- Beitritt
- 31.08.2008
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Der Blick
„Sie waren damals bei der Urteilsverkündung.“
„Ja. Und Sie haben mein Leben verändert.“
„Ihr Leben verändert?“
„Ja. Nicht, daß ich es Ihnen vorwerfe. Aber es stimmt.“
„Was wissen Sie von mir?“
„Sind Sie Fritz Damm?“
„Nein. Mein Name ist Franco Domenico. Aber das wissen Sie doch … Sie waren doch im Prozess…“
„Sie schreiben Leserbriefe als Fritz Damm.“
„Ja.“
„Niemand sonst hätte diese Schmähbriefe schreiben können. Man spürt die Nähe zur Tat. Man spürt die Schuld, der Sie zu entfliehen suchen. Sie leiden unter dem Freispruch.“
„Es war kein Freispruch, nicht wirklich. Sie sind die Frau des Richters, stimmt´s? Hätte Ihr Mann mich verurteilt, hätte alles seinen Abschluß gefunden, ich hätte eingesessen, ein paar Jahre, hätte gebüßt, hätte bereut, vielleicht sogar das … so bin ich auf der Flucht, immer in Gedanken an diesen unrechten Freispruch, diese unverdiente Freiheit, immer auf der Flucht vor den Häschern, die gar nicht daran denken, das Urteil anzunehmen und mich in Ruhe zu lassen…“
„Das sehe ich. Deshalb sitzen Sie jetzt an meinem Tisch.“
„Ja, ich habe Sie entdeckt und gleich erkannt. Aber dann haben Sie mich fixiert und ich dachte, Sie hätten mir etwas zu sagen - Sie ließen nicht ab, mich anzustarren, Ihr Blick ließ mich nicht los. Nun können Sie schlecht zu mir an den Tisch kommen, nicht in einem Dorf in Tirol, deshalb habe ich den Schritt getan …“
„Sie haben mich nicht erkannt. Eine halbe Stunde hat es in Ihnen gearbeitet, bis die Erinnerung aufstieg … sie haben gekocht und getrunken und geschwitzt, dann hat es gefunkt und Sie sind sofort her …“
„Ja, ich habe mich entschieden …“
„Nichts haben Sie entschieden … es ist wie damals, es hat Sie getrieben und es ist geschehen … Ihr Totschlag, oder war es doch eher Mord? Ihre Flucht, heute Ihr Gang zu diesem Tisch, zu mir - eben alles … dabei ist es wichtig, sich zu entscheiden, im Leben, mit Menschen, schauen Sie mir in die Augen und nicht auf meine Figur, auch da müssen Sie sich entscheiden … und ganz besonders 1940 in Tirol …“
„Es stimmt. Bin ich Deutscher oder Italiener? Oder Österreicher? Ich spreche italienisch so gut wie deutsch, Hitler oder Mussolini, das macht ebenfalls keinen Unterschied, aber wer sich für´s Reich entscheidet, wird umgesiedelt … es ist nicht nur die Frage, wer ich bin, sonder auch, auf welcher Seite die Vorteile liegen.“
„Und auf welcher Seite die Angst …“
„Ich hatte Angst. Umsiedlung bedeutet neues, unbekanntes. Natürlich hatte ich Angst. Hitler war mächtig, aber wie lange? War es richtig, sich auf seine Seite zu schlagen? War es weise? War es ehrlich?“
„Alles das nicht. Sie waren unschlüssig und haben ausgeharrt, gewartet, bis die Zeit eine Entscheidung für Sie trifft.“
„Sie haben recht; ich wurde getrieben, auch damals. Ich komme mir schwach vor, angesichts eines Menschen wie Ihres Mannes, eines Richters, der die Ungemach eines unpopulären Urteils in Kauf nimmt und mich freispricht, nicht weil ich unschuldig war, sondern weil es recht war, in dubio pro reo…“
„Mein Mann war ein Feigling.“
„Wie hätte er mich dann freisprechen können? Bei der Stimmung im Volk?“
„Ich habe es erlebt, wie er das konnte. Er wollte Sie verurteilen, trotz der schwachen Beweislage. Es wäre auch bestätigt worden, das Urteil, angesichts der Stimmung, das wußte er … aber die Tage vorher ging ständig das Telefon, sogar der Innenminister hat angerufen, kurz nach Mitternacht …“
„ …ich verstehe nicht …“
„ … Ihr Opfer, der Herr Profanter, war ein Regimegegner, eine Schlüsselfigur im Untergrund. Es war eine sehr willkommene Tat, was Sie vollbracht haben, und Ihre Verurteilung hätte die falsche Botschaft ausgesandt … man wollte dem Volk ja zeigen: macht weiter so.“
„Aber dann hat Ihr Mann ja alles richtig gemacht, für seine Karriere …“
„Von wegen, die Proteste aus der Bevölkerung wollten nicht aufhören, da hat man ihn fallengelassen, um es zu beenden, ein Bauernopfer, er wurde versetzt, der arme betrogene Opportunist.“
„Und Sie haben ihn auch fallengelassen?“
„Als Frau sucht man einen Mann, der im Leben steht, der greifbar ist, wenn Sie wissen, was ich meine.“
„Ja, ich fürchte ja.“
„Herr Ober! Bitte zwei Gläser Rotwein, danke.- Sie haben es nicht hinter sich, noch nicht. Aber ich auch nicht. Ich kann meinen Mann vergessen, aber nicht diese Geschichte. Sie muß raus, ich möchte alles aufschreiben, alles.“
„Und ich soll Ihnen dabei helfen?“
„Ja, sie geben mir die Informationen, die ich nicht habe, die zweite Hälfte der Geschichte, sozusagen, oder besser: die erste Hälfte…“
„Ja, die erste Hälfte. Und ich bekomme dafür?“
„Ein Buch, das Ihre Schuld auflöst, wie auch meine Wut. Ein Buch, das die Öffentlichkeit aufklärt über die wahren Hintergründe, ein Buch, das unsere Lebensgeschichten zusammenführt und dieses Kapitel abschließt. Danke, Herr Ober.“
„Ein kleines Stückchen Literatur, das uns befreit … Prost, wohl bekomm´s!“
„Prost!“