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Der Blumengiesser
Der Blumengiesser
Vom sanften Schaukeln und Rütteln des Zuges werde ich schläfrig. Mein Kopf sinkt schwer in die Lehne, die Lider fallen mir zu. Geschafft von den Anstrengungen des Tages strecke ich meine Beine – ich bin die Einzige im Abteil. Die Arme baumeln herunter, von aller Anspannung gelöst, ich bin ganz ruhig. Ich? Nein, mein Körper, der bewegt sich nicht, er hängt im Sitz wie ein Kartoffelsack, aber meine Gedanken, mein Herz, die mich schlussendlich lebendig machen, sind in unendlicher Aufruhr. Meine Gedanken schweifen ab von akademischem Distress wann immer möglich, und dann kreisen sie immer schneller und immer schneller um etwas, das schwer zu definieren und lokalisieren ist. Etwas, das scheinbar unerreichbar ist, und doch so nah und deutlich scheint; etwas, das einem, solange man es sieht, die Hoffnung gibt, es doch noch zu erlangen. Sagen wir, ein hoher Berggipfel. Es ist ein Berggipfel irgendwo in der weiten und furchigen Landschaft des Herzens, wohl behütet und nur für meine eigenen Gedanken zugänglich.
Während die Gedanken nun ihre Kreise ziehen und ich mich einbilde, dass sie dem Ziel Stück für Stück näher kommen, breitet sich im Herzen eine grosse Sehnsucht aus, die Sehnsucht nach dem Erreichen des Berggipfels. Dieses Gefühl ist etwas Altvertrautes, es gehört schon fast zu mir.
Aber ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt. Jedes Mal fürchte ich, mein Herz müsse zerreissen, so sehr wird es gefüllt. Die Messer der Sehnsucht stechen es wund, und doch tut es nicht nur weh. Es gibt Gewissheit, dass noch Hoffnung vorhanden ist, und dass ich noch immer gebe, was ich so sehnlichst zu bekommen wünsche. Dass es mir nicht egal ist.
Ich öffne die Augen. In diesem Augenblick fährt der Zug in einen Tunnel, es wird schwarz draussen, und im Fenster spiegelt sich mein Gesicht. Ich betrachte es – braungebrannt, schmal, länglich, hohe Stirn, gerade Nase, schöne Augen – und mustere es: die Stirn ist nicht nur hoch, sondern leicht gerunzelt vor Anstrengung und Misstrauen, die Augen dunkel und tiefgründig, zerbrechlich wirkende Nase, Furchen, die nur ich sehen und verstehen kann. Ich suche den Kontakt mit meinen Augen im Spiegel, durch sie will ich weiter schauen und das, was hinter der Fassade ist, ergründen. Was ich sehe, ist nicht unerwartet und doch erschreckend: Eine riesige Blume, aber noch völlig zerknittert, zitternd vor Anstrengung bei dem Versuch, ihre gewaltigen, frischgrünen Blätter zu entfalten. In diesen Blättern hat sie alles Wissen gespeichert, doch ist dies noch völlig verborgen in den unzähligen Falten.
Plötzlich taucht eine Gestalt auf, eine Riesengiesskanne in der Hand. Behutsam tröpfelt sie Wasser auf die Blume, die von dem Feuer des Eifers schon fast gänzlich ausgetrocknet worden war. Wasser! Das ist es, was ihr gefehlt hat. Etwas herunter gekühlt, den schon beinahe unerträglich gewordenen Durst gelöscht, hört sie auf, zu zittern. Nun kann sie sich mühelos entfalten, und sie wächst zu einer Blume von ausserordentlicher Schönheit heran, die anderen überragend an Grösse und Alter.
Die Gestalt stellt die Giesskanne auf den Boden, sie dreht sich zu mir um, und dann erkenne ich sie und sehe ihre wunderschönen, grünen Augen, die mein Spiegelbild so liebevoll anblicken. Das Bild der Blume verblasst, aber die Augen bleiben. Ich spüre das heftige Klopfen meines Herzens in meiner Brust, noch ehe ich realisiere, dass diese Person tatsächlich hinter mir steht. Die Person, auf die ich so lange gewartet habe. Nun ist der Berggipfel ganz nah, fast greifbar. Aber irgendetwas trennt mich noch von ihm, eine harte Barriere. Es ist die Angst. Die Angst, ihn zu packen und zu merken, dass meine Hand ins Leere greift, dass alles doch nur eine Illusion war.
Der Tunnel endet, der Zug fährt wieder ans Licht. Mein Spiegelbild und Seine schönen, grünen Augen verblassen, an ihre Stelle treten schweizerische Kuhweiden. Ich nehme all meinen Mut zusammen, drehe mich um und blicke direkt in diese Augen, die mir sagen, dass es gut war, die Barriere zu überwinden…