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Der blinde Spiegel des Narziss
Im Feuilleton der Zeitung «Neue Zürcher Zeit» schaute er auf den fett gedruckten, aber klein gesetzten Titel: «Aurel Kamm-Stein - Kritiker ohne Maulkorb». Es gab ihm Bestätigung, wenn er seinen Namen im Kulturteil einer renommierten Zeitung lesen konnte. Ein Gefühl schöpferischer Dominanz, gar Omnipotenz erfüllte ihn. Als Literaturkritiker eilte ihm der Ruf eines unbestechlichen, unduldsamen und süffisanten Rezensenten voraus. Er erwartete über die Literaturdebatte, die er als prominenter Gast mit zwei Schriftstellern, einer Journalistin und einem Moderator vorgestern Abend am Deutschen Fernsehen bestritt, einen seine Kritik würdigenden Artikel. Drei Bücher wurden besprochen, wobei er den Roman «Bruchlandung» des jungen Germanisten Thomas von Kleist, in Stil und Inhalt akribisch sezierend, als dilettantisch und lächerlich aufgezeigt hatte. Die Wogen waren hoch gegangen, die andern Teilnehmer widersprachen, waren seiner Rhetorik jedoch nicht gewachsen.
Mit Stirnrunzeln las er den kurz gefassten Artikel. Nach knapper, sachlicher Umschreibung des Sendeablaufs und der Zitierung ausgewählter Äusserungen von ihm in der Debatte, übte man Zurückhaltung gegenüber seiner Wertung des Werks des jungen von Kleist. Hervorgehoben wurde, dass Kamm-Stein ein angesehener Kritiker sei und sein Urteil sich auf die Verkaufszahlen von besprochenen Büchern, wie auf die beruflichen Erfolgsaussichten der Autoren auswirken kann. Seine Ausführungen seien in dieser Rezension jedoch zu hart und zu kompromisslos ausgefallen, seine Einschätzung wohl wenig gelungen. Die Zeitung erdreistete sich gar infrage zu stellen, ob er das Buch durchgehend gelesen oder lediglich punktuelle Absätze herausgegriffen habe. Der Artikel schloss dann mit der Empfehlung, die geneigten Leser möchten sich doch selbst ein Bild über das Buch machen und dieses unvoreingenommen lesen.
Empört griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Zeitung. Sein Verlangen mit dem verantwortlichen Redaktor des Feuilletons, Hermann Wegner, den er persönlich gut kannte, sprechen zu können, wurde nach kurzer Wartezeit abgewiesen. Herr Wegner sei in einer Redaktionssitzung und anschliessend ganztägig ausser Haus. Sein insistieren wurde zur Kenntnis genommen, man sagte ihm aber einzig zu, Herrn Wegner mitzuteilen, dass er Herr Kamm-Stein, angerufen habe.
Durch diesen Vorfall war seine Laune noch missmutiger. Er beabsichtigte Wegner mitzuteilen, dass er es als persönlichen Affront auffasse, wenn irgendein grüner Anfänger in dieser rüden Form über ihn kleckse, und dies vor Drucklegung durch den Redaktor nicht einmal bemerkt und ausgemerzt werde. So etwas sei ihm in seiner Karriere noch nie widerfahren.
Es dauerte einige Zeit, bis seine Emotionen soweit gedämpft waren, dass er sich wieder seiner Arbeit widmen konnte. Er griff zur «Frankfurter Zeitung». In dieser wichtigen Wirtschaftszeitung, welche über eine hervorragende Feuilletonredaktion verfügt, hatte man bestimmt nicht einen Auszubildenden mit der Abfassung des Kommentars zu seinem Fernsehauftritt bedacht.
Die Erwartung, sein Name prange auf der ersten Seite des Feuilletons, erfüllte sich nicht. Auch auf den folgenden Seiten nahm er seinen Namenszug nicht wahr. Sicher erschien der Bericht erst in der nächsten Ausgabe, dafür mit grösster Sorgfalt formuliert. Wieder auf der ersten Feuilletonseite, begann er die Artikel zu lesen. An prominenter Stelle stand da: «Der blinde Spiegel des Narziss». Klein gedruckt als Untertitel, «Ein Kommentar zur Fernseh-Literatursendung, von Annette v. K.» Er realisierte erst beim Weiterlesen, dass es um seine Sendung ging. Zu den beiden erst besprochenen Büchern, welche er mit für ihn milden Formulierungen bestehen liess, hob man vorwiegend die Ausführungen der andern Teilnehmer hervor, seine Akzeptanz beinah nur wie ein ergänzendes Schlusszeichen setzend.
Alsdann wurde auf Thomas von Kleist eingegangen, dessen vielversprechendes Erstlingswerk vorliege. Als Spross einer Familie, die seit Generationen dem europäischen Kulturleben verpflichtet sei, habe er mit «Bruchlandung» einen Roman geschrieben, der genau in diese Welt eintauche. Er beschreibe darin die fiktive Figur des Theaterkritikers Peter Hartmann. Die Entwicklung seiner prägenden Jugend und die zunehmend verschärfte Eigenart seiner Persönlichkeit im Alterungsprozess. Nach dem Willen der Mutter erhielt er als Kind Ballettunterricht, ein auf die Dauer aussichtsloses Unterfangen. Zudem belächelten ihn andere Kinder deshalb. In der Jugend fühlte er sich in seiner Umgebung vielfach ausgeschlossen. Er konnte keine dauerhaften Beziehungen begründen, da sein Dominanzstreben für andere inakzeptabel war. Hartmann absolvierte nach dem Gymnasium eine Schauspielausbildung, fand im Beruf dann jedoch keine Befriedigung, da es ihm an anspruchsvollen Engagements und Anerkennung mangelte. Den Bruch mit diesem Lebensabschnitt vollziehend, wandte er sich einem Journalismusstudium zu. Noch im Gymnasium hatte ein Lehrer ihn auf seine schlummernden Fähigkeiten in der Rhetorik hingewiesen, ihn gefördert und Antrieb gegeben, dieses Talent auch weiter zu entwickeln. Diese Begabung ermöglichte ihm, sich bei der Zeitung zu profilieren und zu spezialisieren. Seine Theatererfahrung kam ihm für diese Aufgabe nun zugute. Er veröffentlichte auch einige Essays, ohne jedoch grossen Anklang zu finden. Der grosse Durchbruch stellte sich erst mit den Theaterkritiken ein, welche er mit Herzblut verfasste. Doch mit der Erfahrung wuchs auch sein Drang, an den Erfolgen der Stücke teilzuhaben, durch Lob oder Tadel, welche er beide in eine überzeugende Sprache umzusetzen verstand. Auf der Höhe seines Erfolgs wurde ihm bewusst, dass es für ihn keinen weiteren Aufstieg mehr geben konnte. Für andere Aufgaben wie etwa als Theaterregisseur oder als Autor von Theaterstücken fehlte ihm die Fähigkeit und Inspiration. In diesem Stadium wurde seine Persönlichkeitsveränderung bemerkbar. Er forderte von anderen mehr ab, als diese erbringen konnten. An deren wirklichen und vermeintlichen Mängeln biss er sich dann fest.
Die Zusammenfassung des Romaninhaltes überflog Kamm-Stein gelangweilt, doch nun begann der Kommentar zur Fernsehdebatte. Die Kommentatorin schilderte gerafft seine, Kamm-Steins, Kritik am Werk des Autors und auch die entgegengesetzten Meinungen der andern Teilnehmer. Die Zitate von ihm und die Widerreden der anderen waren ihm bewusst. Seinen Standpunkt fand er nach wie vor angebracht und richtig. Er hatte durchaus einen strengen und unnachgiebigen Massstab gesetzt, aber er war nicht bereit die Wahrheit zu beugen.
Als er mit dem Abschnitt der persönlichen Einschätzung von Annette v. K. zu lesen begann, schoss ihm das Blut ins Gesicht. Kamm-Stein habe sich bei der Beurteilung dieses Werkes verrannt, da es in ihm vermutlich eine geballte Ladung an Identifikation hervorrief. In den letzten Jahren habe Kamm-Stein, dessen brillante Rhetorik unbestritten sei, sich vermehrt wie ein Herrscher über die Welt der Gegenwartsliteratur aufgeführt, vor dessen Gnade oder Ungnade die Autoren sich zu unterwerfen hatten. Die fiktive Figur des gnadenlosen Theaterkritikers, welche der Autor frei erfand, der seine personifizierten Objekte durch seine Gnade oder Ungnade manipulierte, sei unerwartet auf eine ebenbürtige Entsprechung im wirklichen Leben gestossen. Das Tragische daran sei, dass dieser Narziss sein Spiegelbild zu erkennen vermeinte, obwohl er nur in einen blinden Spiegel in Form eines identifizierenden Romans blickte. Durch die Rollengleichheit der Identifikationsfigur dürfte es bei ihm wohl eine Krise ausgelöst haben, derer er sich nicht bewusst wurde. Ein Narzisst sei in der Regel vollkommen uneinsichtig, wenn man ihm einen Spiegel vorhält und dieser ein anderes Bild wiedergibt, als er sich selbst wünscht. So sei es für ihn eine logische Konsequenz gewesen, den Angriff auf eine identische Person, und sei sie auch nur in einem Roman personifiziert, mit allen Mitteln abzuwehren. Was sich real vollzog, hätte in der Antike durchaus den Stoff zu einem griechischen Drama bilden können.
Die Wut von Kamm-Stein hatte sich in einen tiefsitzenden Schock verwandelt, die Röte im Gesicht hatte einer Leichenblässe Platz gemacht. Die Handlungen und die Leitfigur des Romans gewannen in ihm eine lebendige Gegenwart, die sich mit Teilen seines eigenen Lebens überschnitt. Tränen traten in seine Augen, in zwei schmalen Spuren über das Gesicht rinnend. Er fühlte sich wieder wie der Knabe, der die Erwartungen seiner Eltern nicht erfüllen konnte, und die fehlende Zuneigung und Liebe in sich selbst finden musste, da sie ihm niemand gab.
Kamm-Stein nahm Dr. Fischer gegenüber Platz, einem namhaften Anwalt, der unter anderem auf Verlags- und Autorenrechte spezialisiert war. Den Termin erhielt er, Dringlichkeit anmahnend, innert Tagesfrist. Seine Emotionen waren in einer eisigen Gefühlskälte eingefroren, so dass er sein Anliegen überlegt und präzis vortrug. Seine Forderung richtete sich an die «Frankfurter Zeitung» und an deren Kommentatorin Annette v. K. Er erwarte eine vollumfängliche Entschuldigung und Rücknahme des Artikels sowie ein Schmerzensgeld in der Höhe von 100'000 Euro. Der Anwalt verzog bei der Schilderung der Darstellung von Kamm-Stein und dessen Forderung keine Miene, machte sich jedoch vereinzelt Notizen. Als sein Klient endete, wartete er bedacht einen Moment. Für eine Forderung in dieser Form sehe er keine Chancen, bemerkte er dann unmissverständlich. Man könne durchaus prozessieren, doch ein Gericht würde den beiden Parteien bei einem solchen Sachverhalt einen Vergleich empfehlen. Dies wäre auch der richtige Weg, da sich sonst ein Streit bis an die oberste Instanz jahrelang hinzöge. Das Ergebnis wären wahrscheinlich Teilerfolge für beide Seiten, bei nach sich ziehenden immensen Kosten.
Kamm-Steins Emotionen wallten auf, Röte stieg ihm ins Gesicht. Der Anwalt, welcher ihn genau beobachtete, fuhr mit seinen Überlegungen fort. Er habe die Lage bereits sondiert, bei Annette v. K. handle es sich um eine entfernte Verwandte des Autors Thomas von Kleist. Sie habe einen Lehrstuhl für angewandte Psychologie inne und schreibe zuweilen freischaffend Kolumnen für angesehene Blätter. Der Artikel war vor Veröffentlichung bereits der Rechtsabteilung der Zeitung vorgelegen. Man hatte also nicht unüberlegt die Publikation des kritischen Kommentars zugelassen. Er schlug Kamm-Stein vor, einen Vergleich anzustreben, in dem dieser sich bei Thomas von Kleist für seine überspitzten Äusserungen entschuldige und seine Einschätzung von dessen Roman relativiere. Anderseits würde er von Annette von Kleist eine Entschuldigung dafür erhalten, dass sie Worte wählte, die ihn in seiner persönlichen Würde verletzten. Der Verlag sei bereit symbolisch ein Schmerzensgeld von einem Euro zahlen, und den Vergleich in der Zeitung abzudrucken. Fischer ersuchte Kamm-Stein, sich dies einige Tage in Ruhe zu überlegen und ihm dann Bescheid zu geben.
In der Folge kam Kamm-Stein nicht zur Ruhe. Je länger seine Gedanken um die von ihm als diskriminierend empfundenen Bemerkungen der Annette von Kleist kreisten, desto mehr aktivierte sich, seinen Persönlichkeitseigenarten entsprechend; der Abwehrmechanismus. Die Charaktere der Romanfigur konnten, seiner Einschätzung nach nicht einem wirklich existierenden Menschen zugeordnet sein. Und schon gar nicht ihm. Dies war eine masslose Diffamierung. Der Entscheid stand für ihn fest. Er würde vollumfänglich Rehabilitation verlangen, über seine bisherige Forderung hinaus auch die Rücknahme des Romans «Bruchlandung» durch den Verlag, mit Hinweis auf seine kompetente Einschätzung.