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Der Austernfischer
Der Austernfischer
Ich war gern allein am Inselstrand unterwegs, an dem sich kaum ein Mensch zu einem Spaziergang verirrte. Es war Frühling, die Luft klar. Die Tage wurden länger und ich spürte die wärmende Sonne. Ich arbeitete auf der Insel als Fluglehrer an der Flugschule. Heute Nachmittag hatte ich frei, wollte mir den frischen Seewind um die Nase wehen lassen und meinen Gedanken nachhängen. Während ich am Strand entlang ging klebte der feuchte Sand unter meinen Füßen und die Gischt der Wellen hinterließ einen leichten Salzgeschmack auf meinen Lippen. Möwen umkreisten mich. Ich war ein Eindringling in ihre Welt und sie kreischten mich empört an. Tausende von Muschelschalen übersäten den Strand. Die am häufigsten vorkommenden Arten waren Schwertmuscheln, Miesmuscheln und Herzmuscheln, von unterschiedlicher Größe. Das Perlmutt im Inneren der Schalen schillerte im Sonnenlicht in den schönsten Farben. Ich betrachtete die von Perlmut überzogenen Innenseiten der Schalen und verfolgte das Spiel der Farben. Der Faszination ihrer natürlichen Schönheit konnte ich mich nicht entziehen. Lebend entziehen sie sich unseren Blicken im Meer oder im Sand. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen gaben sie ihre Schönheit erst nach dem Tod frei.
Es ebbte und das Meer gab immer mehr Strand frei. Diese Zeit am Strand liebte ich besonders. Mit etwas Glück, konnte ich Bernstein oder andere Dinge finden, die mit der Flut angespült wurden. Gedankenversunken ging ich weiter. Inmitten eines Muschelfeldes sah ich einen dunklen Fleck, konnte aber nicht sofort erkennen, was es war. Neugierig näherte ich mich und fand eine Muschel, die sich in Form und Farbe von den anderen unterschied. Es war eine Auster. Ich wusste, dass sie ein zwittriges Muscheltier war, welches einsam oder in Muschelbänken im Halbdunkel des Meeres lebte. Ihre Schale war in ihrer Eigenart einmalig und von besonderer Schönheit. Geheimnisvoll zeigte sie sich von außen wild zerklüftet. Im Gegensatz zu andern Muschelarten, standen ihre scharfen Kanten bedrohlich hervor.
Ich hob sie auf und sah, dass die Schale noch geschlossen war. Das Tier lebte noch. Ich wurde neugierig. Austern können Perlen produzieren. Ob ich die Muschel gewaltsam öffnen sollte, um nachzusehen ob vielleicht eine darin verborgen war? Aber was war, wenn es keine gab? Dann hatte ich das Tier getötet, nur um meine Neugier zu befriedigen. Sollte der Muschel das Geheimnis, eine Perle zu besitzen, nicht bleiben? Unschlüssig steckte ich sie zunächst in die Tasche und ging weiter.
Ich dachte über die Menschen nach. Auch sie unterscheiden sich durch Größe und Form aber vor allem durch ihr Äußeres. Verborgen bleibt ihr Inneres. Anzusehen ist es ihnen nicht, ob sie ein Geheimnis haben oder eine Perle in ihnen schlummerte. Gewaltsam erzwungenes Herausgeben von Geheimnissen würde einen Menschen, ebenso wie eine Muschel, zerstören.
Inzwischen war die Sonne hinter dem Horizont versunken. Die Nacht hatte dem Tag das Licht genommen. Ich war entlang der vom Mondlicht beschienen Schaumkronen, der auf den Strand rollenden Wellen weitergegangen. Es wurde sternenklar und kühl. Die Möwen hatten sich in die Dünen zurückgezogen und am Horizont waren die Lichter der Dampfer an der Schifffahrtslinie zu sehen. Wohin sie wohl unterwegs waren? Auch ich begab mich gedanklich auf die Reise. Dabei kam mir ein liebgewonnener Menschen in den Sinn, von dem ich sicher war, dass er eine „Perle“ besaß. Ich fühlte die Auster in meiner Tasche, holte sie hervor und warf sie in hohem Bogen ins Meer.
Als die Muschel ins Wasser fiel, sah ich das Sternenbild Orion, das sich auf seiner Sommerreise nur noch knapp über dem Horizont zeigte. Eine Sternschnuppe fiel in Richtung Erde. Ein in dem Moment gefasster Wunsch soll bekanntlich in Erfüllung gehen. Meinen geheimsten Wunsch würde ich niemandem verraten. Zufrieden machte ich mich auf den Heimweg und freute mich auf einen geselligen Abend mit Freunden.