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Der Blutige
Es ist etwa einundzwanzig Uhr und ziemlich viel los für diese Uhrzeit. Ich sitze in Kasse eins gegenüber dem Eingang. Da kommt ein Typ mit leerem Blick und Blut am Mund in den Markt. Sieht aus wie das Resultat einer Schlägerei. Zwei der Typen, die immer am Markt ihr Bierchen trinken und in die Büsche pissen, kommen jeder mit einer Flasche Oettinger in der Hand hinterher. Ich weiß auch nicht, warum die Chefin nichts gegen diese Typen unternimmt. Sie kaufen bloß das Billigbier und klauen den Schnaps. Einer der beiden hat blaue Haare. Er trägt dazu eine blaue Bomberjacke, eine blaue Jeans und blaue Turnschuhe. Der andere hat rote Haare, eine rote Bomberjacke, eine rote Hose und ein rotes Paar Turnschuhe an. Blau fragt: "Habt ihr Verbandszeug?“ In Gedanken gehe ich das mir bekannte Warenangebot durch. „Ihr müsst doch einen Erste-Hilfe-Kasten haben."
"Was's denn los?", frage ich. Er zeigt auf den Typen mit dem Blut im Gesicht. Der wiederum blickt zu dem nun dicht hinter ihm stehenden Rot, der ihn an der Schulter anstößt. Der Blutige sieht zu mir und hebt seinen Arm, so dass ich die frischen Wunden unterhalb seines Handgelenks sehen kann.
"Ist er gestürzt?", frage ich weiter.
"Nein", antwortet Blau. "Er hat sich den Arm aufgeschnitten."
"Wie denn das?"
"Mit einer Rasierklinge. Wir haben sie ihm weg genommen."
"Scheiße!", denke ich. „Und warum bringt ihr ihn her?“, sage ich und beiße mir dafür auf die Zunge. Wer will schon in diesem scheiß Markt draufgehen, oder einen in seiner Schicht haben, der hier drauf gehen will? Aber sie sind ihm nur gefolgt. Was will er hier? Eine neue Klinge?
Ich hab Kundschaft an der Kasse und gebe Blau das einzig greifbare in diesem Moment, um den blutigen Arm zu säubern: ein paar Papierhandtücher, die wir für kleine Missgeschicke, wie auslaufende Schlagsahne, in der Kassenbox haben. „Frau Müller an Kasse eins, bitte“, rufe ich über die Sprechanlage die Schichtleiterin. Sie wird wissen, wo wir Verbandszeug haben.
Der Blutende türmt. Rot stellt sein Bier ab und folgt ihm. Blau macht es seinem Kumpel gleich, stoppt aber am Eingang und kommt zurück. Frau Müller steht plötzlich neben mir und fragt, was los ist. Zwei Kunden, Blau und ich erklären ihr was passiert ist. „Und was soll ich da jetzt machen?“, fragt sie.
„Rufen Sie den Notarzt“, schlägt einer der Kunden vor.
„Und wenn er nicht zurück kommt, muss ich den Einsatz zahlen?“
Ich finde das Argument plausibel, aber fast zeitgleich schießen mir die beiden Worte „unterlassene“ und „Hilfeleistung“ durch den Kopf. Ich stimme dem Kunden zu. Sie geht zum Telefon, die Kunden nach Hause und Blau folgt nun doch seinem Freund und dem Blutenden.
„Haben Sie mal einen Stuhl?“, fragt plötzlich Rot, der mit seinem Freund, den Blutenden stützend, durch die automatische Glasschiebetür kommt. Ich stürze aus meiner Box und will den Drehstuhl aus der Nachbarkasse holen. Ich erinnere mich aber an die Schwierigkeiten, die ich kürzlich damit hatte, als ich den Boden in einer der Boxen wischen sollte.
„Könnt ihr ihn da hin setzen?“, frage ich und zeige auf den Einpacktisch, der gleich neben dem Trio am Ausgang steht. Sie nicken. Blau verschwindet hinter mir im Markt. Sein Freund steht vor dem Blutenden und hält ihn, zum einen damit er nicht umfällt und zum anderen damit er nicht wieder türmt. Der Blutende sieht ihm in die Augen. Er sagt kein Wort, aber sein Blick schreit seinem Gegenüber puren Hass entgegen. Blau taucht plötzlich mit einer Rolle Verbandszeug und Pflaster wieder auf. Während ich mich frage, wo er das Zeug her hat, geht die Schiebetür auf und drei stämmige Männer in roten Sanitäteruniformen kommen herein.
„Kommen Sie bitte mit nach draußen“, sagt einer der Sanitäter fast befehlsartig. Der Blutende rührt sich aber nicht.
Ein zweiter greift ihn am Arm. Und jetzt ist es ein Befehl. „Kommen Sie mit nach draußen ins Auto!“
Sie packen ihn und führen ihn aus dem Markt. Blau holt die beiden Oettingerflaschen, dankt mir und folgt seinem roten Freund, den Sanitätern und dem Blutenden. Die drei Kunden an meiner Kasse stehen die ganze Zeit mit dem Rücken zum Geschehen und scheinen bewusst in die andere Richtung zu starren. Eine fast peinliche Stille breitet sich aus, nachdem die Szene hinter ihnen vorbei ist. Nur das Piepen des Warenscanners ist noch zu hören. Zwischen „Guten Abend“ und „fünf siebenundzwanzig, bitte“ versuche ich das gerade Geschehene zu verstehen. Die Schiebetür öffnet sich und Rot ruft: „Sie bringen ihn ins Krankenhaus wegen Suizidgefahr.“
„Danke.“
Er hebt seine Oettingerflasche zum Gruß, lächelt und verschwindet.