Servus @jimmysalaryman,
Ich liege auf dem Bett im fast dunklen Zimmer. Durch die Falten im Vorhang scheint das letzte Licht des Tages und zeichnet Muster an die Decke. Über mir, das ist ein Trapez, aber ich bin mir nicht sicher. Sie hätte so etwas gewusst.
Gefällt mir sehr.
Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist immer noch hier. Dann strecke ich meine Hand aus und will ihren atmenden Körper berühren - sie ist nah bei mir, sie war immer nah bei mir, sie liegt da in der Dunkelheit und wartet, sie wartet auf mich.
Was mir an der Sprache nicht ganz zusagt, ist, dass der Erzähler immer noch eins drauf setzen will:
sie ist nah bei mir - sie war immer nah bei mir Dann:
sie liegt da in der Dunkelheit und wartet - sie wartet auf mich
Das wirkt - für mich - in Teilen redundant und ein wenig so, als ob der Erzähler die großen Gefühle, den Pathos sucht. Wenn sie in ihrem Ehebett in der Dunkelheit liegt und wartet - natürlich wartet sie auf ihn, auf wen sonst? (Einzige Ausnahme: Sie wartet auf ihr Kind. Das wäre die einzige Person, die in diesen intimen Bereich noch eindringen dürfte.)
Noch ein Punkt: Wenn er alleine im Bett liegt, in Traumbilder versinkt, die Hand ausstreckt, weil er das Gefühl hat, sie wäre noch hier und er dann sagt: "Sie ist nah bei mir" finde ich es wieder redundant zu erwähnen, dass: "sie war immer nah bei mir". Wenn sie in dieser Situation, in der sie nicht existent bei ihm ist, nah bei ihm ist, finde ich es selbsterklärend, dass er dieses Gefühl, sie sei bei ihm, stetig hat.
Aber der Text widerspricht sich hier auch - womöglich - selbst:
Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist immer noch hier.
sie war immer nah bei mir
Da ist nicht ganz klar, ob das "immer" sich darauf bezieht, dass er konstant das Gefühl hat, von ihr umgeben zu sein, auch wenn sie nicht da ist (dann wäre es ein Widerspruch), oder ob das "immer" sich darauf bezieht, dass sie immer nah bei ihm im Bett gelegen hat, wenn sie physisch anwesend neben ihm lag.
Ich finde das so ein wenig schwierig an der Sprache des Erzählers hier im Text, dass sie uneindeutig, nebulös bleibt.
Doch neben mir ist nur die kühle Decke, es ist eine Bewegung ins Leere, aus Erwartung wird Enttäuschung und dann fällt mir wieder ein, warum sie nicht da ist, nicht da sein darf, und dass sie weit weg ist, unerreichbar.
Das Fette ist für mich ein Streichkandidat - wieder etwas drüber, für mein Geschmack. Ich denke auch: Wenn sie wieder in der Psychiatrie ist, wieso ist sie unerreichbar? Er kann sie anrufen, besuchen, wenn sie jetzt kein Hardcorefall ist, kommt sie auch wieder raus ... aber ja, was mit ihr passiert ist, bleibt offen. Ich finde das schwierig in dem Fall, dass ich der Sprache bzw. dem Gesagten des Prots nicht ganz vertrauen kann, weil wenn sie wirklich unerreichbar ist, hat sie entweder lebend den Kontakt gänzlich zu ihm abgebrochen, oder sie ist tot. Zu tot passt aber wieder nicht: "Sie ist weit weg", bzw. das wäre dann sehr nebulös ausgedrückt, dass sie tot ist. Eigentlich müsste es heißen: "Sie ist weg." Hier widerspricht sich der Text mMn wieder: "sie ist weit weg" und "unerreichbar" sind - meiner Lesart nach - eigentlich paradox. Wenn jemand weit weg ist, ist er trotzdem erreichbar; wenn jemand unerreichbar ist, ist er nicht nur weit weg, sondern komplett weg.
Ich streiche mit der Hand über die Kissen und fühle glatte, warme Haut, aber das ist nicht sie, das bin ich, es ist nur mein atmender Körper, den ich da berühre.
Fett
Ich lege die Hand auf meine Brust und lasse sie langsam bis zum Bauch gleiten, halte über der Narbe an, meine Fingerspitzen auf der Naht, sie ist so breit wie ein Daumen, wie mein Daumen.
Dein Erzähler kommt mir wie jemand vor, der beim Erzählen herausfindet, was er erzählen möchte, der mehr oder weniger teilweise blind ist: Es ist so breit wie ein Daumen - hoppla!, wie
mein Daumen!
Wertfrei gemeint, nur eine Beobachtung. Es passt ja zum Psychotischen, zum Liegen in der Dunkelheit, aber beim Lesen finde ich diesen Effekt oder Trick (wieder absolut wertfrei gemeint, Jimmy, mir fällt kein anderes Wort hierfür ein...) etwas überdosiert. An einigen Stellen, zum Betonen und Lenken fände ich es sehr gut, aber in der Dosierung finde ich es etwas zu viel.
Manchmal spüre ich noch Schmerzen, ganz kurz und leise, ein Stechen und Brennen, heiße Nadelstiche. Es ist guter Schmerz, denn er erinnert mich an sie.
Gefällt mir
Woher kommt dieser Sand? Wie kommt er ins Bad?, und als ich die Augen öffne, bin ich gar nicht mehr im Bad, ich bin nicht mehr in dem stillen Haus in der Friedrich-Ebert-Straße, sondern an der Küste.
Streichkandidat. Es passt zum Psychotischen, dass der Erzähler sich das fragt, aber ohne wäre es entschlackter, der Leser fragt sich das ohnehin: Wo kommt jetzt dieser Sand her?
Sie steht neben mir, ihr Haar ist offen und ganz ausgebleicht von der Sonne, fast blond, ein dünner Schweißfilm schimmert auf ihrem Rücken, und wir beide blicken über das Meer auf einen flirrenden Punkt am Horizont, der sich ganz schnell bewegt, einmal in diese Richtung, dann wieder in eine andere, es ist ein Punkt der nie stillsteht. Ich will etwas sagen, doch sie sieht mich nur an und lächelt und legt mir den Zeigefinger auf die Lippen, ich mag das, wie sie das macht, so entschlossen und streng, sie drückt mir den Finger ins weiche Fleisch, ich spüre ihn an meinen Zähnen, die Haut ist glatt und schmeckt nach Salz.
Frag nicht, sagt sie leise, ich sehe dabei auf ihre Lippen, die sich nur ganz wenig öffnen, während sie spricht, so dass ich schon denke, vielleicht spricht gar nicht sie, vielleicht ist das nur eine Stimme in meinem Kopf, vielleicht bin ja ich verrückt, wahnsinnig, aber nein, das stimmt nicht, denn sie ist doch verrückt, sie ist …
Die Szene mit ihr am Strand ist wirklich schön geschrieben.
Aber das Fette: Würde ich kicken. Es ist mir zu sehr mit dem Holzhammer, dass er denkt: Hoppla! Bin ich jetzt verrückt? Das fragt sich der Leser ohnehin. Weniger wäre hier mehr, meine Meinung.
Im August suchen wir nach Wahrheit.
Das kann man nebulös ausgedrückt finden oder kitschig oder sonstwas, aber ich finde es sehr schön. Ich connecte damit beim Lesen, ich verstehe das. August ist ein besonderer Monat, diese Hitze, der Höhepunkt des Sommers, und gleichzeitig neigt sich alles schon dem Winter entgegen. Natürlich sucht man da nach Wahrheit, hinterfragt sich. Auch im Dezember könnte man nach Wahrheit suchen, die Dunkelheit, die Kälte, schon vorchristliche Religionen haben in dieser Zeit die Götter ganz nah bei den Menschen gesehen. Mir gefällt das sehr gut.
Der Sand unter meinen Füßen, der warme Körper neben mir, ihr warmer Körper neben mir, der Finger über meinen Lippen, über unseren Lippen, wir beide schweigen, wir beide, und ich weiß, was sie sonst noch alles mit den Lippen kann, und dann zischt es wieder in dem Rohr und der Zug kommt zum Stehen, die Bremsen zerreißen die Stille und das Gesicht im Spiegel ist nicht mehr schön, es ist leer und alt und verloren, es ist mein Gesicht, und dann ist da auch kein Sand mehr, nur noch die Kacheln, ganz hart und kalt.
der Finger über meinen Lippen, über unseren Lippen,
Der Finger über unseren Lippen? Wie soll das gehen?

Außer, nacheinander ... würde den zweiten Teilsatz kürzen, das ist wieder so ein too-much-Effekt für mich ... Frage: Was würde es ändern, wenn nicht gesagt würde, dass der Finger "über unseren Lippen" gelegen wäre? Sondern nur über seinen? Im Endeffekt ändert das gar nichts, außer, dass der Erzähler weniger sentimental, nenne ich es mal, wirkt ... man kann ihn natürlich so zeichnen, aber man muss sich im Klaren sein, finde ich, dass dieser zweite Teilsatz - meiner Meinung nach - eigentlich nichts beiträgt im Text, was Inhalt oder Beziehung zwischen den Figuren angeht, als dass er den Erzähler charakterisiert
Im August suchen wir nach Wahrheit. Im August haben wir ihre Tabletten vergraben, draußen im Garten unter der großen Linde in einer heißen, trockenen Nacht,
Ich finde: Die große Linde braucht es nicht. Es wirkt - für mich - etwas pathetisch, ohne wäre mehr, mMn. Aber das Bild der Vergrabens der Tabletten ist schön. Trotzdem frage ich mich hier als Leser: Wieso vergraben sie die Tabletten? Was steckt dahinter? Wieso nicht einfach Müll oder Toilette runterspülen, wenn sie sie loshaben wollen? Es wirkt wie ein Ritual, aber es wird nicht weiter darauf eingegangen, wieso. Hier könnte man noch Bedeutung reinbringen, haben sie ihr Kind begraben müssen und danach die Tabletten angefangen, zu nehmen? Dann hätte es was Mächtiges, das Bild. Aber ist Genörgel auf hohem Niveau. Nur eine Beobachtung.
wir vergruben sie unter den Wurzeln, tief in der Erde, wir gruben mit den Händen, wir gruben und beerdigten die Wahrheit und die Vergangenheit und die Zukunft;
Spitzfindigkeit: Mit den Händen im Garten unter einen Baum unter die Wurzeln graben - das ist brutal! Das habe ich gerade mit dem Spaten geschafft, als ich früher beim Landschaftsgärtner gejobbt habe. Schafft man das mit den Händen? Die Erde ist doch hart wie Beton.
alles wurde eins und sollte nie vergehen. Aus August wurde September, wurde Winter, dann fanden wir die Wahrheit, nein, die Wahrheit fand uns, sie ließ sich nicht beerdigen, denn die Wahrheit wird immer auferstehen, wir zählten die Tage und flüchteten in diesen einen August, den es nicht mehr gab, den es vielleicht nie gegeben hat, den es nie geben wird.
Auch interessant: Vielleicht hat es diesen Augusttag nie gegeben. Vielleicht ist das Graben, das physisch nicht möglich ist, ein Indiz darauf, dass es diesen Tag nie gegeben haben kann. Dann fände ich die Unlogik des Grabens sehr geil.
Sprachlich: Das Fette ist mir wieder drüber, es wirkt pathetisch.
Ich höre jemanden parterre lachen, danach geht das Licht im Hausflur an, und ich spüre ein Pochen unter der Narbe, als wäre es eine offene Wunde, als wäre sie noch ganz frisch, als steckte der harte, kalte Stahl immer noch in meinen Eingeweiden. Ihr Finger liegt schon lange nicht mehr über meinen Lippen, sondern auf der Narbe, die so lang wie ein Daumen ist, doch es ist nicht ihr Daumen, es ist ein Messer, ein Messer mit gerader Klinge, sie hält es in der Hand und dreht sich um und sticht zu,
sie sticht es in meinen warmen Körper, der ihr eben noch so nah war, wir waren uns eben noch so nah, wir haben eben noch nach der Wahrheit gesucht in diesem August, und wie lange ist das her?, Jahre, nein Tage, nein Jahre, nein …
Das Fette ist für mich wieder Streichkandidat. Den erste Teil des Absatzes finde ich gelungen, den zweiten hätte es für mich nicht gebraucht.
und Blut rinnt über den Griff und tropft auf den Boden, ein Tropfen, zwei Tropfen, ich sehe sie fallen wie schweres Öl
Streichkandidat
aber das Blut ist nicht rot, es ist dunkel, fast schwarz, so dunkel wie die Nacht in der wir die Tabletten vergraben haben,
Streichkandidat
weil sie so nicht mehr weitermachen wollte, konnte, sollte,
Nee, ich weiß nicht, ich finde, das wirkt etwas hingerotzt, nimm es mir nicht übel ...
da ist kein Schmerz, nur eine seltsame Kälte, die mich in langsamen Wellen immer weiter durchströmt,
Ich finde, das klingt aber doch nach Schmerz
Wieso nicht:
da ist eine seltsame Kälte, die mich in langsamen Wellen immer weiter durchströmt,
und als ich sie ansehe ist da wieder der flirrende Punkt, doch der flirrende Punkt ist nicht am Horizont, sondern in ihrem Kopf, in ihrem Kopf springt er hin und her und weiß nicht wohin,
Rein sprachlich: Das Fette Streichkandidat
in ihrem Kopf springt er hin und her und weiß nicht wohin, überallhin, nirgends,
Nimm es mir nicht übel, ich meine es nicht despektierlich und vielleicht sehe ich hier etwas nicht, vielleicht auch Geschmacksfrage, aber das Markierte wirkt für mich wieder "hingerotzt", also im Sinne davon, dass der Erzähler hier einfach mal große Worte benutzt: überall - nirgends, aber der Sinn erschließt sich mir nicht, es hört sich groß und pathetisch an, aber es wirkt so leer: Der Punkt in ihrem Kopf will überallhin und nirgendwohin? Mir ist das persönlich zu vage, gerade weil ich weiß, wie messerscharf du schreiben kannst, und wie du auch im Vagen eine große lyrische Bedeutungsfülle intendieren kannst
als ich sie ansehe ist da wieder der flirrende Punkt, doch der flirrende Punkt ist nicht am Horizont, sondern in ihrem Kopf, in ihrem Kopf springt er hin und her und weiß nicht wohin, überallhin, nirgends, der flirrende Punkt ist es, der sie verrückt macht, der sie …
Der flirrende Punkt als Symbol des Durchdrehens der Frau. Ich weiß nicht, ich möchte nicht überkrass kritisch sein, und ich hoffe, dass du dich nicht persönlich angegriffen fühlst, just my own honest opinion hier, aber ich denke mir: Was sagt mir dieser Absatz Neues? Ich wusste als Leser bereits, dass die Frau psychisch über den Rand gekippt ist. Sie ist weg. Womöglich tot oder absolut unerreichbar, psychisch oder physisch. Der Flashback hier, er sagt mir nur, was ich bereits weiß. Viel interessanter wäre für mich szenisch zu sehen, wie sie das erlebt, was hier metaphorisch versucht wird, auszudrücken. Der zitierte Absatz lässt mich auch deswegen seltsam kalt, weil ich das Leid und die Person nicht sehe. Würde ich sie sehen, wie sie dasitzt und weint und beide nicht weiterwissen, würde ich wissen, warum sie weint, hat sie ihr Kind verloren oder ist sie fertig, weil sie aus der Depression nicht rauskommt und keinen Ausweg mehr sieht ... dann würde ich krass mitfühlen. Das geht in die Richtung, die du und
@kiroly besprochen habt, warum ist man manchmal so verdammt abgebrüht? Ich denke, weil man nur mitfühlen kann, wenn man selbst "dabei" war und eine Sache selbst "gesehen" hat (auch als Leser kann man ja über die Schulter schauen und "dabei sein"). Eine Vergewaltigung als Randnotiz in den Nachrichten. "Frau wurde vergewaltigt in XY." Lässt mich absolut kalt. Würde ich als Film sehen, was der Frau passiert ist, wäre mein Tag danach im Arsch. Mir wäre schlecht.
Hier der flirrende Punkt: Er heißt im Endeffekt nur, die Frau ist durchgedreht. Das lässt mich seltsam kalt. Würde ich die Misere sehen, wäre das anders. Aber ich hab gerade beim Schreiben das Gefühl, das weißt du alles, ich will hier nicht belehrend rumkommen, nur meine Gedanken ...
Wettbewerbskultur: Ich finde, da sollte man einen Fick drauf geben. Nichts für ungut natürlich. Wenn jemand Wettbewerbe gewinnt und die Dinge auf die Art schreibt, die er will und gut findet, super geil. Herzlichen Glückwunsch, unironisch. Aber die Art von Literatur, die dort verhandelt und gekürt wird, sollte kein Maßstab sein, finde ich. Von den literarischen Storys, die mich in den letzten Jahren am meisten gecatched, ergriffen und durchgeschüttelt haben, hat kein einziger einen deutschen Wettbewerb gewonnen. Das ist so ein seltsamer Mikrokosmos mit einem speziellen Duktus, der es auch nie über die Grenzen dieses Mikorkosmoses schafft, selbst, wenn dieser Mikorkosmos durch staatliche Förderungsgelder bis an die Ladentheken von Buchhandlungen reicht. Meine bösartige Meinung. 
Jimmy, du weißt, ich bin Fan, und einige der Storys, die mich richtig gepackt haben, stammen aus deiner Feder. Mit dem Text hier werde ich persönlich nicht ganz warm. Er ist jetzt nicht schlecht oder so, aber ich denke die ganze Zeit, dein natürliches Level liegt eigentlich höher. Das liegt zum einen an der Sprache, die ich etwas überladen finde, und zum anderen daran, dass ich nicht ganz mit dem Leid bzw. den Emotionen des Textes connecten kann. Die Figuren kommen mir nicht nahe, ich verstehe und spüre ihr Leiden nicht auf die Art, wie ich es oft bei anderen Figuren aus deinen Storys gespürt habe.
Beste Grüße
zigga