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Der böse Bart
Der böse Bart
Paul war vernarrt in seinen Bart. Jeden Tag hegte und pflegte er ihn mit seinem Kamm, mit diversen Wässerchen und Ölen. Er hatte einen dunklen Vollbart, der von seinem Kinn noch 20 cm hinab hing. Die Bewunderung, die er für seinen kraftvollen und glänzenden Bart erntete, bestärkte ihn noch in seinem eitlen Wahn, auch wenn ihm manche sagten, er triebe es zu weit. Natürlich ließ er sich von solchen Bemerkungen nicht irritieren. Diese Leute waren wohl nur neidisch, besonders, weil der Bart eine geradezu magische Anziehungskraft auf Frauen hatte. So lebte er sein Leben und sein ganzes Denken und Handeln war auf seinen Bart ausgerichtet. Eines Morgens, er hatte sein Auto im Parkhaus abgestellt und ging das letzte Stück zur Arbeit zu Fuß, vernahm er eine Stimme.
"Hey, Sie!"
Paul drehte sich halb nach rechts und sah dort einen Chinesen am Straßenrand stehen.
"Ja, ich meine Sie, mein Herr! Kommen Sie doch bitte näher!"
Eigentlich hatte Paul es sich zum Prinzip gemacht, sich nicht mit Leuten abzugeben, die am Straßenrand stehen. Aber er war auch noch nie so direkt angesprochen worden, und so fand er sich selber wieder, wie er an den Chinesen herantrat.
"Sie haben da einen sehr schönen Bart, mein Herr", sagte der Chinese, aber es klang nur wie eine Feststellung. Trotzdem fühlte Paul sich ein wenig geschmeichelt, obwohl sich auch ein wenig Mißtrauen in ihm regte. Hatte der Chinese es vielleicht auf seinen Bart abgesehen? Die Chinesen tun alles mögliche in die Suppe... Zudem war dieser Chinese gekleidet, als käme er aus dem Jahr 1000 vor Christus: ein einfaches Gewand, ein schirmartiger Hut und ein Schnurrbart, der lang und geflochten herabhing, aber Pauls Bart natürlich nicht das Wasser reichen konnte.
"Mein Herr, ich sehe, daß sie ihren Bart mögen und ihn pflegen", sagte der Chinese mit einem höflichen Grinsen.
"Ja, das ist wahr", antwortete Paul wahrheitsgemäß.
"Ich habe hier etwas ganz besonderes für Sie, nur für Sie, mein Herr", sagte der Chinese und hielt dabei ein eigroßes Holzfläschchen hoch.
"Was ist das?" fragte Paul.
"Das, mein Herr, ist eine Tinktur, die ihren Bart noch tausendmal schöner machen wird."
Paul war vorsichtig bei Angeboten, die ihm am Straßenrand gemacht wurden.
"Wieviel soll es denn kosten?", fragte er also, halb in der Hoffnung, der Chinese würde ihm einen Preis nennen, der das Gespräch sofort beendete.
"Oh, nur ganz, ganz wenig, mein Herr!", antwortete der Chinese und grinste abermals.
"Wieviel?", fragte Paul mit Nachdruck.
"Nur einen Tropfen."
"Was? Von was einen Tropfen?"
"Blut. Ich verlange nur einen Tropfen Blut, mehr nicht."
Jetzt war Paul wirklich kurz davor, zu gehen, aber dann erinnerte er sich wieder an das, was der Chinese zuvor gesagt hatte: daß sein Bart tausendmal schöner würde. Und das wäre wirklich ein Angebot, das er nicht ausschlagen konnte. Wenn er es sich recht überlegte, war ein Tropfen Blut wirklich ein sehr geringer Preis. Falls die Tinktur nicht wirken sollte, hätte er wahrlich keinen großen Verlust gemacht. Den Versuch war es wert.
"In Ordnung. Ich gebe Ihnen einen Tropfen Blut von mir und Sie geben mir die Tinktur."
"Wie abgemacht, mein Herr, das ist der Preis."
Der Chinese holte eine kleines Ledertäschchen unter seinem Gewand hervor, öffnete es und nahm eine lange, spitze Nadel heraus. Dann ergriff er Pauls rechte Hand.
"Nein, das würde ich gerne selbst machen", wehrte Paul ab und zog seine Hand zurück.
"Gerne."
Der Chinese überreichte ihm die Nadel. Sie war sehr dünn und glänzte gefährlich. Paul nahm sein Feuerzeug hervor und desinfizierte die Nadel in der Flamme. Dann wischte er sie an seinem Ärmel ab und hielt sie nochmals kurz in die Flamme. Er war immer noch ein wenig mißtrauisch, wohl deshalb, weil er den Sinn dieser Blutspende nicht verstand. Der Chinese sah seinem Tun freundlich zu. Nun war Paul bereit. Es kostete ihn natürlich etwas Überwindung, aber dann stieß er schnell genug in seine linke Zeigefingerspitze, um sich selbst zu überraschen. Sofort begann sich ein Blutstropfen zu bilden. Der Chinese nahm ein kleines, silbernes Döschen hervor, nahm den Deckel ab und hielt es Paul auffordernd hin. Paul hielt den Finger über das Döschen, der Blutstropfen fiel hinein, der Chinese machte den Deckel wieder darauf und ließ es unter seinem Gewand verschwinden. Wie abgemacht überreichte er Paul dann die hölzerne Flasche mit der Tinktur.
"Aber wenden sie diese Tinktur nur verdünnt an!", warnte der Chinese.
Paul gelobte es, bedankte sich und ging weiter zur Arbeit. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß er noch pünktlich kommen würde. Er arbeitete als Versicherungsvertreter, und zwar sehr erfolgreich, was vielleicht auf seinen Bart zurückzuführen war (er selber war sich fast sicher: ein gepflegter Bart - der Weg zum Erfolg). Punkt acht ließ er sich hinter seinem Schreibtisch aus edlem Wurzelholz nieder und begann einige Akten zu ordnen, als es aus seiner Freisprechanlage knackste.
"Herr Mond, ein Kunde."
"Lassen Sie ihn herein."
Kurz darauf betrat ein kleiner, dicker, verschwitzter Mann mit Halbglatze sein Büro. Paul wies ihm den Platz vor seinem Schreibtisch. Der Dicke ließ sich ächzend nieder und fing gleich an zu reden. Doch Paul hörte nur mit einem Ohr zu. Seine Gedanken waren bei dem Wundermittel, das er heute gleich nach Feierabend ausprobieren wollte (Das, mein Herr, ist eine Tinktur, die ihren Bart noch tausendmal schöner machen wird). Irgendwie, halb im Traum, brachte er den Tag hinter sich, ohne nachher eine klare Bilanz ziehen zu können. Wie viele Leute hatte er heute beraten? Wie viele überzeugt? Die Antwort auf diese Fragen war in seinem Gedankennebel verschwunden, der nur um die geheimnisvolle Tinktur kreiste. Er erhob sich von seinem Schreibtisch, verließ sein Büro und vergaß sogar, seine Sekretärin zu grüßen. Hart fühlte er die Flasche in der Innentasche seiner Jacke, während er im Aufzug hinabfuhr. Rund fühlte er sie, während er zu seinem geparkten Auto zurücklief. Es war ein gutes Gefühl, die Flasche sicher zu wissen, geborgen an seiner Brust. Bewußt fühlte er sie, als er sich in das Auto setzte und den Zündschlüssel herumdrehte. Die ganze Fahrt über achtete er auf den Druck der Flasche in seiner Innentasche, um nie im Zweifel darüber zu sein, ob er sie noch hatte. Er wusste nicht, was geschehen würde, würde er sie verlieren... Nein! Er musste einfach auf sie aufpassen. Als er endlich zu Hause ankam, war er leicht verschwitzt. Sofort stürzte er ins Badezimmer, holte die Tinktur aus seiner Innentasche und rieb seinen Bart gründlich damit ein. Es knisterte kurz in seinem Bart. Paul neigte sein Gesicht nah an den Spiegel, um das Ergebnis zu betrachten. Oberflächlich sah der Bart nur etwas besser aus: er glänzte etwas mehr, aber ohne dabei unnatürlich zu wirken. Auch sah er einfach noch gepflegter aus, als hätten sich die Haare von selbst auf wundersame Weise geordnet. Aber unter der Oberfläche war der Bart von einer unbändigen Kraft erfüllt, fast einer Macht. Paul war sich fast sicher, das nicht nur er das spürte. Hatten die Leute seinen Bart schon vorher bewundert, würden sie ihn jetzt abgöttisch verehren, oder zumindest vor Ehrfurcht erstarren! Es knisterte noch einmal in seinem Bart, dann spürte Paul ein kurzes Ziehen. Weiter geschah nichts. Immer noch ungläubig von der enormen Wirkung der Tinktur fuhr sich Paul mit den Fingern durch den Bart. Es fühlte sich wunderbar an. Von unendlich tiefer Zufriedenheit erfüllt, ging Paul zu Bett und schlief bald ein. Er hatte nur schöne Träume.
Als Paul aufwachte, konnte er sich nicht mehr erinnern, was er geträumt hatte, aber er fühlte sich gut. Dann fiel ihm der Grund dazu ein. Er sprang aus dem Bett, betrachtete seinen Bart im Spiegel und stellte fest, daß dieser immer noch so unglaublich kraftvoll aussah, wie am Vorabend. Trotzdem schüttete sich Paul wieder etwas von der Tinktur in die hohle Hand und massierte seinen Bart damit. Wie am vergangenen Abend durchzog ein Knistern den Bart (Paul war sich nicht sicher, aber es erschien ihm diesmal ein wenig lauter).
Eine Stunde später saß er hinter seinem Schreibtisch. Auf dem Hinweg hatte er nach dem seltsamen Chinesen Ausschau gehalten, ihn aber nirgends entdeckt. Er wird sich einen anderen Ort gesucht haben, wo er den Leuten für einen Tropfen Blut kuriose Dinge andreht, dachte Paul. Aus der Freisprecheinrichtung kam ein Knacksen.
"Herr Mond, ein Kunde"
Die gleiche Durchsage wie immer.
"Lassen Sie ihn herein"
Die gleiche Antwort wie immer.
Der Kunde kam diesmal in Gestalt eines jungen Mannes im hochkorrekten Maßanzug mit zurückgegeelten dunklen Haaren. Paul setzte seine ernsthafteste Miene auf.
"Guten Tag. Setzen Sie sich doch bitte."
"Danke, das hatte ich ohnehin vor", entgegnete der Mann und setzte sich. Als er wieder aufsah, fiel sein Blick auf Pauls Bart und blieb dort einen fast unmerklichen Augenblick hängen.
Paul stellte seine Hände dachartig zusammen (eine seriöse Geste, wie er fand, die bei diesem Snob ihre Wirkung sicher nicht verfehlen würde).
"Was hatten Sie sich denn vorgestellt?" Paul haßte Snobs.
"Wie, vorg...", der Mann war mit seinen Gedanken wohl kurz woanders gewesen.
"Ach so, ja, ich...", sein Blick fiel abermals auf Pauls Bart, "ich wollte mich gegen alles versichern, was mir überhaupt zustoßen kann."
Der Snob grinste.
"Das geht doch, oder? Geld spielt keine Rolle." (ein nervöser Blick auf Pauls Bart)
Paul zwang sich zu einem höflichen Lächeln. Idiot.
"Wir haben ein Angebot, das Ihnen gefallen wird. Eines, das Sie gegen fast alles absichert."
"Wenn ich einen Penner überfahr', dann hoffentlich auch. Aber das wird wohl schon in den billigsten Verträgen-"
Der Snob brach abrupt ab, als er Pauls Gesichtsausdruck sah.
(Und seinen Bart)
Plötzlich konnte Paul seinen Zorn nicht mehr zurückhalten. All die Dämme der Höflichkeit und Seriösität, die er errichtet hatte, brachen mit einem Mal. Er nahm den Locher aus massivem Messing und hätte damit wohl den Kopf des jungen Mannes eingeschlagen, wenn dieser nicht rechtzeitig von seinem Stuhl aufgesprungen wäre. Für einen kurzen Moment verschwamm Pauls Gesichtsfeld. Als er wieder klar sehen konnte, stand der Snob mit dem Rücken an die Tür gepreßt und sah ihn mit vor Angst geweiteten Augen an. Dann riß er die Tür auf und rannte weg, als wenn der Teufel hinter ihm her wäre.
Verwundert stand Paul noch einige Zeit mit dem Locher in der rechten Hand hinter seinem Schreibtisch und starrte in die Luft. Schließlich ließ er sich langsam wieder auf seinen Stuhl sinken. Noch nie war ihm etwas vergleichbares passiert. Sein Bart knisterte. Sein Puls beruhigte sich langsam. Es gab ein Knacksen.
"Herr Mond, ein Kunde"
Die Stimme der Sekretärin klang ein wenig unsicher. Der flüchtende Mann musste sie etwas irritiert haben.
"Lassen... Sie ihn herein", sagte Paul leiser als sonst.
Die restlichen Gespräche verliefen an diesem Tag völlig normal, abgesehen davon, daß ihm alle auf den Bart starrten. Der Vorfall mit dem Snob blieb der einzige. Paul rätselte die ganze Zeit, wie es dazu kommen konnte. Natürlich hatte der Snob einige nicht korrekte Sachen gesagt und war ihm sowieso unsympathisch gewesen. Seine Äußerungen hatten ihn eben erzürnt. Ganz einfach.
Es war Feierabend und das Wochenende begann. Erschöpft kam Paul nach Hause, benutzte die Wundertinktur (die Flasche schien nie leer zu werden! Es war, als würde die Flüssigkeit über Nacht aus ihrem Holz dringen) und setzte sich dann vor den Fernseher. Einfach ausspannen. Doch die Begebenheit des heutigen Tages ging ihm nicht aus dem Kopf. Nicht nur, daß er den Typen hätte umbringen können, es war eine fast unwillkürliche Handlung gewesen. Fast unwillkürlich...
Etwas von ihm hatte es gewollt.
Mit Gewissensbissen, die er jedoch schon halb erfolgreich verdrängt hatte, ging er diesen Abend zu Bett, schlief aber ein wenig unruhig.
Er fühlte sich nicht sonderlich ausgeruht, als er aufstand, aber am Samstag spielte das keine Rolle. Im Bademantel holte er die Zeitung aus seinem Briefkasten und legte sie auf den Küchentisch. Dann stellte er ein Ei in den Eierkocher, legte drei Brötchen in den Ofen und holte die Butter aus dem Kühlschrank. Während er den Tisch deckte, warf er einen Blick auf die Titelseite der Zeitung. Es war eine Zeitung, die auf politische Meldungen weitgehend verzichtete, Paul holte sich diesbezügliche Informationen aus den Fernsehnachrichten. Auf der Titelseite stand in dicken Buchstaben: "Rätselhafter Todesfall". Als der Tisch gedeckt war, nahm sich Paul die Zeitung und las den Artikel. Es hieß darin, die Polizei stünde vor einem Rätsel, da jegliche Spuren fehlten. Ein Mann habe am Morgen seine Frau tot neben sich liegen sehen, ohne äußere Anzeichen von Gewaltanwendung. Bei der Autopsie habe man jedoch ein Barthaar in ihrer Luftröhre entdeckt. Trotz aller Tragik musste Paul über diesen seltsamen Fund schmunzeln. Darüberhinaus glaubte Paul nicht, daß dieses Barthaar irgendetwas mit dem Tod der Frau zu tun gehabt haben könnte. Sicher, es war...
Ein häßliches Brummen erscholl. Der Eierkocher hatte sein Werk beendet.
Das Wochenende ging wie immer zu schnell vorüber und Paul zur Arbeit. Alles nahm seinen gewohnten Ablauf und Paul bekam auch keinen Wutanfall mehr, obwohl er ständig leicht gereizt war. Täglich pflegte er seinen Bart mit der Tinktur, der dadurch prächtig gedieh und schon fast dreißig Zentimeter lang war. Er wuchs einfach unglaublich schnell, so daß Paul sich schon darüber Gedanken machte, ob er ihn nicht bald stutzen müsse. Sein Bart erregte mittlerweile soviel Aufsehen, daß es Paul schon unangenehm wurde. Als er zur Arbeit ging, starrten ihn viele Leute an, Kinder zeigten auf ihn, einige fingen an zu weinen, Hunde bellten ihn an, Tauben flogen schon weg, wenn er sich ihnen nur auf einige Meter näherte. Er hatte das seltsame Gefühl, daß der Bart nicht mehr nur auf Bewunderung stieß, sondern echtes Unbehagen bei seinen Mitmenschen verursachte. Vielleicht... Furcht. Paul schalt sich selbst einen Narren ob dieses Gedankens. Wirklich fürchten mußte diesen Bart niemand. Schlimm sah er gewiß nicht aus, das stand fest. Er verdrängte diese Grübeleien, betrat beschwingt den Vorraum zu seinem Büro und grüßte seine Sekretärin. Sie sah vom Schreibtisch auf und erstarrte kurz in der Bewegung.
"Gu... ten Morgen, Herr Mond"
Sie lächelte auf ihre bezaubernde Art, aber Paul hatte das plötzliche, ungute Gefühl, daß sie sich zu diesem Lächeln zwingen mußte. Seine gute Laune verflog mit einem Mal. Fast auffällig schnell ging er in sein Büro. Er ließ sich hinter den Schreibtisch sinken, nahm den Messinglocher, mit dem er vor kurzem fast jemanden erschlagen hätte, und polierte ihn mit dem Ärmel. Langsam hob er ihn dicht vor sein Gesicht. Seine Augen spiegelten sich darin und sahen ihn an. Er erwiderte ihren Blick. Dann bewegte er den Messinglocher langsam von sich weg und sah immer mehr von seinem Gesicht. Zum Schluß erschien der Bart, schien auf dem Spiegelbild zu wachsen, schneller, als es in der Realität jemals möglich wäre, und doch in Zeitlupe.
Und...
er sah in Pauls Augen nicht besonders beängstigend aus.
Nicht besonders...
Ein hörbares und spürbares Knistern ging durch den Bart. Pauls Nackenhaare stellten sich auf. Pauls Nackenhaare schwelten. Paul schrie.
Alles nur eine Illusion...
Paul fühlte sich plötzlich, als wäre er aus einer langen Ohnmacht erwacht. Aber er war in Ordnung, soweit er das beurteilen konnte. Der Messinglocher stand vor ihm auf dem Schreibtisch und zeigte ein Zerrbild seiner Umgebung. Pauls Nacken und seine Augen schmerzten, sein Gesicht fühlte sich verbrannt an. Es lag eine ungewisse Energie in der Luft, die an der Schwelle zur Gestaltwerdung stand. Etwas war mit Paul im Raum, fremd und... doch vertraut.
Aber auf jeden Fall gefährlich.
"rrr...o...un...e"
Paul starrte die Freisprechanlage an. Sie schien nicht mehr richtig zu funktionieren. Schweiß rann ihm in die Augen, während er regungslos auf das Gerät vor ihm sah. Dann sprang er auf und verließ fluchtartig das Büro.
Irgendwie kam er nach Hause. Dunkel erinnerte er sich an eine atemlose Jagd durch die Stadt, an eine Autofahrt in einem plötzlichen Regen, verschwommene Lichter, Scheibenwischer, die nicht für Klarheit sorgten, eine Straße, die sich wie eine Schlange durch die Dunkelheit wand und ihn von sich zu werfen versuchte. Schließlich war er zu Hause, hatte in der Küche gesessen und war in eine Art nervöser Ruhe verfallen. Ohne echtes Interesse begann er in der heutigen Zeitung zu blättern. Buchstaben schwammen an ihm vorbei, einmal formten sich die Worte "Plötzlicher Kindstod" aus den schwarzen Zeichen. Er brachte die Konzentration auf, den Artikel zu überfliegen. Tot in der Wiege aufgefunden. Die Obduktion soll die genaue Todesursache klären. Nie auf dem Bauch schlafen. Im Verlaufe des Tages klärte sich Pauls Geist wieder. Gegen Abend hatte er nicht mehr das leiseste unwirkliche Gefühl, er fühlte sich nur niedergeschlagen und machte sich Sorgen um seinen Geisteszustand. Sowas konnte doch mal passieren (Daß man von einem Moment auf den anderen völlig durchdreht). Oder? Vielleicht hatte er in der Nacht zuvor einen schrecklichen Alptraum gehabt, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Nein, bestimmt hatte er eine leichte Vergiftung, hatte etwas Verdorbenes gegessen. Morgen würde er sich besser fühlen. Zur Sicherheit nahm er eine Schlaftablette. Natürlich vergaß er nicht, sich den Bart noch einmal kräftig mit dem Wundermittel einzureiben. Kaum sah er die Wirkung dieser Behandlung, da hellte sich seine Stimmung deutlich auf. So kam es, daß er sich
zufrieden zu Bett legte. Bald zeigte die Schlaftablette Wirkung.
Schweißgebadet fuhr er auf. Er wußte nicht, ob er etwas geträumt hatte. Er schob sich in eine halbwegs sitzende Position und... sah seinen Bart. Er schwebte vor ihm, etwa einen halben Meter über seinen Schienbeinen. Beschienen vom Mondlicht, das fahl durch einige Spalten der Rolläden schien. Ungläubig befühlte Paul sein Kinn. Nichts. Er fuhr sich über sein Gesicht. Nur Stoppeln. Sein Gehirn weigerte sich, zu akzeptieren, was er sah und fühlte. Vor ihm schwebte sein Bart, schien auf etwas zu warten. Vielleicht auf eine Antwort. Leicht bewegte er sich auf und ab, wie ein Korken, der auf unruhigem Wasser schwimmt. Paul war unfähig, irgend etwas anderes zu tun, als seinen Bart anzustarren. Seinen Bart, der da vor ihm mitten in der Nacht im Mondlicht schwebte, entgegen allen Gesetzen der Physik. Der Bart wurde von einer seltsamen Unruhe erfasst. Paul sah es nicht, aber er spürte es, als gäbe es immer noch eine Verbindung zwischen ihm und dem Bart. Dann setzte sich der Bart in Bewegung. Für einen entsetzlichen Moment dachte Paul, er würde zu ihm schweben (warum eigentlich sollte er Angst davor haben, es war doch sein Bart!), aber der Bart flog geradewegs in Richtung der verschlossenen Zimmertür. Kurz davor hielt er an. Paul sah aus geweiteten Augen, was dann geschah. Langsam und vorsichtig wie ein Blinder bewegte sich der Bart auf das Schlüsselloch der Tür zu. Haare bewegten sich vereinzelt, tasteten. Schließlich wanden sich dünnere Büschel wie Tentakel aus dem dichten Gefüge des Bartes und drangen in das Schlüsselloch. Nach und nach bildeten sich andere Strähnen und krochen durch das Schlüsselloch hindurch auf die andere Seite der Tür.
Der Bart war draußen. Paul sah die letzte Strähne durch das Schlüsselloch verschwinden. Sie schien ihm zuzuwinken, als wollte sie sagen: bis morgen. Nach diesem grausigen Schauspiel konnte Paul nicht mehr einschlafen. Er nahm Bilder wahr, die den Bart zeigten, wie er durch seinen Flur schwebte und das Haus durch den Schornstein verließ. Der Bart schwebte durch die Nachtluft, auf der Suche nach...
Paul wurde bewußtlos
Nach dem Erwachen wurde Paul von rasenden Kopfschmerzen gequält. Er hatte etwas schreckliches geträumt, aber er wußte nicht mehr, was. Seine Zunge klebte trocken an seinem Gaumen. Dagegen - und gegen seine Kopfschmerzen - unternahm er etwas mit einem Glas Wasser, in dem er eine Brausetablette gegen Kopfschmerzen auflöste. Heute würde er nicht zur Arbeit gehen. Er ging kurz raus und nahm die Zeitung aus dem Briefkasten. Er hatte genug Zeit, sie gründlich zu lesen. Doch weit kam er nicht. Gleich auf der Titelseite blieben seine Augen kleben. "Plötzlicher Kindstod aufgeklärt" stand in großen Buchstaben darauf. Doch was Paul fast wie ein Faustschlag traf, stand darunter in kleinerer Schrift: "Zusammenhang mit früherem Todesfall / Barthaare in Luftröhre". Paul mußte sich auf den Tisch stützen, um nicht hinzufallen. Bilder blitzten auf. Er erinnerte sich wieder an letzte Nacht. Alles stürzte über ihm zusammen, aber endlich erkannte er, verstand die Zusammenhänge. Sternchen tanzten vor seinen Augen, als er ins Badezimmer stürzte. Er fiel auf den harten Kachelboden, zerschlug sich fast die Kniescheibe, aber er spürte es kaum. Der Bart. Hastig suchte er nach einer Schere und fegte dabei Gläser vom Regal, die klirrend zersprangen. Panik und Übelkeit übermannten ihn fast, aber endlich hatte er die Schere in seiner von Glasscherben blutig zerschnittenen Hand. Er hatte das Gefühl, sich selbst zu verstümmeln, aber es mußte sein. Sein Grauen verdrängend, öffnete er die Schere und führte sie zum Bart.
Der Bart schrie.
Eine Woge unbändigen Hasses zwang Paul in die Knie. Er war noch immer etwas benommen, als er erschrocken bemerkte, daß sich der Bart bewegte. Mit einem Mal begriff Paul. Er wollte um Hilfe schreien, aber da bildete der Bart schon Strähnen, die ihm durch Mund und Nase drangen und den Schrei erstickten. Paul würgte und wand sich, doch schon bald schwanden ihm die Sinne.
Vier Tage später fand die Putzfrau seine Leiche. Doch ohne Bart...
Sie sagte später aus, sie hätte gerade noch etwas Undefinierbares durch das Fenster schweben sehen, als sie das Badezimmer betrat.