Was ist neu

Der blinde Spiegel des Narziss

Seniors
Beitritt
29.01.2010
Beiträge
1.501
Zuletzt bearbeitet:

Der blinde Spiegel des Narziss

Im Feuilleton der Zeitung «Neue Zürcher Zeit» schaute er auf den fett gedruckten, aber klein gesetzten Titel: «Aurel Kamm-Stein - Kritiker ohne Maulkorb». Es gab ihm Bestätigung, wenn er seinen Namen im Kulturteil einer renommierten Zeitung lesen konnte. Ein Gefühl schöpferischer Dominanz, gar Omnipotenz erfüllte ihn. Als Literaturkritiker eilte ihm der Ruf eines unbestechlichen, unduldsamen und süffisanten Rezensenten voraus. Er erwartete über die Literaturdebatte, die er als prominenter Gast mit zwei Schriftstellern, einer Journalistin und einem Moderator vorgestern Abend am Deutschen Fernsehen bestritt, einen seine Kritik würdigenden Artikel. Drei Bücher wurden besprochen, wobei er den Roman «Bruchlandung» des jungen Germanisten Thomas von Kleist, in Stil und Inhalt akribisch sezierend, als dilettantisch und lächerlich aufgezeigt hatte. Die Wogen waren hoch gegangen, die andern Teilnehmer widersprachen, waren seiner Rhetorik jedoch nicht gewachsen.

Mit Stirnrunzeln las er den kurz gefassten Artikel. Nach knapper, sachlicher Umschreibung des Sendeablaufs und der Zitierung ausgewählter Äusserungen von ihm in der Debatte, übte man Zurückhaltung gegenüber seiner Wertung des Werks des jungen von Kleist. Hervorgehoben wurde, dass Kamm-Stein ein angesehener Kritiker sei und sein Urteil sich auf die Verkaufszahlen von besprochenen Büchern, wie auf die beruflichen Erfolgsaussichten der Autoren auswirken kann. Seine Ausführungen seien in dieser Rezension jedoch zu hart und zu kompromisslos ausgefallen, seine Einschätzung wohl wenig gelungen. Die Zeitung erdreistete sich gar infrage zu stellen, ob er das Buch durchgehend gelesen oder lediglich punktuelle Absätze herausgegriffen habe. Der Artikel schloss dann mit der Empfehlung, die geneigten Leser möchten sich doch selbst ein Bild über das Buch machen und dieses unvoreingenommen lesen.

Empört griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Zeitung. Sein Verlangen mit dem verantwortlichen Redaktor des Feuilletons, Hermann Wegner, den er persönlich gut kannte, sprechen zu können, wurde nach kurzer Wartezeit abgewiesen. Herr Wegner sei in einer Redaktionssitzung und anschliessend ganztägig ausser Haus. Sein insistieren wurde zur Kenntnis genommen, man sagte ihm aber einzig zu, Herrn Wegner mitzuteilen, dass er Herr Kamm-Stein, angerufen habe.

Durch diesen Vorfall war seine Laune noch missmutiger. Er beabsichtigte Wegner mitzuteilen, dass er es als persönlichen Affront auffasse, wenn irgendein grüner Anfänger in dieser rüden Form über ihn kleckse, und dies vor Drucklegung durch den Redaktor nicht einmal bemerkt und ausgemerzt werde. So etwas sei ihm in seiner Karriere noch nie widerfahren.

Es dauerte einige Zeit, bis seine Emotionen soweit gedämpft waren, dass er sich wieder seiner Arbeit widmen konnte. Er griff zur «Frankfurter Zeitung». In dieser wichtigen Wirtschaftszeitung, welche über eine hervorragende Feuilletonredaktion verfügt, hatte man bestimmt nicht einen Auszubildenden mit der Abfassung des Kommentars zu seinem Fernsehauftritt bedacht.

Die Erwartung, sein Name prange auf der ersten Seite des Feuilletons, erfüllte sich nicht. Auch auf den folgenden Seiten nahm er seinen Namenszug nicht wahr. Sicher erschien der Bericht erst in der nächsten Ausgabe, dafür mit grösster Sorgfalt formuliert. Wieder auf der ersten Feuilletonseite, begann er die Artikel zu lesen. An prominenter Stelle stand da: «Der blinde Spiegel des Narziss». Klein gedruckt als Untertitel, «Ein Kommentar zur Fernseh-Literatursendung, von Annette v. K.» Er realisierte erst beim Weiterlesen, dass es um seine Sendung ging. Zu den beiden erst besprochenen Büchern, welche er mit für ihn milden Formulierungen bestehen liess, hob man vorwiegend die Ausführungen der andern Teilnehmer hervor, seine Akzeptanz beinah nur wie ein ergänzendes Schlusszeichen setzend.

Alsdann wurde auf Thomas von Kleist eingegangen, dessen vielversprechendes Erstlingswerk vorliege. Als Spross einer Familie, die seit Generationen dem europäischen Kulturleben verpflichtet sei, habe er mit «Bruchlandung» einen Roman geschrieben, der genau in diese Welt eintauche. Er beschreibe darin die fiktive Figur des Theaterkritikers Peter Hartmann. Die Entwicklung seiner prägenden Jugend und die zunehmend verschärfte Eigenart seiner Persönlichkeit im Alterungsprozess. Nach dem Willen der Mutter erhielt er als Kind Ballettunterricht, ein auf die Dauer aussichtsloses Unterfangen. Zudem belächelten ihn andere Kinder deshalb. In der Jugend fühlte er sich in seiner Umgebung vielfach ausgeschlossen. Er konnte keine dauerhaften Beziehungen begründen, da sein Dominanzstreben für andere inakzeptabel war. Hartmann absolvierte nach dem Gymnasium eine Schauspielausbildung, fand im Beruf dann jedoch keine Befriedigung, da es ihm an anspruchsvollen Engagements und Anerkennung mangelte. Den Bruch mit diesem Lebensabschnitt vollziehend, wandte er sich einem Journalismusstudium zu. Noch im Gymnasium hatte ein Lehrer ihn auf seine schlummernden Fähigkeiten in der Rhetorik hingewiesen, ihn gefördert und Antrieb gegeben, dieses Talent auch weiter zu entwickeln. Diese Begabung ermöglichte ihm, sich bei der Zeitung zu profilieren und zu spezialisieren. Seine Theatererfahrung kam ihm für diese Aufgabe nun zugute. Er veröffentlichte auch einige Essays, ohne jedoch grossen Anklang zu finden. Der grosse Durchbruch stellte sich erst mit den Theaterkritiken ein, welche er mit Herzblut verfasste. Doch mit der Erfahrung wuchs auch sein Drang, an den Erfolgen der Stücke teilzuhaben, durch Lob oder Tadel, welche er beide in eine überzeugende Sprache umzusetzen verstand. Auf der Höhe seines Erfolgs wurde ihm bewusst, dass es für ihn keinen weiteren Aufstieg mehr geben konnte. Für andere Aufgaben wie etwa als Theaterregisseur oder als Autor von Theaterstücken fehlte ihm die Fähigkeit und Inspiration. In diesem Stadium wurde seine Persönlichkeitsveränderung bemerkbar. Er forderte von anderen mehr ab, als diese erbringen konnten. An deren wirklichen und vermeintlichen Mängeln biss er sich dann fest.

Die Zusammenfassung des Romaninhaltes überflog Kamm-Stein gelangweilt, doch nun begann der Kommentar zur Fernsehdebatte. Die Kommentatorin schilderte gerafft seine, Kamm-Steins, Kritik am Werk des Autors und auch die entgegengesetzten Meinungen der andern Teilnehmer. Die Zitate von ihm und die Widerreden der anderen waren ihm bewusst. Seinen Standpunkt fand er nach wie vor angebracht und richtig. Er hatte durchaus einen strengen und unnachgiebigen Massstab gesetzt, aber er war nicht bereit die Wahrheit zu beugen.

Als er mit dem Abschnitt der persönlichen Einschätzung von Annette v. K. zu lesen begann, schoss ihm das Blut ins Gesicht. Kamm-Stein habe sich bei der Beurteilung dieses Werkes verrannt, da es in ihm vermutlich eine geballte Ladung an Identifikation hervorrief. In den letzten Jahren habe Kamm-Stein, dessen brillante Rhetorik unbestritten sei, sich vermehrt wie ein Herrscher über die Welt der Gegenwartsliteratur aufgeführt, vor dessen Gnade oder Ungnade die Autoren sich zu unterwerfen hatten. Die fiktive Figur des gnadenlosen Theaterkritikers, welche der Autor frei erfand, der seine personifizierten Objekte durch seine Gnade oder Ungnade manipulierte, sei unerwartet auf eine ebenbürtige Entsprechung im wirklichen Leben gestossen. Das Tragische daran sei, dass dieser Narziss sein Spiegelbild zu erkennen vermeinte, obwohl er nur in einen blinden Spiegel in Form eines identifizierenden Romans blickte. Durch die Rollengleichheit der Identifikationsfigur dürfte es bei ihm wohl eine Krise ausgelöst haben, derer er sich nicht bewusst wurde. Ein Narzisst sei in der Regel vollkommen uneinsichtig, wenn man ihm einen Spiegel vorhält und dieser ein anderes Bild wiedergibt, als er sich selbst wünscht. So sei es für ihn eine logische Konsequenz gewesen, den Angriff auf eine identische Person, und sei sie auch nur in einem Roman personifiziert, mit allen Mitteln abzuwehren. Was sich real vollzog, hätte in der Antike durchaus den Stoff zu einem griechischen Drama bilden können.

Die Wut von Kamm-Stein hatte sich in einen tiefsitzenden Schock verwandelt, die Röte im Gesicht hatte einer Leichenblässe Platz gemacht. Die Handlungen und die Leitfigur des Romans gewannen in ihm eine lebendige Gegenwart, die sich mit Teilen seines eigenen Lebens überschnitt. Tränen traten in seine Augen, in zwei schmalen Spuren über das Gesicht rinnend. Er fühlte sich wieder wie der Knabe, der die Erwartungen seiner Eltern nicht erfüllen konnte, und die fehlende Zuneigung und Liebe in sich selbst finden musste, da sie ihm niemand gab.

Kamm-Stein nahm Dr. Fischer gegenüber Platz, einem namhaften Anwalt, der unter anderem auf Verlags- und Autorenrechte spezialisiert war. Den Termin erhielt er, Dringlichkeit anmahnend, innert Tagesfrist. Seine Emotionen waren in einer eisigen Gefühlskälte eingefroren, so dass er sein Anliegen überlegt und präzis vortrug. Seine Forderung richtete sich an die «Frankfurter Zeitung» und an deren Kommentatorin Annette v. K. Er erwarte eine vollumfängliche Entschuldigung und Rücknahme des Artikels sowie ein Schmerzensgeld in der Höhe von 100'000 Euro. Der Anwalt verzog bei der Schilderung der Darstellung von Kamm-Stein und dessen Forderung keine Miene, machte sich jedoch vereinzelt Notizen. Als sein Klient endete, wartete er bedacht einen Moment. Für eine Forderung in dieser Form sehe er keine Chancen, bemerkte er dann unmissverständlich. Man könne durchaus prozessieren, doch ein Gericht würde den beiden Parteien bei einem solchen Sachverhalt einen Vergleich empfehlen. Dies wäre auch der richtige Weg, da sich sonst ein Streit bis an die oberste Instanz jahrelang hinzöge. Das Ergebnis wären wahrscheinlich Teilerfolge für beide Seiten, bei nach sich ziehenden immensen Kosten.

Kamm-Steins Emotionen wallten auf, Röte stieg ihm ins Gesicht. Der Anwalt, welcher ihn genau beobachtete, fuhr mit seinen Überlegungen fort. Er habe die Lage bereits sondiert, bei Annette v. K. handle es sich um eine entfernte Verwandte des Autors Thomas von Kleist. Sie habe einen Lehrstuhl für angewandte Psychologie inne und schreibe zuweilen freischaffend Kolumnen für angesehene Blätter. Der Artikel war vor Veröffentlichung bereits der Rechtsabteilung der Zeitung vorgelegen. Man hatte also nicht unüberlegt die Publikation des kritischen Kommentars zugelassen. Er schlug Kamm-Stein vor, einen Vergleich anzustreben, in dem dieser sich bei Thomas von Kleist für seine überspitzten Äusserungen entschuldige und seine Einschätzung von dessen Roman relativiere. Anderseits würde er von Annette von Kleist eine Entschuldigung dafür erhalten, dass sie Worte wählte, die ihn in seiner persönlichen Würde verletzten. Der Verlag sei bereit symbolisch ein Schmerzensgeld von einem Euro zahlen, und den Vergleich in der Zeitung abzudrucken. Fischer ersuchte Kamm-Stein, sich dies einige Tage in Ruhe zu überlegen und ihm dann Bescheid zu geben.

In der Folge kam Kamm-Stein nicht zur Ruhe. Je länger seine Gedanken um die von ihm als diskriminierend empfundenen Bemerkungen der Annette von Kleist kreisten, desto mehr aktivierte sich, seinen Persönlichkeitseigenarten entsprechend; der Abwehrmechanismus. Die Charaktere der Romanfigur konnten, seiner Einschätzung nach nicht einem wirklich existierenden Menschen zugeordnet sein. Und schon gar nicht ihm. Dies war eine masslose Diffamierung. Der Entscheid stand für ihn fest. Er würde vollumfänglich Rehabilitation verlangen, über seine bisherige Forderung hinaus auch die Rücknahme des Romans «Bruchlandung» durch den Verlag, mit Hinweis auf seine kompetente Einschätzung.

 

Hallo,

eine Detailkritik werde ich nicht schreiben, weil du die letzte schon nicht zur Kenntnis genommen hast. :)

Das ist ein guter Text, er hat mir gefallen, allerdings geht ihm zum Ende hin die Luft aus. Dass die Frankfurter Zeitung ausgerechnet die Mutter des angegriffenen Autors dort einen Kommentar schreiben lässt, ist einfach doof. Das würde nie und nimmer passieren, nicht in dieser anonymen Form.
Und dass die Figur, die stark an MRR angelegt ist (die ganze Situation ruft ja nach Tod eines Kritikers von Walser) dann sofort von seiner Frau verlassen wird und das alles zusammenbricht ... moah. Mir war das zu dick gegen Ende.

Wir haben hier ein wunderbares Dilemma: Er kann den Text nicht angreifen, weil seine Position sofort angegriffen wird, also nicht seine Argumente, sondern die Grundlage seiner Argumentation. Und dagegen kann man sich nicht wehren. Das ist ein tolles Thema. Durch die unterkühlte Wiedergabe (die freilich an einigen Stellen daneben liegt) wird die Stimmung des Textes gestützt.

Der Gedanke mit dem Roman als blinder Spiegel, indem sich Narziss nur selbst sieht, ist brilliant. Ich weiß nicht, ob der von dir ist oder ob es ein Zitat ist, aber der Abschnitt hat mir sehr gut gefallen.

Gruß
Quinn

 

Hallo Quinn

Den Titel formulierte ich für diese Geschichte selbst. Da mir eine solche Umdeutung jedoch naheliegend war, habe ich vor der Publikation soweit mir möglich noch überprüft, ob jemals ein Stück mit gleichlautendem Titel geschrieben wurde. Dies war negativ. Der Begriff eines blinden Spiegels an sich ist vereinzelt, aber nicht literarisch, jedoch schon verwendet worden.

MRR war nicht das Motiv dieser Geschichte. Auch nicht in Anlehnung an Martin Walser, der in seiner neuen Publikation «Lesen und Schreiben» für die Leser begründet, warum er vor 34 Jahren MRR zu Ohrfeigen beabsichtigte. Zwar muss ich gestehen, dass MRR beim Schreiben mir assoziativ kurz mal in den Sinn kam. Mir ging es um die Figur und die Motive des Kritikers, die durchaus auch andere Variationen erlaubt hätte. Die Unwahrscheinlichkeit der Rolle seiner Gegenspielerin war beabsichtigt, nicht zuletzt, damit eben ein Wirklichkeitsbezug oder eine Identifikation zu existierenden Personen nicht wahrscheinlich scheint.


Gruss
Anakreon

 

>In der Folge kam Kamm-Stein nicht zur Ruhe.<

Wie konnt ich - zu Teufel & Godot noch einmal! – diese neuere Anakreontik übersehn,

lieber Anakreon?

Dieser kleine Text von gerade einmal drei einzeiligen Seiten Manuskript unter TNR 12 pt. liefert m. E. einen kleinen Rundumschlag auf den vor Eitelkeiten strotzenden Literaturmarkt mitsamt seinen Beobachtern (Q & mich also nicht ausgeschlossen). Und das durch den an sich einfachen Trick, das Suffix der „Nachricht“ - d. i. die ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks „Zeitung“ - bei der Neuen Zürcher Zeitung zu unterdrücken. So gelingt ein Rundumschlag von Süd nach Nord, von Zürich bis Hamburg (Die Zeit) mit einem Zwischenstopp bei der »Frankfurter Zeitung«, die es in dieser Bezeichnung seit 1943 nicht mehr gibt, die aber ebenbürtige & durchaus bekannte Nachfolger gefunden hat.
Nach den Nachrichtenträgern greifstu auf altehrwürdige Namen von Dichtern zurück (der Kleist’sche Name ist nicht erst mit Heinrich, sondern schon durch seinen Onkel bekannt geworden) usw. usf., dass ich mir nur noch zwei Hinweise erlaube, ohne dass ich sicher sein dürfte, dass da Anspielungen vorlägen i. d. S., wie ich’s meine, erkannt zu haben:
Der Maulkorb heißt eine Filmkomödie von 1938 (!), in der Erich Engel – seines Zeichens auch Brecht-Regisseur! – Kritik an autoritären Systemen ausdrückte – er wählte das KaiserReich -, ohne dass er Schaden nahm, und der Kamm ist von der Bedeutung her nicht nur das Haarsortierwerkzeug, sondern bedeutete über die Stufen kamb (ahd.), kamp/kam (mhd.) das Kollektiv der Zähne (die ja auch nix anderes sind als Zacken und nix bessres tun, als mehr oder weniger schön beim Lächeln zu wirken und gelegentlich Nahrung zu „sortieren“ – das dann hoffentlich bei geschlossenem Munde).

Eine Geschichte, die verdammt viel schon in den ersten Zeilen hergibt, darf man nicht ignorieren, dass ich Quinn bereits beneide, wenngleich ihm das dicke Fell abgeht, aufs Detail einzugehen. Um nicht andern Interessenten den Spaß zu verderben und den Joachim Kaiser hervorzugkehren (womit ein wenig die alte Tante SZ neben NZZ/Zeit/FAZ auftauchte und MRR ja schon aus“sortiert“ wurde) – der Text könnt auch als Satire durchgehen, ohne dass er sich danach drängte.

Aber auch hier gäb’s den Makel der inflationären würde-Konstruktionen. Z. T. ist nach dem Warum zu fragen:

>Der Artikel würde über die Literaturdebatte berichten, welche er als prominenter Gast mit zwei Schriftstellern, einer Journalistin und einem Moderator vorgestern Abend am Deutschen Fernsehen bestritten hatte.< Reichte dort nicht ein Futur mit der wird-Konstruktion? Und wären da Zweifel, warum könnte dann nicht statt des umgangssprachlichen „würde“ ein „sollte“ stehn?

Ähnlich beim >Er würde Wegner klarmachen …< Wird ers dem Wegner doch nicht zeigen?

Dann abschließend ein Himmelfahrtskommando von Hilfsverben: >Er erwartete, dass sein Name auf der ersten Seite des Feuilletons hervorgehoben sein würde.< Warum nur?

>Dies wäre auch der richtige Weg, da sich sonst ein Streit bis an die oberste Instanz jahrelang hinziehen würde.< Warum nicht „hinzöge“, was ein Wort ersparte und die Zahl der Buchstaben der Konstruktion um die Hälfte reduzierte?

Gäb’ es heutigentags einen Menschen, der die folgenden Verse nicht kennte, der aber den Text nach einmaligem hören korrekt wiedergäbe, sofern er denn müsste, insbesondere die ersten vier Zeilen?

»Wenn ich ein Vöglein wär
und auch zwei Flügel hätt,
flög ich zu dir,
weil´s aber nicht kann sein​
bleib ich allhier«​
Aus Des Knaben Wunderhorn​

Wir dürfen es getrost bezweifeln. Es kläng’ in beschriebenem Fall etwa wie folgt:

„Würd’ ich ein Vöglein sein
und auch zwei Flügel haben,
ich würde zu dir fliegen,
weil es aber nicht sein kann,
bleib ich hier liegen“,

so also - oder ähnlich - trüge man das Volkslied vor. Denn der Konjunktiv II - der Konjunktiv irrealis, wie er auch genannt wird - ist bereits Opfer des Denglischen geworden, und wird hier auf der Plattform auch fleißig versenkt.
Usw. usf.

Vielleicht durch landschaftlichen Gebrauch bestimmt, gleichwohl befremdlich >Herr Wegner sei an einer Redaktionssitzung und ...< Wäre Herr W. nicht eher IN der Sitzung?

Zuletzt will ich noch die Verwendung des Apostrophs ein wenig bemäkeln (die Kleinkrämerseele soll ja auch ihre Freude haben): Der Apostroph wird auf keinen Fall beim Genitiv im Gegensatz zum Angelsächsischen nur bei Auslassungen von Buchstaben verwendet, wobei der Duden hundsgemein viele Freiheiten lässt.

Gruß & schönes Wochenende wünscht

Friedel

 

Hallo Friedel

Der Gedanke des Narzissten kam mir beim lesen von Kritiken, die ich nicht unbefangen aufnahm, so ritt mich dann Mephistopheles: „Ich bin des trocknen Tons nun satt. Muss wieder recht den Teufel spielen. [Goethe, Faust - Studierzimmer]“ Diese Zitierung ist hier selbstredend missbräuchlich, da aus seinem Kontext gerissen, aber der Wahrnehmung von damals sich annähernd.

Den renommierten Zeitungen eine entsprechende Kritik zu unterstellen, erschien mir illegitim, aber doch sollten sie nicht unerwähnt sein, so blieb mir nur der Umweg über Assoziationen, um diese dem Leser zu suggerieren. Die Süddeutsche, die ich auch gelegentlich lese, hätte ich gerne auch noch einbezogen, doch wäre es überladen worden. Doch Dir ist assoziativ dieser Sprung gelungen. Hut ab.

Bei der Namenswahl Kamm-Stein dachte ich an das angeschwollene Kopfteil eines Gockels, dem jedoch ein möglichst äquivalentes Gegenstück beizuordnen war, um die Vielfalt von Persönlichkeit hier nicht auch noch zu unterdrücken. Die Verwendung des Namens Stein trat ich zwar ungern ab, da in meinem Gedankenreservoir die vage Vorstellung ruht, einmal etwas zu Gertrude Stein zu schreiben.

Dem begnadeten Gehalt Deiner erfrischenden und humorvollen Kritik mag ich nicht widersprechen, auch nicht nach Ausflüchten suchen, einzig meine Unzulänglichkeit als Zeugen zulassend. Sirwen erfasste es in seinem Feedback zu Godot treffend schön mit antiquiertem Erzählton. Ich bin schamlos genug es einzugestehen, werde mich aber künftig um direkte Aussagen bemühen und auch die alten Stücke bei Gelegenheit wieder zur Hand nehmen, um sie zu überdenken.

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

"Er fühlte sich wieder wie der Knabe, der die Erwartungen seiner Eltern nicht erfüllen konnte, und die fehlende Zuneigung und Liebe in sich selbst finden musste, da sie ihm niemand gab".

Also, bevor der Knabe soweit kommt, kämpft er erstmal um die Aufmerksamkeit, zunächst bei den Eltern, dann beim Publikum. Die meisten finden dabei nicht oder sehr spät den Weg zu sich.

Ich möchte jedoch nicht das Lob der Vorkritiker schmälern; auch mir hat die Geschichte gefallen; der zynisch aufgeladene Stil spricht mich an, trotzdem hierzu eine Anmerkung: der Stil ist sehr deskripiv, er ignoriert "show, don´t tell" völlig und ich frage mich, wie die Geschichte sich lesen würde (T´schuldigung, Friedel, daß hier nicht "läse" steht), wenn sie in kurzen, dichten Dialogen die Charaktere herausarbeitete (!), statt nur zu benennen.

"Ein Gefühl von schöpferischer Dominanz, von Omnipotenz erfüllte ihn. Er sinnierte, als Literaturkritiker eilte ihm der Ruf eines unbestechlichen, unduldsamen und süffisanten Rezensenten voraus"
Da fühle ich mit, aber das ist so krass, das ließe sich auch leicht darstellen.

Trotzdem gern gelesen,

Gruß Set

 

Hallo Set

Dass die Geschichte Dir gefallen hat, freut mich. Dass es das Zynische war, das Dich ansprach, entlockte mir ein Lächeln. In Geschichten, die wir lesen, suchen wir oft Anreize die uns in einer Form selbst entsprechen und/oder annähernd Identifikation erlauben. Das Lob der vorgehenden Kritiker schmälerst Du nicht. Jeder Kritiker hat doch wie auch jeder Autor seine eigenen Perspektiven. Einzig Kritiken, deren ganzer Tenor „Diese Suppe esse ich nicht“ oder anders ausgedrückt „Deine Geschichte mag ich nicht“ lautet, scheinen mir wenig sinnvoll, es sei denn der Schreibende benötige dies um den eigenen Frust abzubauen. Danke für Deine Kritik, der ich gerne entgegne.

Selbstverständlich kämpft ein Kind in der Regel um Aufmerksamkeit, ein bereits im Babyalter natürlicher entwicklungspsychologischer Vorgang. Ausnahmen stellen etwa Autisten dar, bei denen das Ausbleiben solcher Emotionen eben erste Merkmale ihrer Störung sind. Schon die Persönlichkeit der Figur Kamm-Stein erlaubt den Rückschluss, dass er seit jeher stark um diese Aufmerksamkeit bemüht war. Dies kommt im von Dir aus der Geschichte zitierten Satz m. E. auch klar zum Ausdruck. Dass dieser Erwartung jedoch nicht immer entsprochen wird, ist aus verschiedenen Gründen keine Seltenheit. Wie ich Deinen Worten aber auch entnehme, meinst Du wohl die Erlangung von Reife, welche i. d. R. am Ende der Adoleszenz mit dem Erwachsenwerden sich erfüllt. Diese Reifung kann unterschiedlich auftreten. Der in der Geschichte beschriebene Prozess ist durchaus realistisch und nicht zwingend eine Frage von Reifung.

Jeder Autor schreibt seine Geschichten so, wie er sie selbst gedanklich durcharbeitet, wie sie für ihn Gestalt annehmen und im Stil so, wie sie ihm für seine Darlegung entsprechen. Ich selbst bevorzuge diese beschreibend erzählende Form für Kurzgeschichten, sie erlaubt m. E. dem Leser verstärkt bildgebenden Spielraum, wobei keine Regel ohne Ausnahme. Aber dies ist natürlich Ansichtssache. Selbst lese ich auch gerne Bücher, die weitgehend aus Dialogen bestehen, sei es etwa die „Mutter Courage“ oder auch nur ein Schmöker. Ich verstehe Deine Empfindung, dass Dir der „Narziss“ zu deskriptiv sei, teile diese Meinung aber nicht. Dass der Anklang bei den Lesern unterschiedlich ausfällt, ist in der Natur der Sache. Selbstverständlich wäre sie auch in dichten, aufreizenden Disputen möglich gewesen, doch würde das Manuskript m. E. dann zwanzig oder mehr Seiten umfassen, um den gleichen Effekt erzielen zu können.

Gruss

Anakreon

 

hallo Anakreon,

"Selbstverständlich wäre sie auch in dichten, aufreizenden Disputen möglich gewesen, doch würde das Manuskript m. E. dann zwanzig oder mehr Seiten umfassen, um den gleichen Effekt erzielen zu können."

Das habe ich mir bei meiner Kritik auch gedacht: mit Dialogen kommst Du mit dem Platz nicht aus. Der Reiz des beschreibenden Stils liegt auch in der Verdichtung. Insofern war meine Kritik auch nur eine Anmerkung, bei der ich selbst nicht sicher bin, ob sie in diesem Fall zu einem besseren Ergebnis führt. Hier klappt es, weil Du es sehr ausdruckstark und präzise durchführst. Oft geht so etwas daneben und man fragt sich dann, warum die Figuren nicht sprechen.

Gruß Set

 

Hallo Set

Ich verstehe Deine Überlegung, einer Geschichten kann es unter Umständen an Esprit fehlen, wenn sie einem das Geschehen nicht in unmittelbar dialogisch nah miterleben lässt. Bei der Geschichte „Ohne Feigenblatt“ schrieb mir Rick eine sehr gute kritische Überlegung zu Dialogen: „... Man hofft, dass Dialoge an sich den Mangel an Konzept und Dramatik wettmache … Ich halte das für einen Trugschluss. …“ Es hat mich bestärkt, mich vermehrt an deskriptive und mässig gemischte Formen zu halten, der qualitative Anspruch an den Autor wird damit nicht zurückgestellt.

Deine abschliessende Einschätzung des „Narziss“ freut mich, ist es doch eine Geschichte, an die ich mich selbst sehr gerne erinnere.

Gruss

Anakreon

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom