Der Bahnhof
Der Bahnhof
Die Ketten sind schwer. So schwer. Wie lange trage ich sie eigentlich schon? Ich glaube manche sind fast so alt wie ich. Die hier zum Beispiel trage ich schon seit ich noch ein ganz kleiner Wicht war. In die Kette ist eine Platte mit einer Gravur eingearbeitet, aber die Gravur ist kaum zu lesen. Zu oft haben meine Eltern darauf verwiesen. Ich kann die Gravur nicht mehr lesen, aber ich werde sie nie vergessen. „Wir haben absolut kein Geld mehr. Was sollen wir nur tun?“ Diese hier ist nicht ganz so abgenutzt, die Gravur auf der Platte ist noch lesbar. „Du musst dich anstrengen. Wenn du keine guten Noten bekommst wirst du keinen Job bekommen. Was willst du dann tun?“
Der Bahnhof ist mal wieder voll. Wieso bin ich überhaupt hier? Ich hasse diese Menschenmengen. So viele Körper, aber kaum ein Geist ist an diesem Ort. Es sind leere Hüllen, die sich wie auf Schienen durch den Bahnhof schieben. Wieso kann ich nicht auf diese Schienen? Wieso habe ich diese Ketten und nicht deren Schienen?
Eine mit Tüten überladene Frau läuft scheinbar von blanker Hektik getrieben über den Bahnhof. Ein kleines Mädchen, wohl ihre über alles geliebte Tochter, läuft hinter ihr her. Sie versucht Schritt zu halten, fällt aber wegen der zu kurzen Beine immer weiter zurück. Sie versucht noch einmal schneller zu laufen – und fällt hin. Die das Mädchen über alles liebende Mutter bemerkt nicht den Sturz, den Aufprall oder die Tränen. Ich beuge mich zu dem Kind hinunter und schaue ob sie verletzt ist. Eine kleine Schramme auf dem Knie, etwas Dreck auf dem rosaroten Kleid und Tränen im Gesicht sind zum Glück alles. Ich gebe der kleinen ein Taschentuch. Es ist mein letztes Taschentuch. Meine Hand verfängt sich in einer der Ketten. Bei dem Versuch sie frei zu bekommen fällt mir ihre Gravur ins Auge. „Misch dich nicht in die Angelegenheiten anderer ein.“ Das kleine Mädchen lächelt mich schüchtern an, ich versuche es zu erwidern. „Charlotte!“, ja, das ist wohl ihr Name. Er ist schön. „Komm sofort her!“, ja, geh zu deiner Mutter. Sie macht sich sicherlich Sorgen. „Komm und bleib jetzt gefälligst an meiner Seite!“Ja, da ist es sicher. „Ich habe dir doch gesagt du sollst dich von solchen Leuten fernhalten!“, ja...
Die Frau geht weiter, schneller als vorher. Ja. Ja, halte dich von Fremden fern.
Ich trage schwarze Kleidung. Eine schwarze Stoffhose, ein einfaches, schwarzes T-Shirt auf dem in weißen Abstufungen ein altes Ritterschild abgebildet ist. Das ist es nicht. Es ist mein schwarzer Mantel. Mein Mantel ist es vor dem sich das kleine Mädchen fern halten soll. Ich mag diesen Mantel. Wenn der Wind stark genug ist hebt er sich. Ich mag es, wenn etwas im Wind weht. Es wirkt wie ein Tanz. Eine der Ketten schneidet mich in die Seite, ich rücke sie zurecht. „Du solltest nicht so aus der Masse auffallen. Das ist peinlich.“
Ich kann die Ketten nur zurecht rücken. Ich kann sie nicht ablegen, dafür sind sie zu schwer. Sie sind so schwer, dass ich kaum noch stehen kann. Sie liegen so eng, dass ich kaum noch atmen kann. Warum trage ich all' diese Ketten? Wie viel Kraft brauche ich denn um diese Ketten abzulegen?
Der nächste Zug fährt in den Bahnhof ein. Das letzte bisschen Fahrtwind lässt meinen Mantel tanzen. Ja, deswegen stehe ich hier auf dem Bahnhof. Ich mag den Fahrtwind der Züge.
Ein Zug. Ja, ein Zug! Ein Zug hat bestimmt genug Kraft um diese Ketten zu sprengen! Aber wie bekomme ich sie auf die Schienen? Sie sind zu schwer um sie abzulegen und sie liegen zu eng um sie einfach drauf zu legen. Wie bekomme ich die Ketten auf die Schienen? Ja, es ist einfach. Die Antwort ist so einfach, dass ich anfangen muss zu lachen. Mein Lachen wird aber durch einen stechenden Schmerz in der Seite abgewürgt. Ich rücke die Kette wieder zurecht. „Du solltest nicht so aus der Masse auffallen. Das ist peinlich.“ Ein Zug, es ist so leicht. Ich werde diese Ketten ganz einfach los. Ich muss nur auf den nächsten Zug warten. Wo ist der Fahrplan? Wann kommt der nächste Zug? Hier, Gleis 7, aber das wird knapp. Ich muss rennen um noch pünktlich zu sein. Durch fast den kompletten Bahnhof muss ich rennen. Soll es halt so sein, dafür lohnt sich die Anstrengung.
Ich renne los, vom Bahnsteig die Treppe herunter und durch den Gang. Mir fällt im lauf die kleine Charlotte auf, die weinend im Gang sitzt. Ich sehe auf die Schnelle ihre Mutter nicht. Gib mir etwas zeit kleine, ich will nur diese Ketten loswerden. Nur ein paar Minuten, nur diese Ketten. Ich hechte die Treppen zu Gleis 7 hinauf, der Zug rollt bereits an. Ein beherzter Satz, ich höre von irgendwo ein „Nicht!“…