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Der Bettler

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22.12.2004
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Der Bettler

Ich beschloss, dem Mann einen Dollar zu geben. Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit ging, saß der Mittvierziger vor der U-Bahn-Station und bettelte um ein wenig Geld. Er war in dreckige, lumpige Kleidung gehüllt, dass er auf der Straße wohnte, sah man ihm an. Im Vorbeigehen gab ich ihm den Dollar. Er sah mich nicht an, doch er sagte „Danke“ und nickte deutlich mit Kopf. Am nächsten Tag gab ich ihm zwei Dollar. Das war mehr, als man einem Bettler für gewöhnlich gab. Doch erneut bedankte er sich nur und nickte, ohne mich anzusehen.

Also beschloss ich, ihm am Tag darauf zehn Dollar zu geben. So viel hatte er vermutlich noch nie bekommen. Was würde er denken? Wie würde er reagieren? Ich war so gespannt auf seine Reaktion, dass mir das Herz klopfte, sobald ich ihn von weitem sah. Ich wollte keinen Dank, ich wollte nur seine Augen sehen. Ich zog den Zehn-Dollar-Schein aus meinem Portemonnaie, hielt ihn zwischen Zeigefinger und Daumen fest, damit der Bettler es bemerkte und legte ihm das Geld schließlich in seine Sammelbüchse ohne anzuhalten. Als er die Geldnote sah, blickte er erstaunt auf. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Seine traurigen Augen waren groß geworden, sein Mund vor Staunen geöffnet. Diesmal sagte er nicht „Danke“, aber sein Nicken war länger und respektvoller als sonst. Ich hielt einen Moment inne, dann ging ich weiter.

Ich wollte ein Gefühl des Triumphes erleben, doch stattdessen, war mir merkwürdig ums Herz. In den Augen des Bettlers hatte ich mich selbst gesehen.

In der U-Bahn begann ich nachzudenken. Waren zehn Dollar überhaupt genug? Genug für ein Menschenleben? Der Mann dürfte in meinem Alter sein. Was ist ihm bloß widerfahren, dass er auf der Straße leben muss? Warum hatte ich in meinem Leben bisher so viel Glück und er offenbar nicht? Warum sitzt er dort und nicht ich?

Ich beschloss, dem Mann am nächsten Tag 1.000 Dollar zu geben. Ich stand extra früher auf, um vorher zur Bank zu gehen. Mir war mulmig zumute. Konnte ich denn 1.000 Dollar so einfach entbehren? Was würde meine Freundin, was würden meine Eltern dazu sagen? Jeder ist für sich selbst verantwortlich, würden sie sagen und dass ich ein Dummkopf sei, einem Wildfremden so viel Geld zu geben, der sein ganzes Geld vermutlich verspielt oder verprasst hat. Doch mein Entschluss stand fest: Ich wollte ihm helfen, ihm eine zweite Chance geben. Das tun, was auch ich mir gewünscht hätte, wenn ich selber der Bettler gewesen wäre.

Ich hielt das Geld bereit, als ich wie jeden Morgen in die Straße mit der U-Bahn-Haltestelle einbog. Mein Herz klopfte. Ich wollte ihm die tausend Dollar geben und dann ganz schnell verschwinden. Schon hatte ich Gewissensbisse, weil ich das Geld selber gut gebrauchen konnte und es später bereuen würde, es so einfach weggegeben zu haben. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, doch ich beschloss, ihm das Geld trotzdem zu geben.

Ich näherte mich der Stelle, an der der Bettler an den Tagen zuvor gesessen hatte. Doch der Bettler war nicht da. Die Stelle wo er gesessen hatte, zeichnete sich noch deutlich ab in dem platt gesessenen Rasen auf dem Seitenstreifen, doch von dem Mann war keine Spur zu sehen. Vielleicht war er von der Polizei aufgelesen und in ein Obdachlosenheim gebracht worden. Vielleicht war er krank geworden und hatte ein Krankenhaus aufgesucht. Vielleicht war er auch einfach nur weiter gezogen. Ich würde es wohl nicht erfahren.

Ich steckte das Geld wieder ein und ging auf die Haltestelle zu. Ich lächelte und dankte dem Bettler in Gedanken. Ein Gefühl des Triumphes stieg in mir auf. Von dem Geld würde ich meiner Freundin heute ein besonders schönes Geschenk kaufen.

 

Hallo!
Zwar ist die Idee einem Bettler einfach so 1000Dollar zu geben ziemlich absurd, doch macht ja gerade diese Idee die Geschichte aus. Ich finde es interessant, dass manche Mensche für ihr eigenes Leben viel lernen, wenn sie bereit sind ein wenig mehr nach außen zu geben und nicht zur Ich-bezogen handeln.
Es ist gut, dass du dies aufzeigst, auch wenn mich an deiner Geschichte irgendetwas stört. Du hättest ein wenig spannender schreiben sollen, das Ende ist schon fast vorauszusehen. Doch das Fazit mit dem inneren Triumph ist gut, denn ich denke der Triumph ist positiv zu bewerten, da der Mann gelernt hat, dass "Geben" oftmals die eigene Seele stärken kann.
Schön, dass du dieses Thema aufgreifst.
Dome

 

Hallo Jay Walker,

herzlich willkommen.
Warum muss der Bettler unbedingt Dollars bekommen, wenn dein Prot ihn doch auf dem Weg zur U-Bahn trifft?
Dass auch 10.000 Dollar oder Euro oder was auch immer dem Bettler nicht beständig helfen würden, wenn er keinen Job und keine Wohnung bekommt, wirst du sicher auch wissen. Es ging dir ja eher um das, was in deinem Prot vorgeht. Geben kann verändern, die Perspektive gerade rücken.
Der Plot mit dem Bettler ist natürlich schon ein bisschen altbacken. Das Motiv wurde schon ähnlich oft bemüht, wie Blinde, die Sehenden die Welt zeigen.
Leider habe auch ich schon bei dem Gedanken an den hohen Betrag geahnt, dass der Bettler nicht mehr da sitzen wird. Und im Grunde mogelst du dich dadurch um das, was neu wäre. Der richtige Verzicht.
So bleibt die Geschichte sowohl im Plot als auch in der Gestaltung leider unspektakulär.

Stilistisch wäre es sicher schon spannender, wenn du nicht so viele Sätze mit "Ich" beginnen würdest.

Lieben Gruß, sim

 

JayWalker,

ich finde es ebenfalls reizvoll, einem Bettler 1000 Dollar zu geben, da das wohl kaum jemand wirklich machen würde. Inhaltlich kann ich nichts gegen deine Idee sagen, da jeder Einfall bearbeitungswert ist, wenn er nur gut umgesetzt wird.
Was mich aber stört, ist das Ende.

Ich steckte das Geld wieder ein und ging auf die Haltestelle zu. Ich lächelte und dankte dem Bettler in Gedanken. Ein Gefühl des Triumphes stieg in mir auf. Von dem Geld würde ich meiner Freundin heute ein besonders schönes Geschenk kaufen.
Deine Geschichte hat einen direkten Einstieg, zu dem ein offenes Ende besser passen würde. Ich finde es demzufolge völlig unwichtig, warum der Bettler nicht auf seinem Platz sitzt.
Ich näherte mich der Stelle, an der der Bettler an den Tagen zuvor gesessen hatte. Doch der Bettler war nicht da.
Damit solltest du abschließen; alles, was danach kommt, ist unbedeutend für die Aussage.
In den Augen des Bettlers hatte ich mich selbst gesehen.
Ich verstehe die Bedeutung dieses Satzes, dennoch würde ich dir empfehlen, ihn zu ändern, da er viel zu direkt ist.
Überhaupt bringst du viele Dinge zu sehr auf den Punkt. Es muss dem Leser möglich sein, zwischen den Zeilen zu lesen, bei jedem Lesen noch etwas Neues zu entdecken.

Fazit: Die sprachliche Gestaltung kannst du noch verbessern. Es ist besser, die Dinge nur anzudeuten, um das Interesse des Lesers zu gewinnen. Nimmt man ihm jede Fantasie, wird er die Geschichte nicht mehr als einmal lesen und sie vermutlich schon kurz darauf vergessen.

Gruß, Saffron.

 

Hallo Saffron, sim und Dome. Vielen Dank für eure Anmerkungen und eure wirklich guten Tipps! Dass an meiner Geschichte noch einiges im Argen liegt, habt ihr völlig richtig erkannt. "Der Bettler" ist meine allererste Kurzgeschichte und das richtige Gefühl dafür muss ich erst noch entwickeln.
Umso mehr danke ich euch für eure konstruktiven Vorschläge, die mir sehr weiter helfen. Vielen Dank!

@ Dome2000. Du hast vollkommen Recht. Die Geschichte wirkt irgendwie zu glatt und ist (@sim) bestimmt nicht originell. Mir kam die Idee für die Geschichte bei einem Aufenthalt in Asien wo die Landeswährung Dollar ist, deswegen diese eigenwillige Währung. :)

Damals habe ich dem Bettler übrigens keine 10 und schon gar keine 1.000 Dollar gegeben, aber ich habe mich ständig gefragt, was wohl passiert wäre wenn. Zum Glück (oder leider) braucht man ja nicht weit zu gehen, um ein solches Experiment durchzuführen. Ich habe mir fest vorgenommen, es zu tun, und zwar nach Weihnachten, wenn alle vergessen haben, dass es die Bettler immer noch gibt.

Übrigens hat mich vor kurzem ein Landstreicher in der Stadt angesprochen. Anstatt ihm Geld zu geben, habe ich ihm eine Stunde lang zugehört. Ich glaube, das hat seit Monaten keiner gemacht. Er hat geweint und sich vielmals bedankt. Als ich los musste und ihm Geld geben wollte, hat er das sogar abgelehnt.

 

... ja, zuhören ist manchmal besser als einfach nur geben und danach schnell wieder wegsehen. da ich in meiner freizeit viel mit hilfebedürftigen zu tun habe, denke ich sagen zu können, dass man mehr wie du handeln sollte, jaywalker, um so den menschen mehr hoffnung zu geben, sodass sie ihr leben vielleicht selbst wieder in griff bekommen. denn wenn jemand nur geld bekommt und keine perspektive hat, um etwas damit anzufangen, kommt man aus diesem kreislauf nicht raus...
grüße, frohe weihnachten, dome

 

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