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Der Bericht des Maats
Morris‘ Körper war mit Wunden und Hämatomen übersät. Doktor Pieter Dorff, den so leicht nichts aus der Fassung bringen konnte und der seit über 20 Jahren Expeditionen in alle möglichen Ecken der Milchstraße begleitet hatte, war fassungslos gewesen angesichts der Vielzahl und Beschaffenheit von Schnitten, Bisspuren und Verätzungen, die den Körper des Maats bedeckten. Dazu kamen diverse Brüche beider Unterarme.
„Meine Güte“, hatte er gemurmelt, „seht euch das bloß an. Also los, auf den Tisch mit ihm.“
Ein paar Tage später durften wir unseren Freund besuchen.
„Hallo Leute“, flüsterte er. „Mac … Leo … Setzt euch. Schön, das ihr gekommen seid.
Dr. Dorff hatte uns gesagt, das er ihm ein euphorisierendes Analgetikum verabreicht hatte.
„Morris wird reden wie ein Buch. Hört ihm einfach nur zu. Es tut ihm gut. Er hat Schlimmes Durchgemacht und freut sich einfach, das er noch lebt.“
Irgendwie glich er einem aufgequollenen Tampon, aus dem oben ein Kopf herausragte, und der bis auf Mund, Nase und Augen von einer dicken Schicht Mull bedeckt war.
Er nuschelte leicht, was daran lag, das ihm ein paar Zähne fehlten.
„Ihr wollt also wirklich da runter? Ich hoffe, ihr habt euch das gut überlegt. Ich würd’s für kein Geld der Welt noch mal machen. Auf keinen Fall. Wisst ihr eigentlich, auf was ihr euch einlasst? Schätze, ihr habt den Film gesehen: das ist garnichts …“
„Nur die Ruhe, alter Knabe. Wir haben jede Menge Zeit“, beruhigte Mac ihn und schüttelte sein Kopfkissen auf, „erzähl erst mal in aller Ruhe, was passiert ist.“
„Also gut…wir waren gerade mal ein paar Minuten aus der Fähre raus. Vertraten uns die
Beine. Ich hatte mich in die Büsche geschlagen zum Pinkeln, da hör ich sie. Ein gewaltiges Summen. Ich bin kein Biologe, aber als ich die Dinger sehe, hab ich sofort gedacht, das sind Schnecken. Fingerdick würd ich sagen, tausende. Geflügelte Schnecken, stellt euch das mal vor … Haben sich auf uns gestürzt und … meine Güte …“
Auf seiner Stirn hatte sich ein feiner Schweißfilm gebildet.
„Andrej haben sie fast die Arme abgefressen.“
Er holte tief Luft. „Ich hab ihm sofort gesagt, T-Shirt ist keine gute Idee, denk an die Mücken auf Harbour Drei … Aber er hat nur gelacht. Ihr kennt ihn ja.“
Mac, der heute anscheinend seinen fürsorglichen Tag hatte, tupfte Morris‘ Stirn mit einem Papiertuch trocken.
„Die Löcher, die die Biester gemacht haben, waren groß wie ein Fingernagel. Ätzende Schneckenspucke, stellt euch das mal vor. Wäre Jenkins nicht auf die Idee gekommen, seinen Feuerlöscher zu nehmen, wer weiß … Nach nicht mal einer Minute war alles vorbei. Wir hätten uns sofort wieder in die verdammte Kiste setzen sollen. Aber die Company erwartet Ergebnisse. Es steht nun mal ‘ne Menge Zaster auf dem Spiel.“
„Und dann?“ wollte ich wissen.
„Moses hat Andrej verarztet, und wir sind los. Die Landschaft war übrigens paradiesisch. Weiche grüne Hügel … Wälder … Echter Wind ... Gerüche, aah!
Wir zeichneten wie immer alles auf, bis es dunkel wurde, dann haben wir ein Lager aufgeschlagen. Es hätte uns eigentlich auffallen müssen, das außer dem üblichen Insektengebrumm nichts zu hören war, keine Vögel oder sowas.
Naja, am nächsten Morgen ging es weiter. Wir bekamen noch mal Besuch von diesen Schnecken. Zwei, Drei Stöße aus dem Firex und sie sind wieder abgezischt.
Eine ganze Weile streiften wir durch hüfthohes Gras und steuerten nach einer Stunde oder so auf einen Wald zu, den wir besser nicht betreten hätten.“
Er verstummte für eine Weile und atmete schwer.
„Achtung …leichter Frühlingsregen …“ sagte eine tiefe, warme Frauenstimme. Unwillkürlich sahen wir zu den Lautsprecherleisten hoch.
Vera …
Die Konstrukteure der ARGO hatten versucht, in gewissen Abständen die akustische Eintönigkeit an Bord des Schiffes, das Grundrauschen der Antriebsaggregate durch vertraute Geräusche von der Erde erträglicher zu machen. Regentropfen, das Geraschel von Blättern im Wind, Meeresrauschen, Vogelgezwitscher oder gedämpftes Donnergrollen waren Teil von Veras Angebot. Nach wenigen Minuten war die jeweilige Berieselung vorbei, und bis auf wenige Ausnahmen begrüßten alle an Bord diese Einrichtung. Auch der arme Kerl vor uns schien nicht unglücklich über diese Unterbrechung zu sein.
Ich schloss kurz die Augen, als die ersten Tropfen fielen. Auf Blätter, in Pfützen, über Zeltplanen, Acryldächer und Stahlplatten rauschte der sanfte Regen. Im ganzen Schiff war er zu hören. Nach zwei Minuten war es vorbei.
Morris holte tief Luft und fuhr fort.
„Der Wald sah irgendwie aufgeräumt aus – ich weiß kein besseres Wort dafür.“
„Wie meinst du das? Aufgeräumt?“fragte Mac.
„Da war kein Unterholz. Keine Büsche, keine Sträucher. Sauber wie ein Tanzboden. Die Abstände zwischen den Stämmen waren gleichmäßig. Hat mich irgendwie an eine Kirche erinnert, das Ganze. Irgendwann hörten wir Geräusche. Captain Brookes legte den Zeigefinger auf die Lippen und lauschte.
Mir kam es vor, als imitierten Menschen das Geschnatter von Enten. Oder als würden Enten versuchen, zu sprechen.
‚Ich glaub‘ das sind sie‘ flüsterte Bohannon.“
Mac und ich sahen uns an. Wir erinnerten uns an die Aufnahmen der Drohnenaufklärung. Obwohl aus großer Höhe gemacht, waren die Bilder der merkwürdigen Gestalten einigermaßen scharf gewesen.
„Es gelang uns, ziemlich geräuschlos unter den Bäumen voranzukommen. Dann sahen wir sie. Es waren nur sechs oder sieben. Sie liefen zwischen den Bäumen hin und her. Schrien sich an … Dann bemerkte uns eins. Es zeigte in unsere Richtung, so wie das Menschen auch machen. Es hatte Finger, ganz kleine, kurze Finger. Sie hörten sofort auf, sich zu streiten. Standen ganz still da und musterten uns. Wir waren stehengeblieben.
Eins von denen fing leise an zu schnattern, nickte ständig mit seinem komischen Kopf. Ihr habt ja gesehen, was die für Köpfe haben. Diese komischen Auswüchse erinnerten mich an Schneckenaugen, feucht und wabblig. Irgendwann nickten alle, völlig verrückt sah das aus.“
„Auf dem Film sah es aus, als hätten sie ein Fell “, sagte Mac
„Ja, ganz kurze Borsten, vielleicht drei, vier Zentimeter lang. Irgendein Zeug tropfte an einigen Stellen aus ihnen raus.“
„Aus den Borsten?“ wollte ich wissen.
„Genau – hat grauenhaft gebrannt, das Zeug. Die reinste Säure.“
„Was ist dann passiert?“
„Sie haben eine Weile so rumgemacht und sind dann mit einem Affenzahn weggelaufen.“
„Weggelaufen?“
„Ja. Wir waren natürlich mordsmäßig erleichtert. Ums kurz zu machen: sie kamen zurück. Brachten ihre ganze Verwandtschaft mit. Alles in allem so an die fünfzig Kreaturen. Große und kleine. Einige hatten so ‘ne Art Hunde dabei, mit zerfransten Ohren, die auf dem Boden schleiften und aussahen wie große schlaffe Hände ohne Daumen. Die ekelhaften Viecher zerrten wie verrückt an den Leinen, als sie uns sahen. Der Geifer tropfte ihnen aus dem Maul.
Sie wollten uns an die Wäsche, als hätten sie tagelang nix zu fressen gehabt.
Wegzurennen hätte wenig Sinn gehabt. Also blieben wir, wo wir waren und warteten ab.
Jetzt wurde uns klar, dass es eine total idiotische Idee gewesen war, ohne Waffen hierher zu kommen. Wie naiv kann man sein? Ethikbeauftragte! Pah! Wir dürfen nicht die gleichen Fehler machen und so weiter. Schwachsinn. Hätte nur einer von uns ne Waffe gehabt … ich garantiere euch, alles wär anders gelaufen.
Sie bildeten einen großen Kreis um uns und schnatterten leise. Dann ging’s ganz schnell. Eins ging mit schnellen Schritten auf Brookes zu, als hätte es gewusst, dass er der Chef war. Der wurde blass, aber bevor er reagieren konnte, spuckte ihn das Ding an und kreischte ohrenbetäubend laut, wobei es die Augen schloss. Es hob die Arme zum Himmel, ließ sie wieder sinken und fing an, mit dem Kopf zu nicken. Zuerst ganz langsam, dann immer schneller. Die Dinger auf dem Kopf wurden rot und steif.
Sanders, der Biochemiker fiel in Ohnmacht.
Brookes fing an zu brüllen. Er wischte sich mit beiden Händen hektisch im Gesicht rum, wo ihm die Spucke von dem Vieh runter lief. Er schrie immer wieder: ‚Es brennt! Es brennt! ‘, und das Ding sah ihn mit schiefgelegtem Kopf aufmerksam an. Die Viecher kreisten uns ein und kamen immer näher. Bliesen uns ihren stinkenden Atem direkt ins Gesicht, fummelten an uns rum und starrten uns an. Als mir eins zu dicht auf die Pelle rückte, stieß ich es zurück. Es kreischte wütend und biss mir ansatzlos in den Hals.“
„Schluck Wasser?“ Mac, die sorgende Oberschwester.
Morris trank gierig.
„Danke … sie überwältigten uns in Nullkommanix, verschnürten uns, und schleppten uns in ihren Bau, der wenige Kilometer in Richtung untergehender Sonne lag.“
„Was war das? Eine Höhle oder so was?“
„Ja. Eine ausgewaschene Felsentasche am Rand eines ausgetrockneten Flußbetts.
Meine Fesseln hatten sich auf dem Marsch gelockert. In der Nacht konnte ich sie abstreifen, und Moses, Nagoy, Bohannon und Myers losbinden. Die Arschlöcher hatten keine Wachen aufgestellt und schnarchten vor sich hin.
Wir hätten es fast geschafft, unbemerkt aus der Höhle rauszukommen. Aber wir hatten nicht mit den ekelhaften Hundeviechern gerechnet, die uns natürlich sofort gewittert haben. Wenn die nicht angebunden gewesen wären … Haben einen Höllenlärm veranstaltet, kann ich euch sagen. Sämtliche Kopfwackler waren sofort wach. Schrien wie wild und stürzten sich auf uns. Sie zerrten uns zu dem großen Haufen Glut in der Mitte der Höhle, legten Holz nach, traten, schlugen und spuckten uns mit ihrer widerlichen, ätzenden Soße an. Einige schnappten sich Holzknüppel und droschen auf uns ein. Wisst ihr, wie sich das anhört, wenn die eigenen Knochen brechen?“
Wir hielten die Luft an. Draußen auf dem Gang schob jemand einen scheppernden Geschirrwagen vorbei.
Morris drehte den Kopf zur Seite.
„Na, jedenfalls hat mich I.M.P. geortet und rausgehauen“, flüsterte er leise.
Und hier bin ich, alles in allem hab‘ ich wohl noch Glück gehabt. Die Anderen nicht. “
Der Blick vom 82. Stockwerk des Dorff-Towers war atemberaubend. Die Stadt glänzte nach dem kurzen Regen.
Vera Dillinger, Vorstandsvorsitzende der Korean Lodging Group, eine der weltweit größten Hotelketten, starrte durch die abgedunkelte Scheibe des Panoramafensters.
„Sechs Tote, sagen Sie?“ Sie räusperte sich. „Wie groß war die Besatzung der ARGO?“ „Dreiundfünfzig Männer, achtzehn Frauen. Ursprünglich, meine ich“, antwortete ihr Sekretär und rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
„Sitzen Sie still, Becker. Man wird ja ganz nervös, wenn man Sie ansieht. Dieser Maat, wie geht es dem jetzt?“
„Soweit gut. Dr. Dorff hat wie immer gute Arbeit geleistet.“
Vera Dillinger sah Becker in die Augen. Er ahnte was nun kam. Wenn die Medien auch nur einen winzigen Beitrag über den Vorfall veröffentlichten, hätte das natürlich einen Rückgang der Buchungen zur Folge. Selbst die abenteuerlustigsten Touristen würden bei dem Gedanken an Säure verspritzende Einheimische einen Rückzieher machen. Auch wenn ihr Reiseziel nicht Haumeamea hieß.
„Ich hoffe, die gesamte Besatzung wird über alles Stillschweigen bewahren.“
„ Wie immer ist ein mehr als angemessenes Schweigegeld in Aussicht gestellt worden.“
„Schön …“ Dillinger schloss für einen Moment die Augen. „Wann ist das nächste Meeting?“
„Morgen früh um zehn Uhr.“
„Gut, ich brauche Sie nicht mehr, Becker. Lassen Sie mich allein.“
Der Sekretär (oder Chief Wizard, dieser Titel gefiel ihm wesentlich besser …) stand auf und verließ den Raum. Auf dem Weg zum nächsten Aufzug stieß er auf Saana Myers, eine der Dolmetscherinnen aus der Chefetage.
„Hallo Wizard, wie sieht’s aus?“ sagte sie gut gelaunt. „Heute schon gezaubert ?“
Sie wusste, wie man Becker zu nehmen hatte.
„Ich komme gerade von der Allmächtigen Vera. Die Expedition zu Haumeamea, vielleicht hast du davon gehört?“
„Sicher … schlimme Sache. Thema Nummer eins im Flurfunk.“
Flurfunk. Niemand sonst benutzte solche Ausdrücke. Dafür mochte er sie (unter anderem).
„Schade eigentlich. Ich habe mal gehört, dass da ursprünglich bis zu sechshundert Filialen geplant waren?“
„Stimmt- aber diese Wilden sind dort überall. Unangenehme Zeitgenossen, so viel lässt sich schon sagen. Den Planeten kann man abschreiben, glaube ich.“
„Was ist mit diesen Inseln? Sind die da auch?“ wollte Saana wissen.
„Die Drohnen haben nichts finden können. Ich bezweifle allerdings, ob sich ein weiteres Team bereit erklärt, nachzusehen.“
Der Maat träumt.
„Morris !Essen!“ Die Stimme der Mutter wird durch die dichte Hecke, in die er sich hineingezwängt hat, gedämpft. Die Hecke hat einen Namen: Haumeamea. Gerade, als er die Hand nach einem Vogelnest ausstreckt, um mit den Fingerspitzen die winzigen hellblauen Eier zu berühren …
„Wo steckst du!?“
Mist. Er kriecht zurück. Als er sich aufrichtet, spürt er unter seiner rechten Handfläche etwas Spitzes, Scharfes. Gleichzeitig hört er ein Summen wie von einem Bienenschwarm, dass von Sekunde zu Sekunde lauter wird.
„Hier bist du. Was ist mit dir? Du bist ja ganz blass, Morris.“
„Entschuldigung …“
Er hebt den Blick.
Irgendetwas ist im Gesicht der Mutter … feucht glänzend, Fäden ziehend … Auch klingt ihre Stimme mit einem mal fremd, rau … Ihre Augen fixieren ihn und die Brauen heben sich.
Haumeamea … Das Wort schießt ihm durch den Kopf.
Sie beginnt zu nicken. Zuerst langsam, dann immer schneller. Die Konturen ihres Gesichts verwischen. Er bekommt solche Angst, dass er augenblicklich die Kontrolle über seine Blase verliert. Stöhnend versucht er, aufzustehen. Haumeamea. Die Dornenhecke.
Dr. Dorff beugte sich über den ächzenden Mann und beobachtete aufmerksam die Bewegung der Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern. Etwas Feuchtigkeit hatte sich in den Augenwinkeln gebildet. Im linken Nasenloch glitzerte für einen winzigen Moment etwas … Der Doktor leuchtete mit seiner Stablampe hinein, konnte jedoch nichts erkennen. Er griff nach oben und zog die Operationsleuchte herunter. Irgendetwas irritierte ihn, erinnerte ihn an …
„Verdammt!“ entfuhr es ihm, „Laura, bitte holen sie mir den Heyfelder. Zweitoberste Schublade. Und laden sie ihn - einfache Dosis dürfte reichen.“ Die Assistenzärztin brachte das Gewünschte, der Doktor spannte das Gerät in die Halterung des OP-Robots und eine kleine Dosis Betäubungsgas wurde in das Nasenloch des Maats gesprüht. Dorff wartete eine Weile und fuhr sacht mit der Rechten über den Kopf des Patienten.
Tatsächlich – er spürte deutlich die den Mull durchdringenden harten, winzigen an Bartstoppeln erinnernden Vorsprünge.
„Haumeamea … kein Urlaubsparadies, Vera“ murmelte er, „du kannst die Prospekte wieder löschen.“
Dornenhecke. Warum wird mir auf einmal so warm? Irgendwer sitzt in meinem Kopf und macht sich zu schaffen … er ritzt mir Warntafeln an die Innenseiten meines Schädels – ‚Du sollst Vater und Mutter ehren, sons t…‘ und: ‚ Haumeamea, Heimat der sprechenden Dornen‘ Was gibt’s denn zu essen?