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Der Aussteiger
Es ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl', dachte sich Marc, 'im Sonnenuntergang alleine nach Kuba zu fahren, wenn man weiß, dass zu Hause die Bombe für die Frau und ihren Liebhaber tickt.'
Letzten Monat waren es drei Jahre geworden, seitdem er wusste, dass Jamie ihn betrog. Er war damals unbemerkt in die Wohnung gekommen und hatte sie gehört und sofort begriffen, was Jamie gerade tat. Überrollt von einer heißen Welle aus Zorn und der Beklommenheit, die feucht und kalt nach den Fingern der Betrogenen greift, hatte er das große Küchenmesser gepackt und sich mit Tränen in den Augen und flauen Krämpfen im Magen durch die Hölle seiner Wohnung bis zur Schlafzimmertüre gequält, hin und her gerissen zwischen den letzten Resten von Liebe, dem Vorwurf seines Versagens und der Furcht vor seinem Tun. Schließlich schwappte der Jähzorn vollends über seine Gedanken und er griff an die Klinke. In diesem Moment drang die Stimme von Tom, seinem besten Freund, aus dem Zimmer zu ihm durch.
Danach hatte er lange überlegt, was es wirklich war, was ihn damals davon abgehalten hatte, das Schlafzimmer zu stürmen, aber jedes Mal fand er nur einen weiteren Stein in dieser unvollständigen Mauer. Die Antwort kannte er immer noch nicht. Was aber nach dem Moment an der Türe passierte, erlebte er wie im Traum: Zunächst war er wie versteinert, wie gelähmt, er konnte sich nicht bewegen, bis er sich plötzlich aus den Fesseln dieser Starre befreite. Er stürmte aus dem Haus mit dem Messer in der Hand. Er wollte nur weg, verschwinden, versinken im Boden, aber er lief wie gehetzt in einen nahen Wald. Verzweifelt suchte er dort nach einem Ast weil diese Idee ihm wie Erlösung vorkam und merkte erst dann, dass das Seil dazu fehlte. Danach sah er endlich das Messer in seiner Hand, und wollte sich töten, doch hatte er zuviel Angst vor dem letzten Schnitt. Er rannte weiter und stolperte, er fiel und blieb liegen. Wie lange, das wusste er nicht mehr. Nur als seine Augen keine Tränen mehr fanden, da war ihm eines klar geworden. Er würde sie töten, beide.
Marc dachte an zu Hause. Er blickte auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Sicher warten Jamie und Tom jetzt schon ungeduldig auf ihn. Heute Abend wollten sie seinen Geburtstag gemeinsam feiern, aber er war immer noch nicht da. Marc versuchte sich die Szene vorzustellen.
"Ich verstehe das nicht", sagte Jamie, "er ist doch sonst so zuverlässig. Immer ruft er an, wenn er nicht pünktlich nach Hause kommt."
"Immer ruft er an - ", äffte sie Tom nach, "dein lieber, treuer, zuverlässiger Ehemann. Heute ist er wieder der arme Kerl, und morgen kannst du es nicht erwarten, bis der Scheißkerl außer Haus ist."
"Er ist kein Scheißkerl!", verteidigte ihn Jamie, "er ist einfach ..."
"Soll das heißen ich hätte nur eine Chance gehabt, weil er ständig weg ist?"
"Nein Tom, aber - ", Jamie brach mitten im Satz ab, "ach, weißt Du, das ist nicht so einfach."
Jamie hasste dieses Thema. Es war sinnlos darüber mit Tom zu diskutieren. Vor allem in Momenten wie diesem.
"Ja ja, mit diesem 'das ist nicht so einfach' redest Du Dich schon seit Jahren raus."
Damit war die Diskussion wieder an Toms wundem Punkt angelangt. In letzter Zeit stritten sie öfter miteinander. Tom wollte die Trennung, er wollte Marc loswerden und endlich dessen Platz einnehmen. Er hasste diese ständigen Heimlichkeiten. Jamie dagegen wusste nicht, ob sie das wirklich wollte. Heute zumindest wollte sie wenigstens den Rest des Abends retten. 'Ach, wenn doch Marc endlich käme', hoffte sie, um diesen Streit zu beenden.
Für Jamie war die Situation wirklich nicht einfach, schließlich liebte sie beide. Sie liebte Marc vor allem für die ruhigen Stunden, die zärtlichen Momente mit ihm. Im Herbst oder Winter, wenn die Tage kühl und klar waren, und sie beide abends am Kamin einfach nebeneinander saßen, Haut an Haut, sie seinen Atem, seine Nähe, seine zärtlichen Worte hören konnte, an diesen Tagen hoffte sie manchmal, Tom würde einfach nicht existieren und würde nicht ständig mit seiner lästigen Gegenwart in diese wunderbare Idylle einbrechen. Wenn es aber wieder Frühling oder Sommer wurde, und Tom mit seiner liebevollen lebendigen und chaotischen Art die Langeweile aus der Seele verscheuchte, dann war Marc plötzlich wie vergessen, dann gab es für sie nur noch dieses emotionale Pulverfass, diesen verrückten und launischen Liebhaber.
Manchmal wünschte sie, wenn doch nur Marc nicht so gleichmäßig wäre, so unveränderlich und schrecklich langweilig, so zurückhaltend und berechenbar. Dann wieder wollte sie, dass Tom endlich solide würde, dass es möglich wäre, ihr Leben mit ihm zu planen, aber beide schienen sich nicht zu ändern. Beide blieben nur ein Teil dessen, was sie zum Leben brauchte. So wohnte sie bei Marc, sicher und geborgen, und holte sich ihre Abwechslung und Lebensfreude bei Tom, immer im Zweifel und Zwiespalt, auch in der Angst, dass Marc es irgendwann bemerken würde. All das nagte an ihr, an ihr und den Beziehungen zu beiden Männern.
Marc machte sich noch einen Cuba Libre zurecht. Er war jetzt schon etwa zwanzig Meilen vom der Küste entfernt und nirgendwo am abendlichen Horizont war noch eine Spur Land in Sicht. 'Ich muss mich jetzt an mein neues, faules Leben gewöhnen', dachte er und lächelte dabei. Etwas melancholisch nippte er am Glas und begann sich zu erinnern.
Seine Kindheit und Jugend erschienen ihm unglaublich langweilig und banal gegenüber der Zeit, die er später bei der Spezialeinheit verbrachte, nur die ersten Jahre mit Jamie waren auf eine andere Art in etwa gleich wichtig für ihn. Marc war zwar nur fünf Jahre bei der Einheit, aber die ständige Anspannung und Aufregung, die permanente Gefahr ließen neben diesem Teil seines Lebens alles andere in grauem Dämmerlicht erscheinen. Aber nun war das vorbei, er hatte sich in die beruhigende Gleichmäßigkeit verliebt, die sein Leben die letzten Jahre durchzogen hatte, die es endlich ihm wieder erlaubt hatte, ohne Angst einzuschlafen. Diese Gleichmäßigkeit wünschte er sich auch wieder für die Zukunft.
Als damals bei einem Einsatz zwei seiner besten Freunde gestorben waren, hatte es ihm niemand übel genommen, dass er seinen Hut nehmen wollte. Etwa zehn Jahre war das jetzt her. Kurz darauf lernte er Jamie kennen, die von allem nichts wusste. Offiziell war er beim Militär gewesen, obwohl das überhaupt nicht stimmte. Die Organisation hatte ihm eine kleine Goldschmiede und Papiere verschafft, mit der er nun seinen Lebensunterhalt verdiente. Außerdem konnten sie noch weiterhin seine Fingerfertigkeit für kleine ungefährliche Aufträge nutzen, die er alle zu Hause erledigte. Meist waren es Metallskulpturen oder Figuren, die er außen mit Gold überzog und innen mit Plastiksprengstoff füllte. Diese wurden dann an ungeliebte Personen verschenkt und harrten dort ihrer möglichen Aktivierung über einen Zünder. Wegen dieser amüsanten Nebenbeschäftigung war es ihm auch leicht gefallen, eine passende Idee für Tom und Jamie zu finden. Allerdings - dieses Mal war es eine besondere Bombe. Er musste breit grinsen, als er an die Hinterlist in seinem Plan zu denken begann.
"Jetzt beruhige doch endlich, Tom!", sagte Jamie und atmete einmal gequält aus. "Ich hoffe nur, dass ihm nichts passiert ist."
"Und wenn ihm was passiert ist?", fragte Tom verärgert.
"Tom? Was willst du damit sagen?"
Jamie bekam es mit der Angst. Sie fürchtete schon lange, dass es zwischen beiden Männern einmal zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung käme.
"Was ist denn das?"
Tom blieb der Mund offen stehen. Gerade hatte er das Wohnzimmer betreten, und starrte auf eine etwa 30 cm hohe und ebenso breite Skulptur aus Gold: Zwei Hände, die sich umschlangen und dabei gegenseitig stützten glänzten ihm auf einer Ebenholzplatte entgegen. Eigentlich wollte Jamie Tom zurechtweisen, doch dann bemerkte sie, dass es eine gute Gelegenheit wäre, vom Streit abzulenken.
"Ach das ... ", sagte sie daher möglichst beiläufig, "ist das Geschenk von Marc zu unserem siebten Hochzeitstag. Ist aber erst gestern fertig geworden."
Tom streichelte andächtig über die Figur und nahm sie dann in seine Hände. Er liebte es, Gold zu berühren.
Die letzten drei Jahre hatte Marc seine profitable Kooperation mit der Organisation intensiviert und begonnen Geld und Gold beiseite zu schaffen. Mittlerweile hatte er genug davon, um sein weiteres Leben ohne Sorgen auf Kuba verbringen zu können. In diesen drei Jahren war in ihm der Plan gereift, Tom und Jamie beim Bau der Bombe mit einzubeziehen. Aber er wollte noch mehr. Sie sollten die ganze Zeit mit einer ständigen Vorahnung von ihrem möglichen Tod leben. Er wollte sie quälen, er wollte ihr Leben auf einen unterschwelligen Teppich von Angst setzten, weil er zu Hause von dieser Lüge gequält wurde, vielleicht auch, weil er insgeheim immer noch hoffte, dass die Beziehung zwischen Tom und Jamie dadurch zerbrechen könnte. Bei Tom war ihm die Angst wirklich gelungen, nur Jamie vertraute ihm zu sehr. Aber daran war nun nichts mehr zu ändern. Erst im letzten Moment wollte er beide wissen lassen, dass sie selbst es waren, die ihre eigene Bombe gebaut hatten. Er wollte, dass sie in panischer Todesangst stürben.
Es war fast schon absurd, dass die zündende Idee dazu von Tom gekommen war. Tom hatte sie beide wieder einmal besucht und vor seiner Frau damit angegeben, dass er einen neuen Zeitschalter für seine Elektronik-Firma entwickelt hatte, der unglaublich klein, genau und vielfach programmierbar wäre. Er meinte sogar, "damit kann man, wenn man will, seinen Wecker gleich für die ganze Woche stellen". Marc hatte das vorgestern getan. Er hatte ihn auf Toms und Jamies Lebensende gestellt, sekundengenau: Heute, um sieben Uhr sieben und sieben Sekunden, für sieben Jahren Ehe.
"Die ist ja richtig schwer", sagte er, "wie viel Gold steckt da drin?"
"Nicht besonders viel", sagte Jamie, "das ist wieder der alte Trick mit der Haut aus Gold und dem Kern aus Knetmasse."
Erschreckt stellte Tom die Figur ab. "Das ist keine Knetmasse!" rief er bestürzt.
"Ach komm, Tom, das hatten wir schon bei den anderen Figuren", sagte Jamie. "Willst Du diese hier auch noch auseinander nehmen und dich wieder blamieren? Da ist kein Sprengstoff drin."
Tom starrte aber immer noch entsetzt auf die Figur.
"Dieses Mal habe sogar ich selbst die Knetmasse abgeholt, sie eingefüllt und die Figur festgeschraubt, weil Marc vor der Reise noch kurz weg musste", sagte Jamie, um ihn zu beruhigen.
"Du hast selbst ..."
Tom blickte sie ungläubig an.
Er hatte damals nur einen dieser "Superschalter" bei Tom geordert und in die Eieruhr eingebaut. Man konnte nun über zwei Schalter in ihrem Inneren die Dauer bis zum Klingelton einstellen. Der dritte, große Knopf außen war dazu da, die Uhr an oder aus zu schalten. Bei jedem neuen Einschalten lief die Uhrzeit wieder von vorne los. Am Ende des Countdowns begann die Uhr zu klingeln und die Digitalanzeige zählte während des Klingelns noch einmal von sieben nach null.
Nach kurzer Zeit hatte Marc den Schalter manipuliert, so dass er nicht mehr funktionierte und Tom musste einen zweiten nachliefern. Den ausgetauschten Schalter mit der alten Klingel fischte er später aus dem Abfall und hob ihn auf. Er ging ja noch, wenn man die Kontakte wieder richtig verband. Es war für ihn eine große Genugtuung, dass der Elektroniker Tom die Elektrik seiner eigenen Erfindung nur soweit verstand, wie er sie selbst konzipiert hatte. Er liebte Spezialisten. Der nächste Schritt bestand nun darin, Jamie und Tom an die "Knetmasse" zu gewöhnen und die Angst vor einer Bombe in ihnen wachsen zu lassen.
Marc hatte lange darüber nachgedacht, ob er es überhaupt riskieren sollte, dass sie eine Ahnung davon haben sollten, aber dann war er sich sicher: Er musste es tun, um sie wirkliche Todesangst spüren zu lassen, diese letzte Angst, vor der er sich selbst so sehr fürchtete. Diese Angst sollte langsam in Ihnen aufsteigen, sollte sich steigern und wachsen, um am Ende zur tödlichen Gewissheit zu werden.
Sein Plan war gut, weil er einfach war, und er täglich seine Opfer beobachten konnte, sehen konnte, wie sie sich weiter entwickelten, wie sie hinein wuchsen in ihre Aufgabe, und er mit ihnen üben konnte bis zu dem Tag, an dem er sie endlich bestrafen würde. Sinnigerweise wählte er die Eieruhr als Ansatzpunkt für das gemeinsame Training.
"Ja, ich habe dieses Mal alles selbst gemacht", sagte Jamie überlegen.
"Selbst gemacht ...", wiederholte Tom, immer noch auf das Gold stierend.
"Jetzt stell' dich nicht so an!", beschwichtigte ihn Jamie, "Im Amor war damals ja auch 'Sprengstoff', und Du musstest damit sofort zur Polizei. Mein Gott, war das peinlich!"
Tom sank etwas in sich zuammen.
"Und guck doch hin: Da stecken 30.000 Dollar Gold in der Figur. Marc ist viel zu geizig, um soviel Geld einfach in die Luft zu jagen."
Das schien Tom allmählich zu überzeugen. Aber er wehrte sich noch dagegen, dass es wieder keine Bombe war. Seit der Geschichte mit der Eieruhr fühlte sich in dieser Wohnung sehr unwohl. Überall konnte eine Bombe stecken. Nur Jamie wollte das nicht bemerken.
Ihre Eieruhr - in Gestalt eines Eis, das man in der Mitte aufschrauben konnte - war durch die Klingel und den neuen Schalter etwas kopflastig geworden, weil die großen Batterien in der unteren Hälfte nicht mehr nötig waren. Das Ei blieb kaum noch auf dem platten Ende stehen. Um dem abzuhelfen hatte er die untere Hälfte mit Knetmasse aufgefüllt, und dann - als kleinen Gag - einen dicken roten und blauen Draht hineingesteckt und oben mit irgendeinem Metallstück der Klingel verlötet. Schließlich ahnten Tom und Jamie noch nichts von seinem Plan. Das sollten sie aber: Zur Angst gehört schließlich auch die Ahnung.
Tom war wieder einmal bei ihnen zu Besuch und machte sich seine Eier selbst, als er beim Klingeln der Uhr bemerkte, dass sie an diesem Tage anders klang. Jamie war das zwar aufgefallen, auch hatte sie bemerkt, dass die Uhr jetzt schwerer war und wieder vernünftig stand. Damit war sie aber zufrieden. Tom dagegen schnappte sich die Uhr und schraubte ihren Deckel ab, um noch während des Klingelns zu prüfen, was sich verändert hatte. Das größere Gewicht bemerkte er ebenfalls sofort. Als er den Deckel hob, erblickte er unten eine gelblich-graue Masse und zwei Drähte die in ihr steckten. Die Anzeige der Klingeldauer schaltete gerade auf Null.
Marc und Jamie hörten nur einen gewaltigen Schrei und stürzten zur Küche. Dort stand Tom starr vor Schreck mit einem kalkweißen Gesicht und einem feuchten Fleck an seiner Hose, wobei er die Eieruhr immer noch verkrampft umklammerte. Als er aber Marc und Jamie erblickte, wollte er zunächst auf Marc losstürzen, packte dann aber nur die Uhr und zertrampelte sie mit lauten Flüchen auf dem Boden. Während Jamie keinen Schimmer hatte, was vor sich ging, musste Marc auf den Gang gehen, um genug Luft für sein schallendes Gelächter zu kriegen, während von drinnen nur ein "Ich bring ihn um, ich bring ihn um ..." zu hören war, von der beschwichtigenden Stimme Jamies unterbrochen.
Jamie konnte über diese Szene anfangs gar nicht lachen, sie war sogar richtig sauer deswegen; später aber hatte sie diese Geschichte immer gerne als Trumpf gegen Tom benutzt. Sie fand es fast schon amüsant, wie Marc den hochgelobten Schalter von Tom mit den Drähten und der Knetmasse kommentiert hatte. Allerdings glaubte sie ab diesem Zeitpunkt eine gewisse Eifersucht von Marc auf Tom zu bemerken. 'Vielleicht wegen seiner ständigen Angeberei', dachte sie, war sich dessen aber nicht so sicher. Umso mehr konzentrierte sich darauf, ihr Geheimnis vor Marc zu bewahren.
Die Eieruhr wurde schließlich noch ein drittes mal konstruiert, zwar ohne Drähte, aber wieder mit Knetmasse, sehr zum Ärger von Tom. Danach begann Marc systematisch alle möglichen Dinge in der Wohnung mit Knetmasse auszustopfen. Erst vor zwei Monaten schließlich, als zum zweiten Mal in Folge eine Füllung von Tom - vielleicht auch von Jamie - nicht mehr überprüft wurde, hatte er überall die Knetmasse gegen richtigen Sprengstoff ausgetauscht, auch in der Eieruhr, weil er beobachtete, dass sie zuvor die Knetmassen miteinander verglichen hatten. Wie gesagt, es war vor allem Tom, in den sich die Angst vor einer Bombe eingefressen hatte, vielleicht wegen der Eieruhr. Er wusste nicht warum, aber Jamie vertraute ihm noch immer.
Tom ließ sich auf seinen Sessel fallen. Am liebsten hätte er auch diese Figur zerlegt, aber er war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass er wieder nur Knetmasse gefunden hätte, bestenfalls Knetmasse mit einer blöden Attrappe von Zünder, wie damals bei der Eieruhr. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Marc diese dummen Scherze nur wegen ihm angefangen hatte. Aber warum? War er eifersüchtig auf ihn? Er wusste doch nichts. Oder doch? Da Jamie diese Skulptur sogar selbst gefüllt hatte, wollte er sich vor ihr nicht völlig blamieren. Immer noch beunruhigt fragte er: "Bist du sicher, dass du Knetmasse eingefüllt hast?"
"Absolut. Ich kann Dir sogar die Packung und die Reste zeigen. Ich hab' die Packung selbst im Laden abgeholt, sie war eingeschweißt, und ich hab' das Zeugs dann direkt in die Figur gestopft. Ich hab' sogar gestern Abend noch einen Rest mit der Eieruhr verglichen. Fühlt sich genauso an und sieht genauso aus. Du kannst Dich ja selbst überzeugen, er liegt noch in der Küche."
"Ich verstehe immer noch nicht, wieso er Knetmasse in alle möglichen Figuren füllen muss?" wunderte sich Tom, worauf Jamie ihn belehrte:
"Das hab' ich ihn gestern auch wieder gefragt, als er darauf bestanden hatte, diese Figur auszustopfen."
"Und?"
In der Figur war fast unsichtbar der Zünder eingebaut und in den Fingern stecken die Batterien für die nötige Spannung. Die Eieruhr hätte mit ihrer läppischen Batterie nie explodieren können, auch nicht, wenn wie hier noch zusätzlich ein Kondensator eingebaut worden wäre, der sich während der letzten sieben Sekunden des Klingelns auflädt um dann für den nötigen Spannungspuls zu sorgen. Die gesamte Anlage war zusammen mit der Klingel hinter einer Metallschicht verblendet. In diese Metallschicht waren kaum wahrnehmbar die beiden Kontakte zum Sprengstoff eingelassen. In der linken Hand steckte das Original der Klingel aus der Eieruhr. Damit man sie auch richtig hören konnte und von der Knetmasse nicht alles abgedämpft würde, waren winzige Ritzen unter den Fingernägeln und an den Stellen an denen sich die Hände berühren frei geblieben. Er hatte es getestet. Das Klingeln war fast genauso laut wie das Klingeln der Eieruhr und klang ihr verdammt ähnlich. Außerdem vibrierte die Figur ein wenig.
Marc setzte sich hinter das Ruder und zog die Sandalen aus. Er war noch nie so aufgewühlt gewesen wie an diesem Tag. Dabei musste er doch nur in aller Ruhe mit dem Boot und den falschen Papieren, die ihm sein Kontaktmann besorgt hatte, nach Kuba fahren. Sogar das Geld und die Goldskulptur waren in den Papieren für das Boot verzeichnet. Offiziell war er ein Kurier für einen reichen kubanischen Militär-Bonzen und einen amerikanischen Senator. Bei einer Kontrolle konnte daher nichts schief gehen. Nicht einmal gierige unterbezahlte kubanische Soldaten würden es wegen dieser Namen auf seinem Lieferschein wagen ihn auszunehmen. Es geht eben nichts über eine gute Planung.
Er überprüfte den Kompass. Er musste etwas korrigieren, scheinbar beschrieb das Boot mit dem festgetäuten Ruder gerade einen riesigen Kreis, aber er war bisher nur geringfügig vom Kurs abgekommen. 'Ach egal, Kuba ist nicht sehr weit und liegt in voller Breite vor der Südküste von Florida', dachte er, 'kaum zu verfehlen'. Der Geschwindigkeitsmesser zeigte läppische acht Knoten. Das war nicht viel, aber immer noch schneller, als irgendjemand schwimmen kann. Sein Kontaktmann hatte sicherlich recht: 'Die langsamen alten Boote, die von den Staaten wegfahren, die interessieren niemanden.'
"Es ist eigentlich ganz einfach: Knetmasse ist der ideale Stoff um so eine Figur schwerer zu machen. Du hast doch selbst vorhin gleich als erstes die Skulptur in die Hand genommen, um zu sehen, wie schwer sie ist. Je schwerer, desto teurer und besser - nicht?"
"Stimmt", überlegte Tom, "aber warum gerade Knetmasse? Da kann man doch alles mögliche nehmen?"
"Nicht unbedingt. Marc meint, Knetmasse ist dafür am besten geeignet: Es greift das Gold nicht an, gute Knetmasse riecht nicht, schrumpft nicht, klappert nicht, läuft nicht aus, und wenn man sie wirklich einmal loswerden will, dann kratzt man sie wieder raus. Einfach perfekt."
"Und zum Angeben stopft er seine Figuren zu Hause alle aus. Super. Als ob das Zeug nicht so schon teuer genug wäre." Tom war beleidigt.
Er fragte aber noch einmal nach: "Du bist Dir wirklich sicher, dass in der Figur kein Zünder ist?"
"Ja", sagte Jamie, "weder in dieser Figur, noch in der anderen. Aber - ist doch sowieso nur Knetmasse."
Arme Jamie. Eigentlich liebte Marc sie noch immer. Dass Tom es war, der ihn hintergangen hatte, das hatte ihn weitaus schlimmer getroffen. Schließlich war er sein bester Freund. Seine Uhr sagte ihm, dass es nur noch vier Minuten wären, die er warten musste, bis er auf sein neues Leben anstoßen konnte. Sein Blick glitt über sein Original der Skulptur. Jamie und Tom würden durch eine goldüberzogene Fälschung sterben. Seine Figur war massiv. Aber die Fälschung war zu gut. Selbst er konnte höchstens im direkten Vergleich den Unterschied bemerken, oder, wenn er einen Kratzer in die Figur machte, denn der Überzug der Fälschung war nur hauchdünn.
Eigentlich wollte er sie unter Deck lassen, weil eine Goldskulptur von dieser Größe an Deck kaum zu übersehen war. Aber hier, auf offener See, mehr als zwanzig Meilen von der Küste entfernt und bei beginnender Dämmerung war das kein Risiko mehr. Da war das Risiko viel größer, dass sie durch den leichten Seegang ins Rutschen käme und irgendwo einen Kratzer oder eine Delle abbekommen würde. Gold war da viel empfindlicher als das härtere Material der Bombe. Deswegen hatte er noch schnell die Bodenplatte der Figur mit zwei Schrauben auf dem Kajütendach festgemacht. Die Bodenplatte war ihm egal. Im Augenblick seines Triumphes wollte er an Deck schwer mit Goldketten geschmückt die Skulptur streicheln, einen Schluck auf Tom und Jamie trinken und dabei leise in den Sonnenuntergang schippern. Wenn tatsächlich ein Schiff vorbei käme, dann wäre die Figur in einer Minute unter Deck verschwunden. Auf offener See konnte sich kein Schiff so einfach anschleichen.
"Welcher anderen Figur?", wollte Tom wissen.
"Na, die zweite identische Figur, die er heute verkaufen wollte. Deswegen ist er nach Florida runter geflogen und wollte vor zwei Stunden wieder zurück sein."
"Er hat diese Figur zweimal angefertigt?"
"Ja, weil sie mir so gut gefallen hat. Marc bemerkt so etwas", sagte sie schnippisch.
"Ja ja, Dein fürsorglicher, lieber und treuer Gatte. Ich muss gleich kotzen." Tom konnte diese Vorwürfe nicht aushalten, sie nagten ständig an seinem Selbstwertgefühl, genauso wie die unbefriedigende Tatsache, dass Jamie sich immer noch nicht von Marc getrennt hatte, eigentlich überhaupt keine Anstalten machte, sich wirklich von ihm trennen zu wollen. Tom hasste das. Er begann wieder innerlich zu brodeln.
"Dieser Termin war wirklich wichtig für ihn. Scheinbar hatte er sich noch weitere Aufträge erhofft."
Tom nahm noch einmal die Figur in die Hand.
"Wieviel Gold ist in der Figur?"
Er hatte lange getüftelt, bis Bombe und Original genau identisch im Gewicht waren, weil der Sprengmechanismus auszugleichen war. Da aber Gold schwerer als die anderen Materialien ist, war dieses Problem leicht zu lösen. Zufrieden legte er seine Hand auf die Skulptur. Marc versuchte sich die Gesichter von Tom und Jamie vorzustellen, wenn sie plötzlich aus dem Bauch der Figur das Klingeln der Eieruhr hören würden, und beide dann sicherlich an die Attrappe von damals denken mussten. Nur dieses Mal waren zwei wesentliche Kleinigkeiten anders: Er, Marc, war nicht da und die Bombe hatte 6 Kilo. Es würde keine zwei Sekunden dauern, bis sie dahinter kämen, was da wirklich in ihrer Wohnung stand. Damit blieben ihnen fünf ganze Sekunden Todesangst. Eigentlich ein bisschen wenig, aber er wollte kein weiteres Risiko eingehen. Marc blickte wieder auf seine Uhr. Nur noch etwa zweieinhalb Minuten bis dahin. Ja, sie sollten wissen, wer sie tötete, und sie sollten sich fürchten und vergeblich um ihr Leben laufen. Ein plötzlicher Tod wäre zu einfach gewesen. Er wollte, dass sie sich fürchten, schrecklich fürchteten, weil er selbst eine furchtbare Angst vor dem Sterben hatte, vor allem vor einem langsamen bewussten Tod, bei dem man lange vergeblich alleine um sein Leben kämpft und zu Beginn schon weiß, dass man keine Chance hat, weil die Nacht des Todes unaufhaltsam nach einem greift.
Dieses Mal war er mit der Knetmasse besonders frech gewesen. Vor zwei Wochen hatte er über einen Laden in der Stadt diese Masse bei einer Firma geordert, von der nur ein Postfach existierte. Dieses Postfach gehörte der Organisation und wurde zum Bestellen von heißen Materialien verwendet. Da Plastiksprengstoff abgepackt völlig harmlos ist, hatten sie die 'Knetmasse' einfach an den Laden geliefert. Jamie selbst war vor zwei Tagen dort gewesen und hatte die eingeschweißten Päckchen abgeholt. Dass sie die 'Knetmasse' für die Lieferung "Booomerang" genannt hatten, fand er fast schon lustig. Jamie tat ihm plötzlich etwas leid. Er wusste, sie liebte ihn noch immer.
Langsam verstrichen die Sekunden. Marc folgte dem Zeiger. Es dunkelte bereits.
Tom und Jamie würden die Wohnung nicht mehr verlassen können, wenn sie die Klingel hörten. Die Türschließanlage war so programmiert, dass man ab 19:00 Uhr die Wohnungstür nur noch mit dem Schlüssel öffnen konnte. Aber ihren Schlüssel fand Jamie nie unter zwei Minuten. Er mochte diese kleinen Nachlässigkeiten an ihr. Auch hatte er Tom bereits für 18:30 zum gemeinsamen Abendessen bestellt. Sie warteten nun sicherlich beide mittlerweile angespannt in der Wohnung. Diese Anspannung war wichtig: Ohne Anspannung keine Todesangst.
"Knapp zwei Kilo Gold", sagte Jamie, "das ist eigentlich nicht viel, die Goldwand ist daher auch wirklich sehr dünn."
"Zwei Kilo ..."
Tom dachte nach.
"Wieviel Dollar sind das nochmal?"
"Etwa 30.000."
"Unmöglich", sagte Tom, "der alte Geizkragen macht Dir nie und nimmer ein Geschenk von 30.000 Dollar. Bei dem Umsatz, den er macht, wäre das zwar sicherlich drin in einem Jahr, aber nicht für Dich."
"Du bist doch bloß neidisch, weil Du so etwas nie machen würdest!"
"Du bist doch bloß neidisch, weil Du so etwas nie machen würdest!", äffte Tom sie nach. "Was heißt hier nie machen würdest? Ich hab' nicht so viel Kohle! Du bleibst ja auch nur wegen dem Geld bei ihm."
"Das ist nicht wahr!". Jetzt hatte Tom es geschafft, dass auch sie kochte.
Wegen der Fenster musste er sich keine Sorgen machen. Seine Wohnung lag im Erdgeschoß und in diesem Stadtteil konnte man dort nicht ohne vergitterte Fenster sicher sein. Auch hatte er die Abmessungen seiner Skulptur bewusst so groß dimensioniert, dass sie mit der Bodenplatte durch die Gitterstäbe nicht hinausgeworfen werden konnte. Auseinander schrauben in fünf Sekunden? Unmöglich. Es war ein geschlossenes System: Drinnen die Bombe mit den ahnenden Opfern - draußen die unwissende, sündige Welt.
Gestern war er sehr spät nach Hause gekommen, und er hatte absichtlich keinen Blick mehr auf die beiden Skulpturen geworfen. Er war sich sicher, dass Jamie die Figur bis heute Abend auffüllen und fertig zusammengesetzt auf dem Wohnzimmertisch präsentieren würde, so wie sie beide das gewollt hatten. In dieser Hinsicht war Jamie unglaublich zuverlässig. Er hätte sich keine bessere Komplizin wünschen können. Heute morgen war er noch vor Jamie für den Frühflug aufgestanden, und hatte sich in aller Eile zurechtgemacht und alles eingepackt. Irgendetwas sagte ihm, dass es nicht gut wäre, am letzten Tag lange mit ihr zu sprechen. Mit Stolz und etwas Wehmut hatte er in der Werkstatt bemerkt, dass beide Figuren auf ihrem Podest standen. Die leichte, ungefüllte auf dem braunen, so wie er sie hinterlassen hatte, und die schwere auf dem schwarzen. Er hatte die Figuren zweimal hoch gehoben um ganz sicher zu gehen: Ihre Figur war gefüllt, seine war leer. Auch war der Sprengstoff fast völlig aufgebraucht. Schnell hatte er noch die letzten Reste davon verschwinden lassen, bevor er das Taxi zum Flughafen nahm.
Den letzten Schritt seiner Vorbereitung hatte er erst gestern Abend ausgeführt. Zunächst hatte er sich mit Theo getroffen, der in den letzten drei Jahren sein neuer bester Freund geworden war. Ihm hatte er noch einmal das Amulett gezeigt, das er von ihm geschenkt bekommen hatte und dann über die alten Zeiten gesprochen. Etwas später hatte er bemerkt, dass er Tom mistraue, dass er sich sogar vor ihm fürchte und dann wieder die Eieruhr-Geschichte aufgewärmt. Er hatte dann auch noch etwas allgemeines über Bomben geplappert. Abgeschlossen hatte er das Treffen mit der Nachricht, dass er morgen mit seiner Frau alleine Geburtstag feiere und einem weiteren unverfänglicheren Thema. Wenn sein Freund von der Explosion hörte, dann wüsste der sicherlich, was der Polizei zu erzählen wäre. Tom aber wäre sinnigerweise plötzlich spurlos verschwunden.
Danach hatte er sich ganz kurzfristig mit Tom getroffen und ihm sein Amulett geschenkt, weil Tom ihm zuvor einen neuen Laptop über seine Firma zu einem Spottpreis beschafft hatte. Das war geplant, damit Tom wegen dem Amulett nicht zu mistrauisch wäre. Er hatte Jamie extra vorher eingebläut, dass diese Rechner ziemlich teuer wären um sicher zu sein, das Tom ihm einen guten Preis dafür machen musste. Er war sich auch sicher, dass Tom das Amulett unter dem T-Shirt tragen würde: Tom mochte das Gefühl von Gold auf seiner Haut. Zudem würde Jamie heute an seinem Geburtstag Tom sicherlich nicht an die Wäsche gehen. Das Amulett würde sie also nicht bemerken. Aber selbst wenn ...
Marc warf wieder einen Blick auf seine Uhr. Noch vierzig Sekunden. Langsam tuckerte das Boot in den Sonnenuntergang, mit seinen acht Knoten. ' ... schneller als jemand schwimmen kann ... ', dachte Marc noch einmal, als er die Wellen wie Raupen an sich vorbeikriechen sah.
"Ich werde dir jetzt etwas beweisen," sagte Tom, und seine Augen begannen böse zu blitzen.
"Was?" Jamie war leicht irritiert vom Toms eigenartigem Blick.
"Ich werde dir beweisen, dass dein Gatte nichts für dich übrig hat?".
"Was?" Jamie verstand ihn noch nicht.
"Ich werde Dir zeigen, dass dieses blöde Ding da keine 30.000 Dollar wert ist, auf keinen Fall."
Tom schnappte sich die Skulptur.
"Was ... was hast Du vor?", Jamie ahnte Schlimmes.
"Da, jetzt pass mal auf!"
Tom griff nach seinem Messer und holte aus.
Das Amulett war das einzige, was er getan hatte, um die Spur von ihm abzulenken, aber die Chancen standen gut, dass man es ihm glaubte. Er wusste, dass Tom und er die gleiche langweilige Blutgruppe hatten, wenn man das später noch feststellen konnte. Gasherde in einer explodierten Wohnung sorgen meist für etwas Feuer. Auch waren sie beide in etwa gleich groß und hatten keine Löcher in den Zähnen, es gab keine nahen Verwandten, um die Gene zu vergleichen, auch die Eltern waren schon tot. Das Schicksal war dieses Mal gut zu ihm gewesen. Aber selbst wenn sie es nicht schlucken würden: Er war in Cuba, und nur die Organisation wusste davon. Die würden es sicher nicht verraten.
'Oh - nur noch ein paar Sekunden', dachte Marc und hob noch einmal das Glas an seine Lippen. "Ich trinke auf euch, Jamie und Tom, euch, eure Treue, eure Ehrlichkeit und Zuneigung", sagte er leise in die untergehende Sonne. "Nur noch ein paar Sekunden, dann gehört ihr zusammen, in guten wie in schlechten Tagen." Dabei fühlte er sich wieder hin und her gerissen, als er an Jamie und Tom dachte. Arme Jamie. Er blickte nochmals auf die Uhr. Nichts ging mehr, er konnte niemanden mehr warnen, nicht einmal, wenn er es wollte. Nur noch zehn Sekunden, acht, sieben, sechs, ... So aufgewühlt wie er war, schienen auch seine Gefühle kurz vor der Explosion ... , drei, zwei, eins.
Er schloss die Augen und hörte dass Klingeln der Glocke in seinem geistigen Ohr, es nahm schon fast Gestalt an, hier auf dem Schiff, nein, es klang fast real, nein, es war real, es erklang laut, deutlich, direkt vor ihm, aus seiner Skulptur.
Im Bruchteil einer Sekunde riss er weit seine Augen auf wurde bleich vor Schreck. Sein Drink fiel wie von selbst in seinen Halter zurück und reflexhaft griff er an die Skulptur. Kein Zweifel, sie vibrierte. Aber wie war das möglich? Er hatte nur noch fünf Sekunden. Schweiß stand auf seiner Stirn. Er musste die Skulptur loswerden. Ja, wegwerfen, sofort! Unmöglich! Er hatte sie festgeschraubt. Noch vier Sekunden. Er musste sich in Deckung bringen - Hoffnungslos, die Bombe würde alles zerfetzen. Noch drei Sekunden. Er musste ins Wasser, sofort, und untertauchen - seine Rettung! Noch zwei Sekunden. Er sprang. Noch eine Sekunde. Er tauchte. Er tauchte tiefer, die Goldketten um seine Schultern und seine Arme halfen ihm dabei, er tauchte weiter, aber er hörte nichts, nichts, kein Knall, kein Buuummm, nichts.
Das Gold zog ihn immer weiter hinab. 'Verdammtes Gold', dachte er. Die Explosion blieb aus und er sank immer tiefer. Er wollte nach oben. Er kämpfte gegen den Sog, gegen die glänzende Last, aber er kam nicht vorwärts, keinen Schritt, sondern bemerkte nur, dass die Dunkelheit weiter um ihn wuchs. Er fühlte die Kälte unter sich, die wie der kühle Hauch des Todes langsam nach ihm fassen wollte. Er ahnte sie, die tödliche Einsamkeit unter sich und das leise Sterben des Ertrinkenden in der Nacht. Getrieben von einer panischen Angst riss er sich alle Ketten vom Hals und schwamm, schwamm um sein Leben, hinauf, zurück an die Oberfläche.
Als er endlich oben ankam, fühlte sich der erste Atemzug an wie eine zweite Geburt. Ihm lief es heiß und kalt über den Rücken und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Seine Figur war leer, hohl, kein Sprengstoff, sie konnte nicht explodieren! Er hatte es doch die ganze Zeit gespürt, als er sie mit sich getragen hatte, den ganzen Tag. Sie war zu leicht. Er verstand nicht, wieso er die falsche Figur bei sich hatte. 'Jamie muss die falsche Figur gefüllt haben', dachte er, ' - aber wieso? Sie ist doch sonst so gewissenhaft! Die andere Figur war doch schon fertig montiert!'. Aber egal, damit durfte er sich jetzt nicht aufhalten, er musste schleunigst zurück zum Boot. In seinem Innersten war er froh, dass Jamie doch überlebt hatte, nur Tom's Überleben ärgerte ihn.
Die Rückseite des Bootes war nur etwa vierzig Meter von ihm entfernt, keine große Distanz für einen guten Schwimmer wie ihn. Langsam tuckerte das Boot durch die Wellen vorwärts, von ihm weg mit nur acht Knoten. Als er aber hinterher schwimmen wollte, da fiel es ihm wieder ein: Acht Knoten, schneller als ...
Nervös saß Jamie anderntags in ihrem Wohnzimmer und starrte auf den Kratzer und das Loch an der goldenen Skulptur. 'Ob Tom recht hatte und die zweite Figur eine Fälschung war? Marc würde dann die Fälschung verkaufen.' Sie grübelte. 'Ist er deswegen nicht zurückgekommen?' Sie fühlte sich schuldig. Irgendwie spürte Jamie, dass Marc nie wieder zurückkehren würde.
Ihr fiel plötzlich auf, wie eigenartig sich Marc in letzter Zeit verhalten hatte: Zunächst durfte sie nicht an die Skulptur herantreten, aber schließlich, da sollte sie die Figur sogar ausstopfen, weil Marc geschäftlich weg musste. Nur hatte sie bei ihrer Arbeit nicht Acht gegeben und der anderen Figur, die bereits fertig montiert daneben stand, auf der Unterseite einen tiefen Kratzer zugefügt. Sie hatte lange überlegt was sie nun machen sollte, aber weil Marc diesen Abend lange ausblieb, hatte sie einfach die beiden Figuren ausgetauscht, die Knetmasse umgefüllt und sie vertauscht auf den Brettern montiert, schließlich waren beide identisch. Sie wollte nicht, dass Marc sich mit der zerkratzten Figur blamierte. Schließlich schien der Termin verdammt wichtig zu sein, weil er sogar an seinem Geburtstag in aller Frühe die drei Stunden bis Florida fliegen musste. Wäre etwas mehr Zeit gewesen, dann hätte sie es Marc sicher gesagt. Aber so hatte sie es einfach ausgenutzt, dass man die Knetmasse sehr leicht austauschen konnte. Die Abwesenheit von Marc bedrückte sie immer mehr.
Gestern, nachdem Tom mit einem Messer ein Loch in die Figur geschlagen hatte, um ihr zu beweisen, dass diese Figur nur eine Fälschung und eine Bombe wäre, da war ihr schließlich der Kragen geplatzt und sie hatte ihn mit seinen ständigen Verdächtigungen und seiner Gereiztheit, wenn es um Marc ging, einfach vor die Türe gesetzt. Danach ging es ihr gleich wieder viel besser. Später am Abend hatte sie die Polizei vom Verschwinden ihres Mannes benachrichtigt.
Als sie heute Morgen aufstand, war sie auch gleich von zwei Beamten aufgesucht worden, die sie in der Küche empfangen hatte, weil die Skulptur immer noch im Wohnzimmer stand, und ihr in deren Nähe unwohl war. Nach der ersten Tasse Kaffee gingen die Beamten, und sie hatte die feste Gewissheit gewonnen, dass es so nicht weitergehen konnte: Sie musste sich von Tom trennen - unabhängig von dem, was mit Marc geschehen war. Diese Gewissheit gab ihr an diesem Tag einen kleinen Hauch von Zuversicht, den Schimmer einer Hoffnung, dass von nun an ihr Leben eine neue, bessere Richtung bekäme.
Mitten in die angespannte Stille in ihrer Wohnung hinein klingelte das Telefon.
"Frau Brown?"
"Ja, mit wem spreche ich denn?"
"Hier ist Carter, Inspector Carter von der Polizei."
Ungeduldig fragte sie ihn: "Wissen sie schon etwas über meinen Mann?"
"Nein, wir wissen leider noch nichts Bestimmtes, aber wir haben jetzt eine Spur."
Jamie lauschte gespannt.
"Die Küstenwache hat heute morgen ein Schiff vor Florida heraus gefischt, das ohne Besatzung in Richtung Kuba fuhr."
"Was ... was hat das mit meinem Mann zu tun?" wunderte sich Jamie, sichtlich erregt.
"Das Schiff war aufgefallen, weil es beinahe einen Kreuzfahrer gerammt hätte und nicht ausweichen wollte. An Bord befand sich niemand, aber dafür eine Menge Gold, sehr viel Geld, sogar eine große goldene Skulptur, festgeschraubt neben dem Steuerrad. Auch fand man die Papiere ihres Mannes und die eines gewissen Mr. Miller, für den das Schiff eingetragen ist. Wissen sie etwas über ihn?"
Jamie überlegte, "Nein", Marc hatte diesen Namen nicht erwähnt.
"Wir stehen hier vor einem Berg von Rätseln. Ich würde gerne bei Ihnen in einer halben Stunde vorbeikommen: Ich habe noch sehr viele Fragen an sie. Haben sie etwas Zeit für mich?"
"Ähm, ja, ... ja, das geht." Jamie war sichtlich durcheinander.
"Gut, ich komm dann vorbei. Bis dann."
"Bis dann."
Jamie schluckte schwer und schloss die Augen. Eine Ahnung begann in ihr aufzusteigen, dass sie den Tod ihres Ehemannes verschuldet haben könnte. Ihr Gewissen fing an zu brennen und nahm ihr die Luft. Noch während sie fast wie in Trance den Hörer langsam auf die Gabel legte, wusste sie, dass die Skulptur aus ihrem Leben verschwinden musste, heute noch. Auch musste sie Ordnung schaffen in ihrem Leben, endlich einen Schlussstrich ziehen unter alle Lügen und Heimlichkeiten, die sie umgaben. Auch war sie sehr überrascht davon, dass Marc mit einer Menge Geld und Gold nach Kuba reisen wollte. Wieso nur hatte er ihr nichts davon gesagt?
Und noch während sie dies dachte, noch während ihre Gedanken zwischen Schuld und Angst, zwischen Fragen und der Ungewissheit der Zukunft hin und her hetzten, da begann ihre Seele bereits leise und unbemerkt mit einem langen, unbeschwerten und endlich befreiten Urlaub auf Kuba.