Der Blick
Ihren Platz hatte sie schon am ersten Tag gefunden.
Sie war auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ungestört weinen konnte. Das ist jetzt zwei Monate her.
Seit diesem Tag steht sie oft an diesem Platz vor dem Gebäude, in dem er jetzt ist und immer wieder kehren dieselben Gedanken zurück: Er und sie, getrennt für die nächsten zehn Jahre. Und er ist schuld, er hat ihr Leben zerstört, sie verlassen. Das durfte er nicht, dazu hatte er kein Recht. Sie hatte ihn geliebt, liebt ihn noch immer.
Sie versucht ruhig zu bleiben, verschränkt ihre Arme. Immer wieder kommen diese Bilder zurück, wie er in der Nacht wie ein Fremder nach Hause kam. Sie hatte auf ihn gewartet, geahnt, dass etwas passiert war, dass er ihre Hilfe brauchte. Und als sie um vier Uhr in der Frühe das Haus gerade verlassen wollte, um ihn zu suchen, da stand er vor ihr. Zitternd. Weinend. Wie ein Kind. Er roch nach Schweiß, nach Alkohol, seine Kleidung war schmutzig, an manchen Stellen zerrissen. Er versuchte zu sprechen, konnte es nicht. Sie umarmte ihn. Da sah sie in einiger Entfernung das Blaulicht eines Polizeiwagens. Sie wusste, dass er etwas Schlimmes getan hatte, traute sich nicht zu fragen.
Dann ging alles zu schnell, die Ereignisse überschlugen sich: Er löste sich aus ihren Armen, lief die Straße entlang, Polizeisirenen, ein Schuss, ein Schrei, die Strasse voller Licht, überall Menschen. Auf einmal wieder Stille, Einsamkeit, eine leere Strasse, ein zerstörtes Leben.
Sie fuhr noch in der Nacht aufs Polizeipräsidium, wollte wissen, was passiert war. Dort erfuhr sie, dass er angetrunken ein kleines Mädchen überfahren hatte. Das Mädchen starb an den Folgen ihrer Verletzungen. Erst viele Stunden danach, als die Polizei durch Zeugenaussagen seinen Namen und die Addresse erfuhr, konnte man ihn festnehmen. Die Zeit davor hatte er in einem Park gelegen, geschrieen, geheult, getrunken, erzählt er später. Sie verurteilten ihn zu zehn Jahren Haft.
Jetzt sieht sie sich wie aus der Perspektive einer dritten Person, sieht sich am Fenster stehen, auf das Gefängnis blicken. Plötzlich keine Liebe mehr, kein Hass, keine Verzweiflung, nur noch eine große Nüchternheit und der Klang einer inneren Stimme: Er ist kein schöner Mann, nichts an ihm ist eigentlich schön, weder sein Äußeres noch die Art wie er mit dir umging. Er ist nicht sonderlich intelligent und betrunken ist er auch oft. Was ist es also, was du eigentlich liebst? Was ist das Geheimnis dieser Beziehung? Er ist es nicht. Nicht dieser vereinsamte, gebrochene Mann. Jede seiner Schwächen kennst du, jede Angst, jeden Schmerz, jeden verlorenen Traum, nicht weil er dir davon erzählt, sondern weil du ihn durchschaust. Ja, du liebst seine Hilfsbedürftigkeit, seine Schwäche, ihn liebst du nicht. Sie nickt.
Nein, unsere Beziehung ist eine Lüge, unsere Liebe eine Illusion. Ich brauche ihn nicht, muss nicht auf ihn warten, nicht zehn Jahre meines Lebens verschenken. Mir geht es besser ohne ihn.
Sie geht die Treppe hinunter, ein Lächeln auf ihren Lippen.
Sie wird noch Hunderte von Malen an diesem Platz sein und jedes Mal wird sie versuchen, ihn zu vergessen. Was bleibt ist das Warten, das Warten auf ihn.