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Der Besuch
Oh Gott, dachte sie. Warum habe ich mir das nur angetan?
Paris war damals so weit weg gewesen und sie hatte auch keine Lust auf Besuch gehabt.
Vor allem nicht von einem, der so offenkundig auf sie stand und für den sie nur freundschaftliche Gefühle gehegt hatte.
In einer von Wein beseelten Stimmung hatte sie damals Jean-Louis nach München eingeladen. Im Laufe der Zeit war sie dann immer mehr zurückgerudert.
- Weißt Du, jetzt ist es gerade ganz schlecht, ich habe so viel zu tun…
- Stell Dir vor, ich habe einen Mann kennen gelernt, da weiss ich noch nicht, ob da was draus wird…
- Ich habe mich verlobt und mein Verlobter ist sehr eifersüchtig…
Jean-Louis hatte nicht lockergelassen.
- Ist doch kein Problem, können wir verschieben.
- Zeig mir doch den Mann, ich kann dir dann schon sagen, ob der ok ist.
- Macht nichts, ich freue mich darauf, deinen Verlobten kennen zu lernen.
Und dann war er auch noch mit einem konkreten Termin herausgerückt.
- Du, ich habe in Salzburg zu tun, und auf der Rückreise könnte ich eine Nacht in München bleiben, das wäre doch sehr schön, wenn wir uns da träfen. Ich würde mich so freuen, dich zu sehen.
Und sie hatte sich gedacht, na gut, wenn es denn so sein soll, dass er kommt – ich werde schon jemanden finden, der für diesen einen Abend meinen Verlobten spielt.
Sie hatte ihm geschrieben, dass ihr Verlobter Paul hieße und nun war sie eben auf der Suche nach einem Paul für eine Nacht.
Aber die Kollegen hatten alle bereits etwas vor. Schachclub, Volleyball, Karten spielen, Verabredung, die schon lange feststand, jeder hatte abgelehnt.
Und nun war es schon Mittag, um halb acht hatte sie sich vor dem Rathaus mit Jean-Louis verabredet.
Verdammt, wo bekomm ich nun einen Verlobten her. Das kann doch nicht so schwer sein.
Sie stand in der U-Bahn und betrachtete angelegentlich einen gut aussehenden Mann, lässig gekleidet, der Zeitung las.
Wenn er jetzt auch am Marienplatz aussteigt, dann frag ich den. Bitte, bitte, bitte, lass ihn dort aussteigen. Draussen packte sie ihn am Ärmel.
- Entschuldigen Sie, aber hätten Sie nicht Lust heute Abend mit mir kostenlos Essen zu gehen? Ich brauche nämlich dringend einen Verlobten.
Der Mann blickte sie amüsiert an. Um seine Mundwinkel zuckte ein leises Lächeln. Er schien schon ablehnen zu wollen, da hielt er nochmal inne und fragte nach:
- Wie Verlobten? Was, ich versteh nicht ganz.
- Na ja, wissen Sie, ich hab da was ganz Dummes gemacht, ich war so sehr davon überzeugt, dass ich für heute Abend im Kollegenkreis jemanden finde, der bereit ist meinen Verlobten zu spielen und jetzt hat gar keiner Zeit. Und ich brauch doch so dringend jemanden. Ich bekomme Besuch aus Frankreich für einen Abend und ich habe dem vorgelogen, dass ich verlobt wäre und ich weiss gar nicht mehr was ich tun soll.
Während dieser hastig herausgesprudelten Sätze war das Grinsen im Gesicht des Mannes immer breiter geworden.
- Gut, da mach ich gerne mit, finde ich irgendwie witzig. Wo sollen wir uns denn treffen? Und wie heisst Du überhaupt?
- Mein Name ist Karla und wir könnten uns um viertel nach sieben am Stachus treffen, da kann ich dir dann noch was zu heute Abend erzählen. Dein Name interessiert mich nicht, denn ich habe Jean-Louis erzählt, dass mein Verlobter Paul heisst. Und dass er Informatiker ist, kaum französisch kann und bei meinen Eltern gerade einen Kamin eingebaut hat, weil er sich handwerklich schon immer hervorgetan hat.
Gut, hatte der falsche Paul gemeint. Das könne man hinkriegen.
Um kurz nach sieben hatten sie sich wie vereinbart am Stachus-Brunnen getroffen, waren zusammen einträchtig zum Rathaus geschlendert.
Jean-Louis war freudestrahlend auf sie zu gekommen, hatte sie sehr innig umarmt, sie hatte gegen ihr schlechtes Gewissen ankämpfen müssen.
Doch Paul hatte von all dem nicht viel bemerkt. In fließendem französisch hatte er ihn begrüßt. Ein lebhafter, angenehmer Abend gefüllt mit ausgezeichnetem Essen, gutem Wein, angeregter Unterhaltung.
Nun ab und zu waren die Blicke der beiden Männer nachdenklich auf sie gerichtet gewesen.
Besonders als der falsche Paul von seinem Beruf als Lehrer berichtete, zugab, dass er handwerklich nicht sehr begabt war und in der Freizeit am allerliebsten draussen mit dem Fahrrad unterwegs war.
Aber irgendwann war auch dieser Abend verstrichen, Jean-Louis war verabschiedet und sie war mit dem falschen Paul zurückgeblieben.
Sie fuhren noch zu ihm, nahmen in seiner Wohnung noch einen Drink, das eine kam zum anderen und am nächsten Morgen war sie vollkommen verkatert nachhause gefahren.
Und nun, sechzehn Tage später, sitzt sie in der Küche, denkt, oh Gott, warum habe ich mir das nur angetan?
Hält den Papierstreifen in der Hand, wartet angespannt.
Und freut sich nach einer Weile, dass es nochmal gut gegangen ist.
Denn wie hätte sie dem Kind erklären sollen, dass sein Vater der falsche Paul gewesen wäre…