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Der Außenseiter
Die Straßenbahn fuhr ruhig und gleichmäßig. Michael saß zurückgelehnt, meditierend in seinem Sitz. Alles ruhig und friedlich. Zu dieser frühen Stunde waren erst ganz wenige Leute unterwegs. Draußen verhieß die rot aufgehende Sonne einen heißen Augusttag. Eigentlich ganz gemütlich sagte er sich, doch irgendwie hatte er ein flaues Gefühl im Magen, da er wußte, dass dieser Zustand nicht lange anhalten würde.
Fünf Minuten später musste er sich erheben, und ging an den anderen wenigen Fahrgästen vorbei, zur Tür, um an der nächsten Station auszusteigen. In der nähe der Tür stand ein müde dreinblickendes Mädchen, das wohl doch ein paar Jahre jünger zu sein schien als Michael. Irgendwie erinnerte sie ihn an das Mädchen, das er so gerne hätte, bei dem er aber nicht landen konnte.
Nachdem er die Straßenbahn verlassen hatte, und eine Zeit lange unterwegs war, kam er an der weiterführenden Schule vorbei, die er selber besucht hatte. Er war ein Schüler, der sich zwar, wie es einige seiner früheren Lehrer formulierten, redlich bemühte, dem das Lernen jedoch sehr schwer viel. Er konnte sich einfach nicht über einen längeren Zeitraum konzentrieren. Manche mit denen er darüber sprach, äußerten die Vermutung das dies vielleicht seelische Ursachen hätte, andere führten es auf mangelnden Fleiß zurück, Dritte sahen wiederum andere Gründe. Letztlich half Michael damit keiner dieser altklugen Leute. Schließlich musste er die Schule, obwohl er sich fast tot gerlernt hatte, mit einem katastrophalen Abgangszeugnis verlassen, und unterschrieb einen Lehrvertrag als Schlosser.
Als er nun die, jetzt in den Ferien, und zu dieser frühen Stunde, noch völlig leblos wirkende Schule betrachtete, dachte er an andere Jungen, die er kannte. Sie schliefen jetzt wohl noch, würden später vielleicht mit ihren Freundinnen ins Freibad gehen, abends vielleicht mit ihnen eine Pizza essen gehen, oder sonst irgendetwas mit ihnen machen. Sie waren eben nicht nur gut in Schule oder Beruf, sondern waren meist auch humorvoll, und kamen gut bei Mädchen an. Michael dagegen wirkte in sich gekehrt und ernst. Er galt schon immer als Außenseiter, ohne Selbstbewußtsein, und hatte schon früh gemerkt, dass die Mädchen nur über ihn lästerten. Die einzigen Frauen die ihn bewundeten, waren neben seiner Mutter, seine Großmutter, und seine kinderlos gebliebene Tante.
Michael sah das Werktor vor sich. Ihm stand in langer harter Arbeitstag, in der heißen Fabrikhalle bevor. Statt mit einer Freundin, oder anderen netten jungen Leuten den Tag zu verbringen, hatte es der sensible Junge hier mit grobschlächtigen, brummigen Kerlen zu tun, oder mit Burschen in seinem Alter, mit denen man sich nur über Saufereien, Gewaltvideos oder bestenfalls über Fußball unterhalten konnte.
Während ihm all dies durch den Kopf ging, erreichte Michael die Umkleidekabine der Fabrik in der er arbeitete. Er zog seinen Blaumann an, und fragte sich was wohl seine früheren Klassenkameraden sagen würden, wenn sie ihn so sehen würden. Schließlich erreichte er die Tür der Fabrikhalle. Ihm war als wenn er im nächsten Moment die Pforte zur Hölle durchschritt.