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Der Anruf

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07.10.2009
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Der Anruf

„Ich..., ich kann nicht mehr! Verstehst du das, ich kann nicht mehr!“
Die Stimme klingt weinerlich betrunken, das übliche eben.
„Ich schaffe es einfach nicht. Ich werde das beenden, verstehst du, Schluss machen, endgültig!“ - schweigen.
Vor dem Fenster schwebt ein Blatt dem regennassen Boden entgegen.
„Was ist denn passiert?“
Ich versuche meine Stimme interessiert klingen zu lassen, aber ich merke, dass es mir nicht besonders gut gelingt. Mein Rücken schmerzt durch das lange sitzen und ich versuche meinen maroden Körper in eine bequemere Position zu bringen.
„Ich könnte kotzen, keiner hat mich gefragt, ob ich überhaupt hier sein will. Scheiße, wieso haben mich meine Eltern überhaupt bekommen, wenn ich ihnen sowieso egal bin?“
Jammernd und philosophierend. Die will Aufmerksamkeit, denke ich, die wird sich nicht umbringen. Schema F, miese Eltern, miese Kindheit, mieses Leben. Wenig Liebe, viel Alkohol.
„Du kannst deine Eltern nicht besonders gut leiden, oder?“
Gespräch auf sie lenken, unterstützen, abwarten. Routine.
„Meine Eltern sind arrogante Schweine, immer wollen sie recht haben! Aber die scheiß Gesellschaft ist doch sowieso völlig krank im Kopf! Bist du auch Vater? Wahrscheinlich bist du auch Vater, ein scheiß Vater, der sich das Gejammer von fremden Menschen anhört, anstatt sich um seine scheiß Tochter zu kümmern. Hast du überhaupt eine Tochter?“ Die Stimme klingt jung und aggressiv. Irgendwie vertraut. Ich fühle mich alt, ein bisschen wie ein Sandsack, auf den zu lange und zu hart eingeschlagen wurde.
„Ich versuche zu helfen, aber du brauchst nicht mit mir reden, das ist deine Entscheidung.“
Gut, professionelle Erwiderung, keine negativen Gefühle transportiert, geht in Ordnung.
„Du weichst mir aus, oder? Deine Beratung ist echt scheiße. Du... , du willst das eigentlich nicht machen, hab ich recht?“
Das Mädchen klingt wütend, wirkt aber trotzdem irgendwie verletzlich. Die Stimme erinnert mich an Julia. Es wird langsam dunkel. Ich schalte meine Schreibtischlampe an und muss blinzeln. „Doch ich helfe gerne Menschen“
Ich will sie davon überzeugen, oder mich, ich weiß nicht genau.
„Weißt du was ich mache, wenn es mir richtig schlecht geht?“ frage ich.
Ich warte keine Antwort ab.
„Ich stelle mir einen schönen Moment vor und male ihn mir so detailliert wie möglich aus. Komm, versuch es auch mal.“
Sie erwidert nichts. Ich nutze die Gelegenheit und nehme einen Schluck Wasser. Es schmeckt schal und abgestanden, aber meine Stimmbänder brauchen Flüssigkeit, sonst werde ich heißer. Vor dem Fenster sehe ich ein paar Kinder spielen, die sich einen roten Ball zuwerfen. Der Regen scheint ihnen nichts auszumachen. „Mir ist so schlecht, ich glaube ich muss kotzen.“ - es rauscht eine Weile in der Leitung - „Weißt du was ich mache, wenn es mir schlecht geht? Ich schneide mir in den Arm und beobachte das Blut.“
Das war keine Ironie, nur eine Feststellung.
„Es muss ja nicht in letzter Zeit passiert sein, überleg noch mal. Jeder hatte irgendeinen schönen Moment.“ - Sie scheint nachzudenken, ich höre nichts von ihr, mein Blick fällt auf den alten Baum, ein Stück von meinem Bürofenster entfernt. Knorrig und wulstig, aber trotz des Alters sehr kräftig.
„Ja, ich glaub ich weiß was. Aber wenn ich dir davon erzähle, musst du mir auch was erzählen. Und du musst ehrlich sein!“
Ich nicke zustimmend und füge schnell ein „Ja“ hinzu. Wie albern, während eines Telefonats zu nicken.
„Kennst du Fuchur?“ fragt sie mich.
Ich denke einen Moment nach, während ich erneut meine Sitzposition verlagere. Dann fällt es mir ein. „Ja, der Drache aus der unendlichen Geschichte, oder?“
„Genau.“ - Es scheint sie zu freuen, dass mir der Name bekannt ist.
„Ich hatte mal ziemlich Fieber als ich klein war, durfte nicht in die Schule, Grippe oder so. Ich lag den ganzen Tag im Bett und starrte die Decke an. War echt scheiße. Irgendwann kam meine Mom rein, sie hatte das Buch dabei und dann hat sie mir vorgelesen. Ich mag den Drachen, ich hab mir vorgestellt mit ihm zu fliegen, nach Phantasien oder so. Irgendwie mochte ich meine Mom für das vorlesen, verstehst du?“
Ja, verstehe ich. Ich erinnere mich, dass ich dieses Buch früher meiner Tochter vorgelesen habe, als sie noch klein war.
„Ja, ich denke schon.“
Es ist wirklich eine schöne Erinnerung, die sie da hat, dass wütende, traurige, verletzliche Mädchen.
„Du bist dran. Denk drüber nach bevor du mir eine Antwort gibst.“ - sie macht eine Pause und ich fühle mich unwohl.
„Du bist einsam, oder?“
Das ging sie nichts an.
„Ich... nein, ich fühle mich nicht einsam. Naja. Manchmal fühlt sich jeder allein, oder?“ - Das war unprofessionell.
„Du hast versprochen mir eine ehrliche Antwort zu geben, ich hab dir auch was von mir erzählt, das ist unfair!“ Sie klingt wieder aggressiv.
Ich zögere einen Moment, verdammte Ähnlichkeit.
„Okey. Ich fühle mich oft allein. Na und? Ich brauch mich nicht dafür rechtfertigen, nicht vor dir!“ - unprofessionell, schon wieder.
Mein Blick fällt auf die kleine Tonfigur, die mir Julia vor Jahren geschenkt hat. Ich schlucke hart und versuche die Erinnerungen zu verdrängen. Diese verdammte Stimme, sie klingt ihr so verflucht ähnlich! Ich kann ihr das nicht erzählen, das geht sie nichts an.
„Hey dir geht’s auch scheiße, oder? Ich dachte du wärst gestört, so ein Ökofuzzi oder ein Pfarrer oder sowas, aber irgendwie bist du schon okey. Scheiße, sogar in der Beratung nur seelische Krüppel. Aber vielleicht verstehst du mich sogar. Ich hab ein Messer, ich werde es tun, ich will nicht mehr. Alles ist so leer.“
Plötzlich sehe ich sie, ganz deutlich.
„Tu dir nichts an Julia, bitte! Lass es! Nicht noch einmal...“
„Julia? Arschloch, ich heiße nicht Julia, du kennst mich doch überhaupt nicht! Scheiße, was soll'n das jetzt, was ist das denn für eine kranke Beratung?“
Sie klingt verunsichert. Auf dem Fenster spielen Regentropfen Fang-den-Hut.
„Ich... ich hatte eine Tochter, in deinem Alter.“
- und ich war ein Scheißvater, füge ich in Gedanken hinzu.
„Lass mich dir helfen, bitte, irgendwie.“ Meine Stimme klingt hohl. „Wir finden eine Lösung...“ Ich fühle mich wie eine Taschenuhr, die von einem Riesen aufgezogen wurde. Meine Finger verkrampfen sich um den Telefonhörer. Ich warte auf eine Antwort, ich warte auf Julias Antwort. Ich kann ihren Atem am anderen Ende der Leitung hören, aber sie antwortet nicht. Draußen tanzen die Blätter wild im Wind, Menschen mit Regenschirmen drängen sich an der kleinen Bushaltestelle zusammen. Ich suche die spielenden Kinder, aber ich sehe sie nicht mehr.

Es klickt in der Leitung, sie hat aufgelegt.

 

Hallo HcSor,

und willkommen im Forum.

Ich hab vor allem ein Inhaltsproblem bei Deiner Geschichte. Ich kauf Dir die beiden nicht ab. Und deshalb lasse ich mich kaum auf die Geschichte ein. Sie wirken auf mich nicht authentisch, das sollten sie aber tun, damit Deine Geschichte den Leser erreicht.

„Ich(Leerzeichen)..., ich kann nicht mehr!

Kommt noch mal im Text vor.

Die Stimme klingt weinerlich betrunken, ...

Das kann ich mir irgendwie schlecht vorstellen. Weinerlich und betrunken.

„Meine Eltern sind arrogante Schweine, immer wollen sie recht haben! Aber die scheiß Gesellschaft ist doch sowieso völlig krank im Kopf!

Da komme ich nicht ganz hinterher. Macht die Gesellschaft - das alle Väter in ihren Augen scheiße sind? Wieso ist die Gesellschaft an ihrem lieblosen Vater schuld?

„Ich versuche zu helfen, aber du brauchst nicht mit mir reden, das ist deine Entscheidung.“

Das ist so ein Punkt, wo ich ihm niemals den routinierten Seelsorger abkaufe. Er soll ja auch nicht (über)professionell rüberkommen, aber so ungelenk ... hm.
Und dann lobt er sich auch noch für seine professionelle Antwort. Ohje.

„Du weichst mir aus, oder? Deine Beratung ist echt scheiße. Du... , du willst das eigentlich nicht machen, hab ich recht?“

Und das ist so ein Punkt, wo ich die Anruferin nicht mehr ernst nehme. Ich glaub ja, wenn Menschen sich dazu entschließen, die Nummer zu wählen, dann wollen sie vor allem eins - über sich reden. Dann haben sie den Kopf voll mit ihren eigenen Sorgen und wollen sich nicht um anderer Leute Dinge kümmern. Denn das ist es ja meistens. Sie fühlen sich einsam. In ihren Sorgen nicht anerkannt genug. Deshalb rufen sie ja an.
Wenn das Mädel allerdings anders ticken soll, als die meisten, dann musst Du es mir um so geschickter verkaufen. Diesen fixen Wandel von am Boden zerstört zu Angriffstaktik, kann ich bei ihr nicht nachvollziehen.

Das Thema hat durchaus Reiz, der Seelsorger, der durch seine eigene Vergangenheit eingeholt wird und "diese" dann den Verlauf der Geschichte kippt bzw. die Rollen dadurch verdreht werden. Aber dazu bräuchte es aus meiner Sicht sehr viel Fingerspitzengefühl für den Dialog.

Reine Dialoggeschichten empfinde ich als sau schwer. Man muss alles über den Inhalt der Worte transportieren und da muss dann eben auch jedes Wort sitzen, die Stimmlagen und Gestiken, die hinzukommen - in ausgewählter Schlichtheit - aber heftig, die Sache abrunden.

Soweit meine Gedanken.
Dir hier noch viel Freude am Lesen, Kommentieren (der Lerneffekt dabei ist nicht zu unterschätzen ;)) und natürlich am Schreiben.

Beste Grüße Fliege

 

Hallo HcSor,

mir hat deine Geschichte gefallen. Ich kam gut hinein und fand deine Charaktere sehr glaubwürdig. Die Gefühle des Beraters kamen sehr gut rüber, die Angst, Sorge, ja sogar Panik und auch die Schuldgefühle in Bezug auf die eigene Tochter. Es ist eine Geschichte aus dem Leben, bei der der Leser das GEfühl bekommt, dass manches im Leben leider zu spät erkannt wurde. Also eine Geschihcte der Traurigkeit über versäumte Handlung.
Sie ist menschlich und gut nachvollziehbar.
Therapeuten sind eben auch nur Menschen - und haben alle ihre Macken und manchmal auch Leichen im Keller...

Lg

Anna

 

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