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"Der Apfelbaum" oder "Das Leben geht weiter"

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02.03.2005
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"Der Apfelbaum" oder "Das Leben geht weiter"

Der Apfelbaum
oder
Das Leben geht weiter

Das üppige Grün der gepflegten Gärten im alten Farmsen hatte schon immer so manchen Spaziergänger verweilen lassen. Dabei zog im Frühjahr zur Apfelblüte, aber auch im Herbst zur Erntezeit ein majestätischer Baum die Blicke wie magisch auf sich. Einer blühenden oder von Früchten übersäten Krone gleich beschirmte er Sträucher und Hecken ebenso wie wilde Erdbeeren, die gleich einer zarten, dunkelrot betupften Decke den Boden überkräuselten. Im Sommer bot der Baum Schutz vor der brennenden Sonne. Den Kindern war er ein luftiger Ort für die Versuche, ein Baumhaus zu bauen.
Irgendwann, an einem Sommertag, geschah es, dass die Kinder beim Klettern einen etwas stärkeren Zweig abbrachen. Damit sich niemand daran verletzen würde, nahm die Mutter das krumme, eigentlich unansehnliche Stück Baum fort. Weil sie so schnell keine geeignete Ablage fand, steckte sie es wenige Meter entfernt vom Hauseingang in den weichen Boden.

Es mochte ein Monat vergangen sein, als Mutter und Kinder eines Morgens vor dem lieblos aus dem Boden ragenden Zweig verweilten und stutzten. Warum waren seine Blätter nicht verwelkt? Die Mutter kniff sich in die Nase, so wie sie es immer tat, wenn sie ratlos war. Ein Wunderzweig!, riefen die Kinder und umtanzten das kümmerliche, scheinbar nur mühsam aufrecht stehende Geäst. Hm! Wenn es ein Wunderzweig war, dann durfte man ihm keinesfalls ein Leid antun. Demonstrativ zog die Mutter den Häcksler auf die andere Seite des Hauses. Und die Kinder wachten fortan über das Wohl ihres magischen Schützlings wie die Engel über eine fromme Seele.

Der Winter kam. Die Kälte kroch in die Stadt, umschlich den kahlen, mageren Ast, schien ihn totfrieren zu wollen. Die Kinder betrachteten ihn mit Bangen. Immer öfter stellten sie die Frage, ob das Wunderzweiglein überhaupt eine Chance habe zu überleben. Als die Sträucher überall im Garten begannen, Knospen auszutreiben und ihr Blattwerk zu entfalten, da war die Enttäuschung groß. Denn allein der Wunderzweig ragte noch immer steif und leblos aus der Erde. Von jetzt an galt der erste Blick eines jeden Morgens dem kahlen Zweig. Die Mutter war bemüht, die Kinder zu trösten. Immer wieder zeigte sie zum anderen Ende des Gartens hin, wo auch der mächtige Apfelbaum noch ohne Lebenszeichen blieb.

Eines Abends, es war der erste warme Tag des Jahres, da tollten die Kinder noch spät über den Rasen. Ein Ball wurde geworfen. Mehrmals flog er ins hohe Geäst des ehrwürdigen Apfelbaums. Vier wache Augen folgten seinem Flug. Plötzlich brach das ausgelassene Gelärme ab. Eine Stille, die selbst dem Wind den Atem verschlug, schien den munteren Tag zum Stillstand zu bringen. Es waren die Freudenrufe der Kinder, die diese Zeitlosigkeit beendeten. Denn da oben, genau über ihnen, waren die ersten Anzeichen von Blättern zu erkennen. Ohne dass es eines Wortes der Verständigung bedurfte, rannten die Kinder zurück zum Haus. Fragend, hoffend, flehend, so suchten sie aus allernächster Nähe ihren kleinen magischen Zweig nach den jungen Boten des Lebens ab. Ja, da schienen sich tatsächlich winzige Ausbeulungen von den wenigen Ästchen abzuheben. Die rasch herbeigeholte Mutter staunte nicht schlecht, bestätigte, dass Anlass zur Freude bestünde. Auch sie schlief in dieser Nacht unruhig. Am nächsten Tag, mit den Strahlen der frühen Morgensonne, war es Gewissheit. Der Zweig hatte die Kälte überstanden. Er wurde von nun an Bäumchen genannt.

Trotz dieser wundersamen Begebenheit sollte sich die Aufregung bald legen. Die Schule und das tägliche Einmaleins kehrten zurück in den Lebensmittelpunkt der Familie. Niemand erwartete Früchte an dem Wunderbäumchen, war es doch noch viel zu klein. Überdies hatten Fachleute gesagt, dass er wohl nie Äpfel tragen würde.

Jahre gingen dahin. Ein neuer Herbst kündigte sich an. Zwischen den Blättern und Zweigen des alten Baumes schaukelten große, von der Sonne gerötete Äpfel im Wind. In dieser Zeit, so unspektakulär wie ein welkgelbes Blatt im Oktober, flatterte ein schmuckloser Brief ins Haus. Es sollte sich herausstellen, dass er alles andere als bedeutungslos war. Lapidar teilte das Hamburger Liegenschaftsamt mit, dass mit der Bebauung vieler kleiner, schon vor Jahren abgetrennter Grundstücke begonnen werden sollte. Schade, dachten die Bewohner der Siedlung. Denn das Land, das einst zu ihren Gärten gehörte, war bislang noch frei zugänglich und konnte anstandslos genutzt werden. Man zuckte mit den Schultern und richtete sich auf die kommende Einschränkung ein. Das, was die Stadt auf so bürokratische Weise "Verdichtung" nannte, war schließlich nicht abzuwenden.

Dass der alte, stolze Apfelbaum auf einem der neu geschaffenen Grundstücke stand, störte fast niemanden. Nur die Familie, zu deren Garten er zuvor gehört hatte, klagte still. Da half es auch nicht, dass fast die Hälfte der mächtigen Baumkrone die Grundstücksgrenze überragte und Fallobst zu erwarten war. Wirklichen Trost spendete allein die Besinnung auf den kleinen, einst mit so viel Liebe bedachten Ableger. Wenn er auch krumm und unansehnlich gewachsen war, hatte er doch inzwischen auf die stolze Höhe von fast drei Metern erreicht.

Im Frühjahr, noch vor der Blüte, erschienen die ersten Baufahrzeuge. Schon eine Stunde später wurde begonnen, das Gelände hinter der noch rasch gepflanzten Weißdorn-Hecke zu roden. Dann geschah das Unfassbare. Eine Motorsäge wurde angeworfen. Keine Stunde später stand von dem inzwischen über 70-jährigen Apfelbaum nur mehr ein Stumpf. Der Eigner des kleinen neuen Grundstücks hatte befürchtet, die Wurzeln des Baumes könnten sein zukünftiges Haus beschädigen. Danach herrschte entsetztes Schweigen in der Siedlung.

An diesem Abend standen die um einige Jahre älteren Kinder hinter dem Haus und blickten starr auf die tote Leere, die noch in der Frühe von dem alten Apfelbaum belebt worden war. Es dunkelte schon, als die Mutter zu den trauernden Kindern trat. Sie führte sie nicht ins Haus, sondern geradewegs zu dem Abkömmling, dem jungen, unansehnlichen Bäumchen. Plötzlich, während sie so dastanden, war eine eigenartige Spannung zu verspüren. Fast schien es, als kündigte sich ein Gewitter an. Doch hatte es seinen Ursprung nicht in der Elektrizität aneinander reibender Luftschichten, sondern ganz offensichtlich hier irgendwo im Garten. Verwirrt von den eigenen Empfindungen ging die Mutter voran ins Haus und achtete sorgsam darauf, dass die Fenster geschlossen blieben.

Am folgenden Morgen durchquerten die Kinder den Garten mit demselben Elan wie an anderen Schultagen auch. Doch die rüstige Nachbarin, die zur Rechten wohnte, hielt sie auf. Mit den Armen fuchtelnd, machte die alte Dame auf sich aufmerksam. Auf sich? Nein! Unzweideutig zeigte sie herüber auf das schmächtige Bäumchen. Flüchtig, mit den Gedanken schon in der Schule, folgten die Kinder ihrem Hinweis. Dann blieben sie wie angewurzelt stehen, wollten zunächst nicht glauben, was sie sahen. Hell glänzten im Morgentau zarte kleine Blüten zwischen den frühlingshaften Blättern am dürren, lichten Geäst.

Endlich verstanden die Kinder die Botschaft. Sie holten die Mutter herbei. Gemeinsam bestaunten sie das, was auch von vielen Anwohnern und Spaziergängern schon bald als neues Wunder bezeichnet wurde. Und in Gedanken an den alten, ehrwürdigen Apfelbaum dachte die Familie schon jetzt an den Herbst. Denn dann, wie auch in all den vergangenen Jahren, würde es Äpfel zu ernten geben.

 

Hi Aboreas,

eine nette kleine Geschichte, die du aber leider nur in Erzählform geschrieben hast.
Lebendiger wäre sie, wenn eines der Kinder, oder die Mutter, dass Ganze erlebt hätte. Mit Gedanken und Gefühlen.
So klingt es fast wie ein Märchen, das man Kindern am Bett erzählt.

Trotzdem hat es mir gefallen, wie du beschreibst, dass das Leben immer weiter geht, wie der Mutterbaum, seinem "Kind" die Kraft gibt und er später, sein "Leben" auf ihn überträgt.

Und, herzlich Willkommen auf KGde :)

Hoffe bald noch mehr von dir zu lesen.

lieben Gruß, coleratio

 

Hallo aboreas,

wie nennt man das? Ein realistisches Märchen? Denn der Kreis von Leben und Tod ist letzlich auch immer wieder ein Wunder. Und so entsteht auch in deiner Geschichte das Wunder des Lebens neu, trägt neue Früchte und neue Samen, die ihrerseits wieder Leben geben können.
Mich störte die Erzählform nicht. Zu einem Märchen fand ich sie passend. Allerdings hätte ich als Rubrik eher Alltag gewählt, denn in dem leichten Stich zur Bürokratie lag mich nicht genug Gesellschaftskritik. Die hätte zu dieser Geschichte ja auch nicht gepasst. Da hätten die Bewohner Farmsens ja mit Plakaten und Parolen vor dem Mutterbaum stehen müssen, um seine Abholzung zu verhindern. ;)

Mir hat die Geschichte gefallen.
Lieben Gruß, sim

 

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