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Der Anruf
Da sass sie nun. In der Dunkelheit der grossen Wohnung, allein, lediglich begleitet vom Rauschen der PC-Lüfter und der leisen Musik, die aus den kleinen Boxen drang. Die Szenerie war ihr eine vertraute geworden in den letzten Monaten. Ganze Nächte hatte sie hier verbracht. Vor dem Computer. Sie wusste um die Einsamkeit, die in den angrenzenden Zimmern lauerte. Einsamkeit sass in ihrem Wohnzimmer auf der Couch. Hatte es sich dort mit Tacos, Wein und der Fernbedienung gemütlich gemacht. Einsamkeit lauerte auch in dem leeren Zimmer, in dem sie nun manchmal ihre Wäsche trocknete. Aber die schlimmste Einsamkeit hatte sich in ihrem Schlafzimmer ausgebreitet. Sie lag auf ihrem Bett, versteckte sich in ihrem Schrank, erschreckte sie, wenn sie zur Tür hineinkam. Es hätte sein Zimmer sein sollen. Ihres, das, welches nun leer stand. Im Wohnzimmer hätten sie beide gemeinsam auf dem Sofa sitzen sollen an den kalten Winterabenden und später irgendwann einmal draussen auf dem Balkon in lauen schlaflosen Sommernächten. Gedanken an eine Zukunft, die es nun nicht mehr gab.
Ihr Arbeitszimmer war ihre Zuflucht geworden. Denn es war von Anfang an für sie gedacht gewesen. Hier hätte sie an ihrer Diplomarbeit schreiben sollen, während er nicht einmal zehn Meter entfernt an seinem Schreibtisch sass, den Kopf über den Mathematik-Büchern und die Gedanken in obstrusen Formeln, die sie nie begreifen würde.
Jetzt sass sie zwar hier, aber sie schrieb nicht. Nicht an ihrer Diplomarbeit und auch an sonst nichts. Sie hatte keine Worte mehr. Nicht für den Alltag und ebenso wenig für das Entsetzen, das irgendwann vor Wochen der anfänglichen Fassungslosigkeit und dem Unglauben gewichen war. Hingegen konnte sie sich auch jetzt noch nicht von der Vorstellung an die gemeinsame Zukunft los reissen, welche für sie so lange ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen war.
Sie hatte sich immer vorgestellt, wie sie beide in vielen vielen Jahren, bereits alt und tattrig, gemeinsam auf einer Bank sitzen würden, den Blick in Richtung Sonnenuntergang, die eigene Hand in der des anderen, lächelnd und glücklich ob des gemeinsam verbrachten Lebens.
Selbst jetzt konnte sie von dieser Idee nicht ablassen. Obwohl sie nur zu genau wusste, dass die Realität eine andere sein würde.
Sie war nicht bereit irgendeine Realität derzeit anzunehmen. Irgendwann, das wusste auch sie, würde sie in ein Leben zurückkehren müssen. In welches auch immer. Ihres würde es nicht mehr sein. Das Leben der Anderen.
Sie blickte aus dem Fenster hinaus in die Finsternis der Winternacht. Sie sah, wie ein kleines Auto startete, vorsichtig zurücksetzte und dann zu schnell davon fuhr. Ein Mensch auf der Flucht vor etwas, das sie nicht kannte.
Sie floh nicht. Sie war hier geblieben. Nicht im ersten Moment. Sie erinnerte sich vage an den Tag an dem die Nachricht kam. Nicht an das, was sie gefühlt hatte. Aber an ihren Weg. Sie war in ihr Auto gestiegen und zuerst ziellos losgefahren. Irgendwann war ihr das Meer in den Sinn gekommen und sie war immer weiter gefahren in Richtung Frankreich. Mitten in der Nacht auf einem Rastplatz hatte sie völlig erschöpft und übermüdet aufgegeben. Der Weg zurück war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen. Trauer. Hatte sie das damals schon empfunden? Jetzt ja. Inzwischen war es ein vertrautes Gefühl, das sich wie warmer Honig um alles legte. Erstickend und tröstlich zugleich.
Der CD-Spieler surrte und wechselte die Platte. Jazz. Sie hörte beinahe nur noch Jazz. Atonal, schwermütig, die Gedanken wenig belastend. Unvermutet schob sich ein anderes Geräusch dazwischen. Ein Summen, laut, erschreckend. Sie sah, dass das Telefon blinkte. Erkannte seine Nummer auf dem leuchtenden Display. Sie würde nicht antworten. Nie mehr.