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Der August, die Wahrheit

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28.12.2009
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Der August, die Wahrheit

Ich liege auf dem Bett im dunklen Zimmer. Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist immer noch bei mir. Dann strecke ich meine Hand aus und will ihren atmenden Körper berühren. Doch neben mir ist nur die kühle Decke, es ist eine Bewegung ins Leere, aus Erwartung wird Enttäuschung, und mir fällt wieder ein, dass sie weit weg ist. Ich streiche mit der Hand über die Kissen und fühle glatte, warme Haut, aber das ist nicht sie, das bin ich, es ist mein atmender Körper, den ich da berühre. Ich lege die Hand auf meine Brust und lasse sie langsam bis zum Bauch gleiten, halte über der Narbe an, meine Fingerspitzen auf der Naht, sie ist so breit wie ein Daumen, wie mein Daumen. Manchmal spüre ich noch Schmerzen, kurz und leise, ein Stechen und Brennen, heiße Nadelstiche. Es ist guter Schmerz, denn er erinnert mich an sie.

Ich stehe auf. Ich gehe durch die Diele ins Bad und schaue in den Spiegel, sehe die Umrisse, mein Gesicht im Halbdunkel, grau und ebenmäßig und fast schön. Ich schließe die Augen und höre in die Stille, das Haus ist jetzt ganz ruhig, es ist spät, alle sitzen in ihren Zimmern und essen und trinken und sehen fern, oder sie reden und schweigen und starren vor sich hin. Dann zischt es irgendwo in den Rohren und in den Leitungen gluckert es und weit entfernt beschleunigt ein Zug. Ich spüre Sandkörner unter meinen Füßen und bewege meine Zehen vorsichtig hin und her, sie graben sich in den Sand, der fein und leicht feucht ist. Woher kommt dieser Sand? Wie kommt er ins Bad?, und als ich die Augen öffne, bin ich gar nicht mehr im Bad, ich bin nicht mehr in dem stillen Haus in der Friedrich-Ebert-Straße, sondern an einer Küste. Sie steht neben mir, ihr Haar ist offen und ausgebleicht von der Sonne, fast blond, ein Schweißfilm auf ihrem Rücken, und wir beide blicken schweigend über das Meer auf einen flirrenden Punkt am Horizont. Ich will etwas sagen, doch sie sieht mich nur an und lächelt und legt mir den Zeigefinger über die Lippen, ich spüre ihn an meinen Zähnen, die Haut ist glatt und weich und schmeckt nach Salz. Frag nicht, sagt sie leise, und ich sehe dabei auf ihre Lippen, die sich nur ganz wenig öffnen, so dass ich schon denke, vielleicht ist das nur eine Stimme in meinem Kopf, aber nein, das stimmt nicht … Frag nicht. Nein, das ist sie, die spricht, sie sagt das, und ich schweige, weil sie mir immer noch den Finger auf meine Lippen drückt. Es war August. Im August suchen wir nach Wahrheit.

Der Sand unter meinen Füßen, ihr warmer Körper neben mir, der Finger über meinen Lippen, dann zischt es wieder in dem Rohr und der Zug kommt zum Stehen, das Bremsen zerreißt die Stille und das Gesicht im Spiegel ist nicht mehr schön, es ist leer und alt und verloren, es ist mein Gesicht, und da ist auch kein Sand mehr, nur noch Kacheln, hart und glatt und kalt.

Im August suchen wir nach Wahrheit. Im August haben wir ihre Tabletten vergraben, draußen im Garten unter der großen Linde. Wir vergruben sie unter den Wurzeln, tief in der Erde. Wir beerdigten die Wahrheit und die Vergangenheit und die Zukunft; alles wurde eins und sollte nie vergehen. Aus August wurde September wurde Winter, und dann fanden wir die Wahrheit, nein, die Wahrheit fand uns, sie ließ sich nicht beerdigen. Die Wahrheit wird immer wieder auferstehen. Wir zählten die Tage und flüchteten in diesen einen August, den es nicht mehr gab, den es vielleicht nie gegeben hatte, den es nie geben wird.

Ich höre jemanden parterre lachen, danach geht das Licht im Hausflur an und ich spüre ein Pochen unter der Narbe, als sei es eine offene Wunde, als sei sie ganz frisch, als würde der harte, kalte Stahl immer noch in meinen Eingeweiden stecken. Ihr Finger liegt schon lange nicht mehr über meinen Lippen, sondern auf der Narbe, die so lang wie ihr Daumen ist, doch es ist nicht ihr Daumen, es ist ein Messer, ein Messer mit gerader Klinge, sie hält es in der Hand und dreht sich um und sticht zu, sie sticht es in meinen warmen Körper, der ihr eben noch so nah war, wir waren uns eben noch so nah, wir haben eben noch nach der Wahrheit gesucht in diesem August, und wie lange ist das her?, Jahre, nein Tage, nein Jahre, nein … Blut rinnt über den Griff und tropft auf den Boden, ein Tropfen, zwei Tropfen, ich sehe sie fallen wie schweres Öl, das Blut ist so dunkel wie die Nacht in der wir die Tabletten vergraben haben, und da ist kein Schmerz, nur eine seltsame Kälte, die mich in langsamen Wellen durchströmt, und als ich sie ansehe ist da wieder der flirrende Punkt, doch der Punkt ist nicht am Horizont, er ist in ihrem Kopf, in ihrem Kopf springt er hin und her und weiß nicht wohin. Wir schweigen, bis ich die Augen schließe, nur für einen Moment, für einen kurzen Moment, einmal durchatmen, und als ich sie wieder öffne, ist sie nicht mehr da, auch das Messer ist weg, da ist nichts mehr, keine Friedrich-Ebert-Straße, kein Haus, kein Zischen in den Rohren, keine Züge, nur ein heller, weißer Raum, hell und weiß und kühl und still.

Ich liege lange in diesem hellen, weißen Raum, und als ich ihn schließlich verlassen darf, stellt jemand alles um mich herum wieder auf; den August, die Friedrich-Ebert-Straße, das Haus, das Zischen in den Rohren, die Züge, die Wahrheit. Nur sie ist nicht mehr da. Sie ist weg. Jemand hat die Tabletten ausgegraben und sie damit gefüttert. Jemand hat ihr die Lippen geöffnet und sie ihr auf die Zunge gelegt. Der flirrende Punkt in ihrem Kopf ist weggegangen und dann hat sie hat das Messer aus mir herausgezogen und ist auch weggegangen. Sie hat dabei etwas von mir genommen und von sich dagelassen, und jetzt stehe ich vor der großen Linde, und das Loch ist so leer wie ihr Blick, als sie weggeschlossen wurde und mich alleine zurück ließ, alleine mit der Suche nach dem August und der Wahrheit.

Ich warte, ich warte. Manchmal denke ich, sie kommt zurück, bestimmt kommt sie zurück, und dann wird alles wieder wie früher, wie damals, wie in diesem August, aber ich weiß, es stimmt nicht. Ich strecke meine Hand aus und da ist sie, gleich hinter dem Spiegel, ich fasse durch das Glas wie durch eine Flüssigkeit, und ihr Körper ist warm und und weich und ich weiß, wir werden uns wieder nah sein, so nah, wir werden beide an der Küste stehen und auf das Meer hinausblicken, wir werden das Zischen in den Rohren hören, wenn es ganz still im Haus ist und auch die Züge auf den Gleisen, die in der Nacht durch lange, verborgene Tunnel fahren.

Ich warte und suche diesen August und warte und suche die Wahrheit.

 

@Luzifermortus

Ist ritterlich von dir, hier Katta zur Seite zu springen, aber ich denke, wir beide sind erwachsen und klären unseren Disput untereinander. Und wann eine Diskussion zwischen uns beendet ist und wann nicht, ist, sagen wir mal: none of your business.

Bleiben wir einfach am Text, der Rest ist offtopic.

 

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