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Der Aufbruch
Exakt 157 Schritte sind es von Herbert Winkelmeiers Wohnung zu seiner Bushaltestelle. Diese trifft er jeden Morgen an, um mit dem Bus nach sieben Haltestellen an seinem Arbeitsplatz zu gelangen. Herbert Winkelmeier arbeitet in einer großen Fabrik. An einem Fließband schraubt er stets täglich die gleichen Teile an die vorbeirollenden Autos an. Er beherrscht es wie kein anderer mit seinen 30 Jahren Berufserfahrung. Nach der Arbeit macht er es sich zu Hause vor dem Fernseher gemütlich und schläft dann irgendwann ein.
Auch heute, denkt er, wird sein Tag nach dem ständigen gleichen Muster vorübergehen. Und die Freude auf den Sonntag, den Urlaub und die Rente erfüllen seinen Tag. Noch vier Tage bis zum Wochenende, noch drei Monaten bis zum Urlaub, zwei Wochen, die er zum Ausspannen von der Arbeit nutzen will. Der Bus fährt die Haltestelle an, Herbert W. steigt ein, löst seine Fahrkarte und sitzt sich in einen leeren Platz am Fenster. Sieben Stationen, dann muss er aussteigen und die Arbeit wird beginnen und enden, wie jeden Tag. Der Bus schaukelt sanft über die glatte Straße, es ist nicht zu heiß und nicht zu kalt. Im vorderen Teil unterhalten sich zwei alte Herren mit gleichfließender, monotoner, dunkler Stimme. Der Bus ist bis auf ein paar vereinzelt sitzende Fahrgäste leer. Das summende Laufen des Motors setzt Winkelmeier schläfrig zu. Er rettet sich ein paar mal vor dem drohenden einnicken seines Kopfes, doch er kann es nicht mehr verhindern. Er fällt in einen sanften und leisen Schlaf ohne an irgendetwas zu denken oder irgendetwas zu fühlen.
Plötzlich fährt ein Ruck durch seinen Körper. Es reißt ihn in die Höhe. Völlig ungewohnt fällt er in Panik, Angst und Aufruhr zugleich. Er war eingeschlafen, wie konnte das ihm, der immer diesen Weg fährt, nur passieren. Wie soll er jetzt noch pünktlich zur Arbeit kommen. Was werden der Chef und die anderen Mitarbeiter über sein Fehlen sagen. In seinem inneren Aufruhr erblickt er den Fahrkartenkontrolleur. Jetzt ist es aus. Er ist viel zu weit gefahren und seine Karte ist nicht mehr gültig. Er muss hier raus. Der Bus hält an einer Haltestelle an und Herbert Winkelmeier verlässt den Bus überstürzt durch die Hintertür. Da stand er nun, alleine und zu einer Zeit, in der er eigentlich bereits in der Arbeit sein soll. Zu seinem Unglück bemerkt er, dass er seine Brieftasche und seine Verpflegung in der ganzen Aufregung im Bus liegengelassen hatte. Er schafft es nicht mehr rechtzeitig zur Arbeit und seine ganzen Wertsachen und Papiere sind weg. Jetzt ist nur noch er und die Welt. Er beschließt den zuweitgefahrenen Weg zur Arbeit zu Fuß zurückzugehen. Er schlägt die Richtung ein und setzt marschierend einen Fuß vor den anderen.
Nach einer Weile kommt er an einem großen Mietshausblock vorbei. An der Eingangstür haben sich ein paar Leute versammelt und unterhalten sich bedauernd und leicht klagend. Herr Winkelmeier geht langsamer und bleibt schließlich stehen um dem Inhalt des Gesprächen zu lauschen: „Man hat ihn eigentlich kaum gekannt“; „sah ihn nur morgens in die Arbeit gehen und abends wieder zurück kommen, dann ging er kaum noch raus“; „man hörte bei ihm immer den Fernseher laufen“; „jetzt ist er tot“; „er ist eigentlich nie in die Welt rausgekommen, war immer daheim oder in der Arbeit“; „jetzt ist er tot, einfach so.“
Da kommen die Leichenträger mit dem Sarg herab, schieben ihn in den Wagen und fahren weg. Es dauert noch eine Weile, dann löst sich die kleine Gruppe der Anwohner auf und Winkelmeier bleibt alleine zurück. Er beginnt nachzudenken. Gemeinsamkeiten mit dem Toten kommen auf. Sein Leben besteht auch nur aus Arbeit und Fernsehen. Zu mehr ist er nicht mehr bereit. Zu erschöpf ist er von der Arbeit am Abend. Was hat er schon von der Welt gesehen? Wird er auch mal so enden? Er denkt nach. Je mehr er sich seinem Arbeitsplatz nähert um so mehr denkt er über sein Leben nach. Seit 30 Jahren arbeitet er jetzt schon, 30 Jahre seines Lebens ist sein Lebensinhalt seine Arbeit. Er war immer für die Arbeit dar und nicht für sich. Jetzt steht er vor seinem Betrieb und er hat sich entschlossen. Jetzt ist Schluss mit seinem bisherigem Leben. Von jetzt an nimmt er sein Leben selbst in die Hand und lebt es für sich und nicht für andere. Nicht für den Gewinn seines Chefs und nicht für die Einschaltquoten der TV-Sender. Er beschließt sich die Welt zur Heimat zu machen und sie sich anzuschauen. Er eilt nach Hause. Packt seine nötigsten Sachen ein und macht sich auf eine große Reise die Welt zu erkunden. Seine letzte Reise und sein letzter Weg, aber einer der sich lohnen wird.