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Der Ausweg
Ich öffne die Augen und blinzele. Viel gibt es nicht zu sehen. Die Decke ist genauso weiß wie gestern, vorgestern und in den 363 Tagen davor, die ich in diesem Zimmer gelegen habe. So weiß, wie Wände in einem Krankenhaus nun mal sind.
Ich schaue natürlich nicht immer auf die Decke. Manchmal drehen sie mich zur Seite, um Druckstellen zu vermeiden, und ich kann für ein paar Stunden die Wand betrachten. Sie ist ebenfalls weiß und ich beschreibe sie am besten, wenn ich Sie bitte, sich die Decke vorzustellen.
Ein Autounfall brachte mich hierher. Ich stand am Straßenrand und überlegte gerade, ob ich noch zu Lidl reingehen sollte, um mir Thunfisch zu kaufen. Ich war nämlich gerade auf dem Ernährungstrip. Mein ganzes Leben lang war ich dick gewesen und als es passierte, hatte ich 8 Monate Diät hinter mir und Idealgewicht. Dann rammte mich etwas von hinten und ich flog auf einen Zaun zu. Als ich aufwachte, war ich hier.
Ich vermute, etwas ist in meinen Schädel gedrungen und hat mein Hirn zerstört, aber nicht vollständig. Es könnte auch die Wirbelsäule sein, aber dann wüssten sie, dass ich noch denken kann, und warum besucht mich dann niemand? Seit einem Jahr bin ich wach und niemand hat ein Wort mit mir geredet. Außer Schwester Sandra natürlich.
Dreht man mich auf die andere Schulter, sehe ich direkt auf den alten Herrn Gotthelf im Bett gegenüber. Ich hörte einen Arzt mal sagen, Herr Gotthelf sei früher einmal ertrunken, so für ungefähr 20 Minuten. Er betonte das früher, als liege Herr Gotthelf schon sehr lange hier, obwohl er doch kaum älter zu sein scheint als ich. In einem Schönheitswettbewerb hätte Gotthelf gegen die Wand keine Chance. Seine Hände biegen sich zu Klauen, die Augen quellen hervor, der Mund steht schief und reden tut er nicht mehr viel, außer einem dumpfen Stöhnen, wenn das Abführmittel wirkt.
Meiner bescheidenen Meinung nach würde sich so ein Gotthelf gut machen in einem Werbeprospekt für die Euthanasiebewegung. Mit den Euro, die seine Pflege im Monat kostet, könnte man in der III. Welt mindestens 50 Kinder vor dem Verhungern bewahren – 50 Kinder also für einen Gotthelf, der doch gar nicht mehr genug Gehirnzellen hat, um zwischen Tod und Leben unterscheiden zu können. Eine Eigenschaft, um die ich ihn beneide.
Wahrscheinlich komme ich ihnen jetzt zynisch vor, aber ich war nicht immer so. Ich war ein gemütlicher Dicker, der gerne Witze erzählte, Jura studierte und sich im Tierschutzverein engagierte. Zugegeben tat ich das nur, weil dort ein Mädchen war, das mich interessierte. Es war genau die, für die ich so viel abgenommen habe, aber besucht hat sie mich nie. Genau wie meine Eltern oder meine Freunde, die kommen auch nicht. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich momentan wenig kommunikativ bin, aber ich kann’s nicht ändern. Da ist es doch verständlich, wenn man ein wenig verbittert ist.
Auf dem Flur höre ich die Putzfrau, also ist es jetzt 6 Uhr und somit noch eine Stunde bis die Schwestern kommen und uns pflegen. Konservieren wäre der bessere Ausdruck: sie wechseln die Windel, machen den größten Dreck weg und füttern uns. Was in meinem Fall bedeutet, einen leeren Beutel am Ende eines Schlauches gegen einen vollen auszuwechseln. Das andere Ende des Schlauches verschwindet in meiner Nase, die Flüssigkeit läuft in meinem Bauch und kommt nach ein paar chemischen Prozessen, die nicht weiter erwähnenswert sind, wenn man von meinen Magenkrämpfen absieht, auf der anderen Seite wieder raus. Die Schwester bringt die Windel in den Müll, die Putzfrau den Müll heraus, der Müllmann transportiert ihn ab – und sie alle, die Schwestern, die Putzfrauen, die Müllmänner und die Windelproduzenten zahlen Steuern, mit denen das Krankenhaus mehr von der Flüssigkeit kaufen kann, die mir Magenkrämpfe verursacht. Ein gigantischer Wirtschaftskreislauf und ich mittendrin. Keiner, der mich fragt, ob ich das will. Manchmal habe ich Fantasien, in denen mich einer fragt, ob ich das will, und diese Fantasien beginnen meist damit, dass ich seinen Kopf in die Windel drücke und ihn zwinge, ebenfalls Teil des Kreislaufes zu werden.
In meinen Fingern und Zehen spüre ich manchmal noch ein Kribbeln. Im kleinen Finger ist es deutlich. Vielleicht zuckt er, wenn ich an ihn denke. Ich übe ständig. Das ist wichtig für den Plan, den ich habe. Der Plan, der mich hier rausbringen wird. Manchmal singe ich auch. Jetzt zum Beispiel.
Ich muss durch den Monsun
Hinter die Welt
Ans Ende der Zeit
Bis kein Regen mehr fällt ...
Es lief vor ein paar Monaten im Radio. Ich habe es einmal mitgesungen und jetzt kann ich nicht mehr aufhören. Immer wenn ich mich auf etwas anderes konzentrieren will, kommt dieses Lied. Manchmal muss ich es über eine Stunde lang singen, obwohl ich stattdessen lieber aufstehen würde und das Radio kaputt schlagen; dann zum Arzt, der mir das Leben gerettet hat, und ihm beide Daumen bis zum Anschlag in die Augenhöhlen drücken und vielleicht noch den Sänger besuchen, der dieses Lied komponiert hat, ihm zum Dank dafür seine Hosen runterreißen und mich über sein Schafsgesicht freuen, wenn er merkt, dass ich keine leeren Drohungen mache. Ein köstlicher Gedanke und wenn ich könnte, würde ich jetzt lachen.
Die Putzfrau geht, es ist 6 Uhr 15. Die Schwestern beginnen um sieben. Diese Woche ist Schwester Sandra für meine Pflege in der Frühschicht zuständig. Schwester Sandra ist mein kleiner Sonnenschein auf dieser Station. Ich werde die Zeit bis zu ihrem Erscheinen überspringen. Wenn Sie wissen wollen, was ich währenddessen gemacht habe, legen Sie sich auf den Rücken, sehen an die Decke, zählen bis 60 und multiplizieren das dabei entstehende Gefühl grenzenloser Langeweile mit 45. Um es noch realistischer zu machen, können Sie sich dabei auch in die Hose strullen.
7 Uhr: Auf dem Flur höre ich eine helle Stimme singen. Die Tür geht auf und ich höre, leise, tippelnde Schritte. Das ist Schwester Sandra. Sie arbeitet erst einen Monat hier. Ich erkenne die Schwestern am Gang. Schwester Erna trampelt wie ein Elefant und ihre schwieligen Hände packen gerne mal härter zu. Manfred, der schwule Pfleger, ist an sich korrekt, aber anscheinend ein Hygieneneurotiker; er besprüht mich immer mit Desinfektionsmitteln, als wäre ich eine Kakerlake. Oberschwester Claudia hat einen nervösen Gang und redet ständig von ihren Problemen: von ihren Kindern oder von der Wäsche, die sie noch waschen muss, wenn sie nach Hause kommt. Patienten sind für sie Fließbandarbeit – je eher sie mit ihnen fertig ist, desto schneller sitzt sie wieder in der Kaffeepause. Sandra erkenne ich schon am Geruch. Sie benutzt ein Parfüm mit Vanille.
Sandra kümmert sich zuerst um Herrn Gotthelf. Zum Glück muss ich nicht sehen, wie sie ihn wickelt – das wäre fast so schlimm, als sähe ich sie mich wickeln.
Sie kommt zu mir. „Wie geht es Ihnen, Herr Weidemann?“
Sie hat eine leise Stimme, fast schüchtern. Ich verstehe sie. Es muss für ein junges Mädchen eine große Belastung sein, hier zu arbeiten.
Sie wischt mit einem Tuch über mein Gesicht. Als sie sich über mich beugt, streifen ihre langen schwarzen Haare mein Gesicht. Dann dreht sie mich zur Seite und ich starre direkt auf Gotthelf. Gotthelf starrt auf einen Punkt ungefähr eine Million Kilometer hinter mir.
„So besser, Herr Weidemann?“ Sie beugt sich nach vorne und ich sehe ihren Ausschnitt, der aber keine Bedeutung mehr für mich hat – stattdessen konzentriere ich meine ganze Kraft auf meinen kleinen Finger. Er muss zucken, wenn sie mich anspricht. Ich muss wieder mit einem Menschen kommunizieren – und zwar nicht mit einer der anderen abgestumpften Schwestern, sondern mit Sandra, diesem schüchternen, mitfühlenden Wesen.
„So, Herr Weidemann, das hätten wir.“ Sandra geht und ich bin allein mit Gotthelf.
Noch sechs Stunden bis ein Uhr, dann werde ich Sandra wiedersehen. Am besten wird es sein, ich übe noch ein wenig. Ich muss mich beeilen, denn das Kribbeln in meinen Fingern und Zehen, das Einzige, was ich noch von meinem Körper spüre, wird immer schwächer; vielleicht fühle ich in einigen Monaten gar nichts mehr.
Das Fenster öffnet sich nicht mehr
Hier drin ist es voll von dir und leer ...
singe ich und fühle mich dabei ziemlich bescheuert. Aber wen interessiert’s?
13 Uhr: Aus dem Schwesternzimmer höre ich Lachen.
„Schade, dass heute dein letzter Tag ist, Sandra. Wir werden dich vermissen.“, sagt Oberschwester Claudia.
„Ich werde euch auch vermissen“, sagt Sandra. „Aber ich habe eine gute Stelle in Dortmund bekommen und so richtig weiterentwickeln kann man sich hier nicht.“
In mir steigt Panik auf. Wenn Sandra geht, sehe ich sie nie wieder.
Ich höre Klirren. Die Schwestern haben ihre Tassen abgestellt. Jetzt ist es 13 Uhr, Zeit für den letzten Durchgang: die Patienten wickeln, Medikamente verabreichen (in erster Linie Abführmittel) und natürlich die Flüssigkeiten an den Enden der vielen Beutel auswechseln, damit die Sodbrennen nicht nachlassen. Schon kommt sie herein.
„Guten Abend, Herr Weidemann; Guten Abend, Herr Gotthelf.“ Sie wickelt die alte Vogelscheuche zuerst. Auf einmal habe ich ein gutes Gefühl. Ich glaube, mein Finger zuckt. Diesmal wird es klappen. Ich fühle mich fast euphorisch. Vielleicht bin ich sogar verliebt. Dafür müsste ich mich nicht schämen, in gewisser Weise bin ich ja noch ein Mensch. Sandra kommt zu mir und schlägt die Bettdecke zurück ...
„Claudia”, ruft Sandra. „Kannst du mir einen Gefallen tun? Wo ich doch heute meinen allerletzten Tag habe?“
„Welchen denn?“
„Herr Weidemann hat abgeführt und das stinkt immer so. Kannst du ihn für mich wickeln?“
Sandra geht hinaus, Claudia kommt und wickelte mich wortlos. Ich versuche immer noch mit meinem Finger zu wackeln, aber nichts passiert. Natürlich nicht, ich bin nur ein Krüppel. Mit Morsezeichen hatte ich mich verständigen wollen, was für eine dumme Idee. Selbst wenn es geklappt hätte, Sandra hätte mein Fingerzucken einfach für einen spastischen Krampf gehalten, ähnlich den Zuckungen von Gotthelf.
Claudia schließt meine Windel und dreht mich wieder auf die Seite. Ich sehe Gotthelf direkt in die Augen. Gotthelf, mein alter Zimmergenosse, ich hätte es Sandra so einfach gemacht. Hätte ihr meine Situation geschildert und sie dann gebeten, mir ein Kissen auf das Gesicht zu drücken. Nachts und niemand merkt es. Kein großer Umstand für sie. Ein Akt der Nächstenliebe und für mich der Ausweg.
Noch ein Weilchen suhle ich mich im Selbstmitleid, dann stelle ich mich der Realität: ich werde Jahrzehnte hier liegen. Wie das ist, das weiß nur Gotthelf, und der kann es nicht sagen. Mir fällt auf, dass sich doch etwas an ihm bewegt – die Lippen zucken, so schwach, dass es den meisten Beobachtern nicht aufgefallen wäre, aber ich sehe es. Der Rhythmus kommt mir bekannt vor.
You are my heart
You are my soul …Er also auch – vielleicht hat Gotthelf so all die Jahre ertragen können? Durch Singen. Und Frohsinn – Singen ist gar nicht so schlimm, es schläfert ein, beruhigt, man muss an nichts anderes mehr denken ... warum also kämpfen, wofür, nur für den Stolz?
Ich muss durch den Monsun ... diesmal lasse ich die Stimme gewähren. Mit einem Triumphschrei füllt sie meinen Kopf – aber es ist nicht meine Stimme, sie ist heller, eher so wie die eines Kindes. Oder eines Zwerges. Plötzlich erkenne ich, was Gotthelfs Lippen formen – es ist nur ein einziges Wort: Nein sagt Gotthelf, immer wieder, NeinNeinNein, als wolle er mich warnen.
Die Ordnung geht verloren. Die Stimme beginnt zu kreischen. Aber aufhören geht nicht.