Der Bettler
Ich beschloss, dem Mann einen Dollar zu geben. Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit ging, saß der Mittvierziger vor der U-Bahn-Station und bettelte um ein wenig Geld. Er war in dreckige, lumpige Kleidung gehüllt, dass er auf der Straße wohnte, sah man ihm an. Im Vorbeigehen gab ich ihm den Dollar. Er sah mich nicht an, doch er sagte „Danke“ und nickte deutlich mit Kopf. Am nächsten Tag gab ich ihm zwei Dollar. Das war mehr, als man einem Bettler für gewöhnlich gab. Doch erneut bedankte er sich nur und nickte, ohne mich anzusehen.
Also beschloss ich, ihm am Tag darauf zehn Dollar zu geben. So viel hatte er vermutlich noch nie bekommen. Was würde er denken? Wie würde er reagieren? Ich war so gespannt auf seine Reaktion, dass mir das Herz klopfte, sobald ich ihn von weitem sah. Ich wollte keinen Dank, ich wollte nur seine Augen sehen. Ich zog den Zehn-Dollar-Schein aus meinem Portemonnaie, hielt ihn zwischen Zeigefinger und Daumen fest, damit der Bettler es bemerkte und legte ihm das Geld schließlich in seine Sammelbüchse ohne anzuhalten. Als er die Geldnote sah, blickte er erstaunt auf. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Seine traurigen Augen waren groß geworden, sein Mund vor Staunen geöffnet. Diesmal sagte er nicht „Danke“, aber sein Nicken war länger und respektvoller als sonst. Ich hielt einen Moment inne, dann ging ich weiter.
Ich wollte ein Gefühl des Triumphes erleben, doch stattdessen, war mir merkwürdig ums Herz. In den Augen des Bettlers hatte ich mich selbst gesehen.
In der U-Bahn begann ich nachzudenken. Waren zehn Dollar überhaupt genug? Genug für ein Menschenleben? Der Mann dürfte in meinem Alter sein. Was ist ihm bloß widerfahren, dass er auf der Straße leben muss? Warum hatte ich in meinem Leben bisher so viel Glück und er offenbar nicht? Warum sitzt er dort und nicht ich?
Ich beschloss, dem Mann am nächsten Tag 1.000 Dollar zu geben. Ich stand extra früher auf, um vorher zur Bank zu gehen. Mir war mulmig zumute. Konnte ich denn 1.000 Dollar so einfach entbehren? Was würde meine Freundin, was würden meine Eltern dazu sagen? Jeder ist für sich selbst verantwortlich, würden sie sagen und dass ich ein Dummkopf sei, einem Wildfremden so viel Geld zu geben, der sein ganzes Geld vermutlich verspielt oder verprasst hat. Doch mein Entschluss stand fest: Ich wollte ihm helfen, ihm eine zweite Chance geben. Das tun, was auch ich mir gewünscht hätte, wenn ich selber der Bettler gewesen wäre.
Ich hielt das Geld bereit, als ich wie jeden Morgen in die Straße mit der U-Bahn-Haltestelle einbog. Mein Herz klopfte. Ich wollte ihm die tausend Dollar geben und dann ganz schnell verschwinden. Schon hatte ich Gewissensbisse, weil ich das Geld selber gut gebrauchen konnte und es später bereuen würde, es so einfach weggegeben zu haben. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, doch ich beschloss, ihm das Geld trotzdem zu geben.
Ich näherte mich der Stelle, an der der Bettler an den Tagen zuvor gesessen hatte. Doch der Bettler war nicht da. Die Stelle wo er gesessen hatte, zeichnete sich noch deutlich ab in dem platt gesessenen Rasen auf dem Seitenstreifen, doch von dem Mann war keine Spur zu sehen. Vielleicht war er von der Polizei aufgelesen und in ein Obdachlosenheim gebracht worden. Vielleicht war er krank geworden und hatte ein Krankenhaus aufgesucht. Vielleicht war er auch einfach nur weiter gezogen. Ich würde es wohl nicht erfahren.
Ich steckte das Geld wieder ein und ging auf die Haltestelle zu. Ich lächelte und dankte dem Bettler in Gedanken. Ein Gefühl des Triumphes stieg in mir auf. Von dem Geld würde ich meiner Freundin heute ein besonders schönes Geschenk kaufen.