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Der bessere Lügner
Der Mann trug einen makellosen Anzug und hielt eine schwarze Aktentasche in der Hand, die vor und zurück schwang, als er die Treppe hinauf hastete. Die ersten grauen Haare und kleine Falten im Gesicht verrieten, dass er die Fünfziger überschritten hatte. Er rannte in Eile fast den Studenten um, der gerade seine Lesebrille aufsetzte und eine Zeitung in der Hand hielt.
„Entschuldigen Sie mich junger Mann, könnten sie mir sagen, wann der nächste Zug auf diesem Gleis hier kommt?“
„Ja, um sechs Uhr.“
„Gut, danke.“
„Wo wollen Sie denn hin? Das Bankenviertel liegt in der anderen Richtung.“ Er schätzte sein Gegenüber als den typischen Geschäftsmann ein, immer in Eile und Hast auf dem Weg zum nächsten Termin, der nächsten Verhandlung. Daher die schelmische Bemerkung, weil er die vollen Terminkalender der Geschäftsleute aus der Stadt immer ein wenig belächelte.
„Von dort komme ich. Ich bin auf dem Weg zu meiner schwangeren Frau, sie liegt im Krankenhaus und es ist gleich so weit.“ Nun lächelte auch der Mann im Anzug.
Der Student beglückwünschte ihn, schlug die Zeitung auf und die beiden setzten sich auf eine Bank. 17:57 Uhr zeigte die große Bahnhofsuhr. Noch drei Minuten.
„Hören Sie, könnten Sie mir vielleicht einen Gefallen tun? Ich würde ungerne meinen Aktenkoffer mit ins Krankenhaus schleppen. Könnten Sie ihn vielleicht entsorgen? Keine Sorge, darin sind nur wertlose Papiere und ich benötige weder sie noch den Koffer.“
Der Student runzelte die Stirn und betrachtete den Aktenkoffer, der mit einem Zahlenschloss versehen war. Der Fremde blickte ihn aufrichtig und freundlich an. Nach kurzem Zögern bejahte er und nahm den Koffer an sich.
„Das ist sehr nett, danke.“ Der Geschäftsmann blickte nervös auf die Uhr und das Gleis.
Dann nahm der Jüngere seine Brille ab, fischte ein Brillenputztuch aus seiner Hosentasche und wischte sie sorgfältig sauber. Er hielt sie prüfend in das schummrige Licht im Bahnhofgebäude.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, aber wenn ich eins in meinen jungen Jahren gelernt habe, dann, dass derjenige, der hetzt, nur dem Tod entgegen hetzt.“ Der Student hielt erneut seine Brille hoch ins Licht und schien das Glas nach Schmutz abzusuchen. Anscheinend fand er nichts, setzte sie auf und blickte auf die Uhr. 17:58.
Der Mann neben ihm überlegte kurz und erwiderte dann nachdenklich: „Manch einer hetzt vielleicht auch dem Tod davon.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Sie sind noch jung, aber wenn man älter wird muss man sich manchmal beeilen, wenn man noch etwas vorhat.“ Er besah die große Bahnhofsuhr, welche anzeigte, dass es nur noch wenige Sekunden bis zur vollen Stunde waren. „Der Zug sollte jetzt kommen oder?“
Der Student hatte einen plötzlichen Einfall und schaute den Mann neben sich überrascht an: „Verdammt, heute ist doch Montag, da kommen die Züge auf dem anderen Gleis.“ Er zeigte über das Gleis auf den gegenüberliegenden Bahnsteig und erhob sich von der Bank.
„Was? Sind Sie sicher?“ Der Mann sah sich aufgeregt um und sprang auf.
Der Student lächelte ihn aufmunternd an. „Es tut mir leid, aber wir müssen nur durch die Unterführung und können den nächsten Zug in zehn Minuten nehmen.“
Dem Mann schien die Unterführung nicht zu behagen, er wollte über das Gleis auf den gegenüberliegenden Bahnsteig sprinten. Die Uhr schlug allerdings soeben 18:00 Uhr und der Zug rollte mit einem grausamen Knirschen und Quietschen an den Bahnsteig, an ihren Bahnsteig.
Er hatte jemanden umgebracht.
Die Beamten kamen just in diesem Moment in das Bahnhofsgebäude gestürmt und riefen laut um sich. Einer zeigte hektisch auf den Zug. Der junge Mann zeigte unter den Zug.
Dann schlug er seine Zeitung zu, die von einem gesuchten Mörder berichtete, der seine Frau erschossen hatte, anbei ein Phantombild des Mannes. Er gab einem nahenden Polizisten den Koffer. Er konnte den Inhalt erahnen. Prüfend betrachtete er noch einmal seine glänzende Brille, hielt sie ins Licht und konstatierte das zunehmende Blaulicht, das durch die Glastüren des Bahnhofs blitzte und von den sauberen Gläsern reflektiert wurde.
Beide hatten jemanden umgebracht. Bestraft würde aber niemand mehr werden.