Deine ruhig-traurige GEschichte hat mir ganz gut gefallen. Der Ton passt zum Inhalt.
Mich hat allerdings auch irritiert, dass der Partner, um den es hier augenscheinlich geht, nicht tot ist, sondern scheinbar irgendetwas verbrochen hat, das sie telefonisch erfahren hat.
Möglicherweise bildet sie sich das Läuten auch nur ein und weiß dies nun, ndachdem sie bereits einige Male zuvor an das telefon gegangen ist. Falls du das meintest, sollte da aber noch ein Indiz mehr im Text aufkommen.
Falls du lediglich einen Aufmerker wolltest, kannst du in auch getrost weglassen. Den braucht die kg nicht, das verwirrt nur.

Irgendwann, das wusste auch sie, würde sie in ein Leben zurückkehren müssen. In welches auch immer. Ihres würde es nicht mehr sein. Das Leben der Anderen.
Das ist sehr schön formuliert. Das letzte erscheint zu viel, ist unnötig und wird zu rasch mit dem Film des selben Titels assoziiert.

Sie sah, wie ein kleines Auto startete, vorsichtig zurücksetzte und dann zu schnell davon fuhr. Ein Mensch auf der Flucht vor etwas, das sie nicht kannte.
Schöne Stelle. Gute Parallele

Der CD-Spieler surrte und wechselte die Platte
cd und platte beißt sich

guter Einstand hier :)

grüßlichst
weltenläufer

 

huhu,
ich finde die Geschichte sehr gut. Allein schon das Bild der allgegenwärtigen, lauernden Einsamkeit ist ein gelungenes. Diese Urangst Einsamkeit kommt gut rüber.
Die Geschichte ist ausserdem schön kurz, was das Lesen ohnehin immer erleichtert :)

 

Hallo nur ein tag,

und auch von mir ein herzliches Willkommen hier auf kg.de.

Im Gegensatz zu meinen Vorrednern gefällt mir diese Geschichte nicht gar so gut. Ich kann einfach wenig mit - ich nenn es mal Menschenhüllen - anfangen. Es gibt eine sie und ein er. Keine Namen, keine Charakterisierung.

Es fällt mir schwer, mich auf die Personen einzulassen, weil ich keinen Anhaltspunkt außer ihrer Einsamkeit und der Tatsache der Trennung habe. Das wirkt sehr pauschal auf mich und so, als hätte sich der Autor nicht richtig mit der Geschichte auseinandergesetzt und wäre nicht eingetaucht.

Deine Antwort wird wahrscheinlich sein, dass du das Allgemein gehaltene so gewollt hast. Bei anderen Lesern kommt die Geschichte auch gut an, deswegen ist es wohl lediglich Geschmackssache.

Was mir unstimmig vorkommt:

Sie hatte sich immer vorgestellt, wie sie beide in vielen vielen Jahren, bereits alt und tattrig, gemeinsam auf einer Bank sitzen würden, den Blick in Richtung Sonnenuntergang, die eigene Hand in der des anderen, lächelnd und glücklich ob des gemeinsam verbrachten Lebens.

Als junges Paar denkt man eigentlich erst einmal an Dinge wie Familie gründen, die Welt entdecken usw. und nicht schon an das Alter.

Viele Grüße
bernadette

 

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