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Der Aufzug
Im Betrieb nannten ihn die meisten Carlo Ferrari; viele sogar einfach nur Ferrari. Als er vor gut einem Jahr in die Firma eintrat, versuchten einige noch seinen unaussprechlichen tschechischen Familiennamen - der mit den zwei „c“, dem „z“ und am Ende mit einem „y“ - korrekt auszusprechen, aber sie waren dem Zungenbrecher nicht gewachsen. In der Zwischenzeit war sein echter Name in Vergessenheit geraten. Ferrari passte zu ihm in jeder Beziehung. Carlo war nicht nur einer, der gern von schnellen Flundern schwärmte; er mietete ab und zu einen Sportwagen übers Wochenende, um damit über die Autobahnen und Landstraßen zu flitzen. Er konnte also mit Sachverstand und vor allem mit Erfahrung über die Vor- und Nachteile der Autos mit dem Pferdchen im Wappen diskutieren. Hier hatte er gegenüber allen im Unternehmen einen klaren Vorsprung.
Tamara allerdings hätte seinen Namen perfekt aussprechen können. Immerhin hatte sie Carlo eingestellt und kannte seine Personalakte genau. Außerdem: Als gebürtige Ungarin, mit ausgewiesenem Talent für osteuropäische Sprachen, wäre es ihr ein Leichtes gewesen. Aber auch ihr gefiel das italienische Flair, das hinter „Carlo“ steckte. Und von seinem südländischen Temperament konnte sie sich eben grad überzeugen. Voll Zärtlichkeit dachte sie an die vergangene halbe Stunde zurück, die sie gemeinsam mit dem smarten jungen Mann ungestört verbracht hatte.
Wie ein frisch verliebtes Paar gingen sie beschwingt durch den langen Korridor zum Aufzug. Pflichtbewusst machte Tamara die letzten Lichter aus. Das Bürogebäude trat seine kurze Ruhepause über das Wochenende an. Die Aufzugtüren öffneten sich mit einem sirrenden Geräusch und die beiden betraten den Lift.
Carlo betrachtete im Spiegel an der Rückwand der Kabine Tamara's Profil. ‚Schön ist die Alte ja wirklich nicht mit ihrem kantigen Gesicht mit der gegerbten Haut, den spindeldürren Oberarmen. Und der flache Hintern ist alles andere als griffig. Aber es lohnt sich, sie warm zu halten. Ich will ja im Betrieb schnell vorwärts kommen, damit ich mir bald einen eigenen Sportwagen leisten kann’, dachte er bei sich und warf ihr einen verliebten Blick zu, der sie erneut dahinschmelzen ließ. Dabei dachte er intensiv an seine jugendliche Freundin, mit der er am Sonntag eine Fahrt ins Grüne machen wollte. Seinen roten Pfeil hatte er schon vor Wochen extra dafür gebucht. Freundin und Ferrari halfen, seinem Blick noch mehr Wärme und Intensität zu verleihen.
Der Aufzug hielt, die Türen öffneten sich und sie standen plötzlich Herrn Hieber, dem Hausmeister gegenüber. Tamara und Carlo blieben wie angewurzelt im Lift stehen und der Schritt des Hauswartes kam auch ins Stocken, als er die beiden Personen im Aufzug sah. Dann schob er seinen massigen Körper in den Aufzug, sagte ein kurzes ‚Hallo’ zur Begrüßung und drückte mit routinierter Gelassenheit den Knopf neben der Bezeichnung „Erdgeschoss“. An Stelle seines blauen Arbeitsmantels trug er eine lässige Freizeitjacke, aus deren Tasche der Hals einer Schnapsflasche lugte. Er war schon auf dem Weg von der Dienstwohnung in der Firma zu seinem obligaten Kegelabend gewesen, als er entdeckte, dass in der Buchhaltung im dritten Stock noch Licht brannte und fuhr deshalb noch einmal mit dem Lift nach oben. Aber jetzt hatte er seine Pflicht getan und strebte auf dem schnellsten Weg seiner Stammkneipe zu, wo ihn seine Kegelbrüder schon erwarteten. Das Vergnügen, das ihn erwartete, war ihm wichtiger, als sich mit den beiden Personen im Aufzug zu unterhalten.
Doch dann passierte es.
Nach wenigen Sekunden Fahrt stoppte der Lift mit einem scharfen Ruck, der von einem kreischenden Geräusch begleitet wurde. Zwei-, oder dreimal federte die Kabine noch nach, dann blieb sie zwischen den Stockwerken stehen.
Der Hausmeister, der am nächsten bei der Türe stand, drückte nochmals den Knopf „Erdgeschoss“ – aber der Lift bewegte sich keinen Millimeter mehr. Er probierte es mit den oberen Knöpfen, aber auch das half nicht weiter. Sie steckten fest.
„Drücken Sie bitte die Notklingel“, sagte Tamara in ihrem singenden ungarischen Akzent.
„Aber Frau Kató, Sie wissen doch, dass das Notsystem defekt ist. Sie selbst haben meinen Antrag für die Reparaturkosten abgelehnt. Wie hätte ich es reparieren lassen sollen?“
„Dann rufen Sie den Notdienst über Handy“, warf Ferrari ein, der als moderner Mensch ständig mindestens ein Handy in der Tasche hat.
„Mein lieber Herr Ferrari, glauben Sie wirklich, ich hätte auch noch beim Kegelabend mein Handy dabei? Nach meinen Dienstzeiten lege ich es als erstes zuhause auf die Kommode. Aber versuchen Sie es doch mit Ihrem!“ Er musterte den schlaksigen Dandy von oben herab.
„Ich habe die Nummer des Notdienstes nicht.“
„Über Internet ist die doch leicht zu finden.“ Hieber konnte ein hämisches Grinsen nicht unterdrücken, als er sah mit welcher Hektik der gelackte Ausländer auf den Tasten seines Minigerätes rumdrückte und dabei ständig den Kopf schüttelte.
„Ich habe keinen Empfang hier. Nichts zu machen.“ Nervös begann er eine Zigarette aus der blauen Packung zu fingern.
„Hier wird nicht geraucht, junger Mann“, sagte Hieber mit bestimmtem Ton. Mit einem schrägen Blick auf Tamara steckte Ferrari die Packung wieder in seine Brusttasche.
„Hört uns jemand, wenn wir rufen?“, meldete sich Tamara zu Wort. Der Singsang war aus ihrer Stimme verschwunden.
„Wer sollte denn! Es ist um diese Zeit doch kein Schwein mehr in der Firma. Nur Sie beide waren noch fleißig und machten Überstunden.“ Dabei fixierte er mit seinen grauen Augen die zerknitterte Bluse seiner Chefin und betonte das Wort ‚Überstunden’ so, dass jeder genau Bescheid wusste, wie er es meinte.
Tamara schaute sich aufmerksam in der Kabine um. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie heruntergekommen alles war. In den Ecken stand der Schmutz. Abfälle und Kaugummis steckten in den kleinen Lüftungslöchern, die am oberen Rand der Längswand angebracht waren. Der Spiegel war zerkratzt und irgend jemand hatte einige Zeichnungen mit einem harten Gegenstand in die glatte Oberfläche geritzt. Der Aschenbecher quoll über.
„Ich werde gleich am Montag eine Verwarnung schreiben. Dieser Saustall hier ist ja kaum noch zu überbieten.“ Der Hausmeister zuckte nur gelassen mit den Schultern. ‚Jetzt will die Kató auch noch den Chef heraushängen lassen. Ausgerechnet in unserer prekären Situation.'
„Ich denke, wir sollten uns jetzt besser darum kümmern, dass wir hier rauskommen, bevor wir übers Wochenende Wurzeln schlagen.“ Hieber schaute zur Luke, die in der Kabinendecke angebracht war. „Nach meiner Schätzung dürften wir zwischen dem zweiten und dem ersten Stockwerk festsitzen.“ Bei seiner Statur, die eher breit als hoch zu nennen war, musste er sich extrem auf die Zehenspitzen stellen, um überhaupt bis zur Decke zu kommen. Aber auch diese bühnenreife Akrobatik half nichts. Unbeholfen suchte er mit den Händen Halt, um dann mit einem dumpfen Knall wieder mit beiden Füssen am Boden zu landen. Die Kabine erzitterte dabei leicht, bewegte sich aber nicht weiter. Weder nach oben, noch nach unten.
Ferrari schubste den Hausmeister zur Seite und stellte sich direkt unter die Klappe. Er war fast einen Kopf größer als Hieber und schaffte es mit Leichtigkeit an die Klappe zu kommen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung und rote Flecken bildeten sich auf seinen Schläfen, als er versuchte, das Ding zu öffnen. Er keuchte und presste. Aber auch er blieb erfolglos. Wutentbrannt blickte er die Klappe an, die sich all seinen Anstrengungen kraftvoll widersetzte. Automatisch wanderte seine rechte Hand zur Brusttasche. Nur der warnende Blick des Hausmeisters hielt ihn davon ab, die Zigarette zu rauchen, die er jetzt so dringend benötigt hätte.
„Los, Herr Ferrari, jetzt bemühen Sie sich. Sie werden das doch wohl schaffen.“ Tamara glaubte, dass es helfen könnte, wenn sie diese Aufforderung mit einem süßen Lächeln unterstriche, das sie sich mühsam abforderte.
Auch der zweite Versuch scheiterte kläglich. Die aufkommende Panik erzeugte auf Tamaras Stirn die ersten Schweißperlen. Diese wurden schnell größer und schwerer und liefen dann wie Krokodilstränen über Augen und Wangen. Dass das ursprünglich sorgfältig aufgetragene Make-up den gleichen Weg einschlug, war nicht zu vermeiden. Auf der faltigen Haut bildeten sich runenhafte Zickzack-Muster wie bei einem Eingeborenen, der sich zum Kriegstanz schmückt.
„Mensch, Carlo, Liebster, streng dich an. Oder sollen wir hier versauern?“ Tamara verlor ihre Contenance. Ihre Nerven lagen bereits blank. Es war ihr egal, was der Hausmeister von ihr und Ferrari dachte.
Der Hausmeister zog die Schnapsflasche aus der Jackentasche und stellte sie sorgfältig in eine Ecke des kleinen Raumes, damit sie nicht umgestoßen werden konnte. Dann streifte er die Jacke ab und reichte sie Tamara, da er das Kleidungsstück nirgends aufhängen konnte. „Wenn es der schöne Herr Ferrari nicht schafft, müssen wir eine andere Lösung finden. Ich schlage vor, der junge Mann legt sich bäuchlings auf den Fußboden und ich steige auf seinen Po. Damit kann ich die Höhe schaffen.“
„Ja, Carlo, das scheint der einzige Ausweg zu sein. Leg dich hin!“ Es gab kein aufforderndes Lächeln mehr als Begleitung zu diesem Befehl.
Carlo schaute betreten und verzweifelt auf seinen eleganten Anzug, der sicher leiden würde unter den festen Schuhen des Hausmeisters.
Notgedrungen legte er sich hin, während Hieber seine Hemdsärmel aufkrempelte und dabei seinen Bizeps spielen ließ.
Tamara brachte der Tatkraft des Hausmeisters eine gewisse Wertschätzung entgegen. ‚Wenigstens einer der für unsere Rettung etwas unternimmt’, dachte sie.
„Aber ziehen Sie wenigstens ihre Stiefel aus“, winselte der schöne Ferrari kleinlaut. Er fürchtete jetzt nicht nur um seinen Designer-Anzug.
„Kommt nicht in Frage! Diese paar Zentimeter brauche ich, um ganz rauf zu kommen.“ Damit trat er mit stillem Vergnügen auf den kleinen Arsch, ruckelte noch etwas hin und her um einen besseren Stand zu bekommen und reckte sich nach oben. Als er das Gewicht vollends auf die Zehenspitzen verlagerte biss Carlo die Zähne zusammen. Trotzdem entwich ihm ein jämmerliches "Aua".
Tamara feuerte den Hausmeister an. „Toll, Sie schaffen es Herr Hieber!“
Mit einem Ruck gab die Klappe nach und schwang nach oben auf. Der Blick war frei auf den Schacht, der durch die Notbeleuchtung matt erhellt wurde. Außer den trüben, von Staub bedeckten Glühbirnen, die im regelmäßigem Abstand an der Schachtwand angebracht waren, war aber wenig zu sehen. Lediglich die dicken, fettigen Zugseile konnte das Auge auf die Länge von einigen Metern ausmachen.
Der Hausmeisters meldete sich mit seiner festen Bassstimme zu Wort. „Durch die Klappe passe ich nicht, dafür bin ich leider zu dick. Aber unser agiler Jungmanager könnte es schaffen. In der Mitte der Türe zum nächsten Stockwerk, im oberen Türrahmen gibt es eine einfache Verriegelung, die mit einem Dreikantschlüssel geöffnet wird. Hier, nehmen Sie mein Taschenmesser. Mit der größten Klinge, oder mit dem großen Schraubenzieher müssten Sie es schaffen, die Türe zu entriegeln. Wenn Sie so weit sind, gebe ich Ihnen weitere Instruktionen.“
Tamara fasste inzwischen Vertrauen zum Hausmeister. Er kam ihr vor wie ein General, der im vollen Schlachtgetöse Ruhe und Übersicht bewahrte und klare Befehle an seine Mannschaft erteilen konnte.
„Aber wie soll ich da hochkommen? Ich sehe keine Leiter an der Schachtwand.“
„Bis zu der Luke werde ich dich hochheben. Wenn du durch die Öffnung bist, musst Du am Seil hochklettern.“ Es bereitete ihm Genugtuung, Ferrari wie einen Schuljungen zu behandeln.
“Aber ich bin doch nicht schwindelfrei“, murmelte dieser kleinlaut, „und außerdem würde das gefettete Seil meinen Anzug vollends ruinieren.“
„Du willst kneifen, du Maulheld?“ Tamara sah Carlo abschätzig an. „Ich dachte du wärst ein richtiger Mann!“ Sie wandte sich ab von ihm und sagte zum Hausmeister. „Gut, wenn der Junge zu feige ist, dann mach ich das. Mit meiner Figur passe ich leicht durch die enge Luke.“ Unbewusst strich sie mit ihren Händen über ihren flachen Po.
Schon hatte sich der Hausmeister leicht gebückt, fasste sie um die Taille und hob sie mit einem Schwung kraftvoll so weit hoch, dass sie mit der Hand durch die Luke das Zugseil fassen konnte. Geschickt zog sie sich durch die enge Öffnung. Dass nun neben Carlo auch Herr Hieber von unten einen tiefen Blick unter ihren Rock erhaschte, störte sie nicht. Aus diesem verdammten Lift raus zu kommen war jetzt viel wichtiger als alles andere.
Sie stand jetzt auf dem Dach der Kabine und versuchte sich an einem der Seile hoch zu ziehen, aber sie glitt ab. „Carlo, gib mir Dein Hemd, damit ich die Seile etwas entfetten kann“, rief sie nach unten.
Gehorsam zog Ferrari sein Hemd aus und reichte es nach oben. Das goldene Medaillon an der feinen Kette baumelte verloren auf seiner glatt rasierten Hühnerbrust.
Tamara nahm das Messer zwischen die Zähne und arbeitete sich nach oben zur nächsten Türe. Keiner der beiden Männer hätte ihr diese Behändigkeit zugetraut. Die Verriegelung ließ sich weder mit dem Schraubenzieher, noch mit der Klinge öffnen.
"Schaffen Sie es bis zur nächsten Etage? Dort habe ich gestern erst die Notöffnung überprüft. Die funktioniert garantiert."
Tamara warf einen verzweifelten Blick nach unten. Ihre Hände rutschten an dem glitschigen Seil immer wieder ab. Selbst Carlo's Hemd konnte da nicht mehr viel helfen. Verbissen zog sie sich zentimeterweise nach oben und erreichte die Türe zum nächsten Stockwerk, die sich leicht entriegeln ließ. Mit letzter Kraft schob sie die beiden Türflügel auseinander und gelangte mit einem großen Ausfallschritt in den Korridor.
„Und was weiter?“, rief sie in den Schacht hinunter. Ihr Atem ging stoßweise.
„Jetzt gehen Sie hinauf zum Dachboden. Direkt über dem Aufzugsschacht befindet sich der Maschinenraum für den Lift. Der Schlüssel dafür liegt auf dem kleinen Wandvorsprung rechts von der Türe. An der Wand oberhalb des Motors hängt eine große Kurbel. Wenn Sie diese an der Welle der Maschine in die passende Öffnung stecken, können Sie die Kabine mit kleiner Übersetzung bis zum nächsten Stockwerk hochziehen. Neben dem Motor ist eine Bodenklappe. Wenn Sie diese öffnen, sehen Sie in den Schacht und zu unserer Kabine. Sollten Sie nicht klar kommen, können wir uns durch die Klappen unterhalten.“
Befreit ging sie die Treppen hoch und war dabei froh, dass um diese Zeit keine Gefahr bestand, jemandem zu begegnen. Sie sah in ihrem ölverschmierten Kleid wirklich nicht aus, wie die Chefin des Unternehmens.
Schon im dritten Stock war ihr klar, dass die Beziehung mit Ferrari eine Luftnummer war.
Aber erst kurz vor dem fünften Stock ging ihr das Licht auf, dass der Hausmeister nicht nur eine Gehaltserhöhung verdient hat, sondern mehr.