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Der Blutige

MiK

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12.03.2006
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Der Blutige

Es ist etwa einundzwanzig Uhr und ziemlich viel los für diese Uhrzeit. Ich sitze in Kasse eins gegenüber dem Eingang. Da kommt ein Typ mit leerem Blick und Blut am Mund in den Markt. Sieht aus wie das Resultat einer Schlägerei. Zwei der Typen, die immer am Markt ihr Bierchen trinken und in die Büsche pissen, kommen jeder mit einer Flasche Oettinger in der Hand hinterher. Ich weiß auch nicht, warum die Chefin nichts gegen diese Typen unternimmt. Sie kaufen bloß das Billigbier und klauen den Schnaps. Einer der beiden hat blaue Haare. Er trägt dazu eine blaue Bomberjacke, eine blaue Jeans und blaue Turnschuhe. Der andere hat rote Haare, eine rote Bomberjacke, eine rote Hose und ein rotes Paar Turnschuhe an. Blau fragt: "Habt ihr Verbandszeug?“ In Gedanken gehe ich das mir bekannte Warenangebot durch. „Ihr müsst doch einen Erste-Hilfe-Kasten haben."
"Was's denn los?", frage ich. Er zeigt auf den Typen mit dem Blut im Gesicht. Der wiederum blickt zu dem nun dicht hinter ihm stehenden Rot, der ihn an der Schulter anstößt. Der Blutige sieht zu mir und hebt seinen Arm, so dass ich die frischen Wunden unterhalb seines Handgelenks sehen kann.
"Ist er gestürzt?", frage ich weiter.
"Nein", antwortet Blau. "Er hat sich den Arm aufgeschnitten."
"Wie denn das?"
"Mit einer Rasierklinge. Wir haben sie ihm weg genommen."
"Scheiße!", denke ich. „Und warum bringt ihr ihn her?“, sage ich und beiße mir dafür auf die Zunge. Wer will schon in diesem scheiß Markt draufgehen, oder einen in seiner Schicht haben, der hier drauf gehen will? Aber sie sind ihm nur gefolgt. Was will er hier? Eine neue Klinge?
Ich hab Kundschaft an der Kasse und gebe Blau das einzig greifbare in diesem Moment, um den blutigen Arm zu säubern: ein paar Papierhandtücher, die wir für kleine Missgeschicke, wie auslaufende Schlagsahne, in der Kassenbox haben. „Frau Müller an Kasse eins, bitte“, rufe ich über die Sprechanlage die Schichtleiterin. Sie wird wissen, wo wir Verbandszeug haben.
Der Blutende türmt. Rot stellt sein Bier ab und folgt ihm. Blau macht es seinem Kumpel gleich, stoppt aber am Eingang und kommt zurück. Frau Müller steht plötzlich neben mir und fragt, was los ist. Zwei Kunden, Blau und ich erklären ihr was passiert ist. „Und was soll ich da jetzt machen?“, fragt sie.
„Rufen Sie den Notarzt“, schlägt einer der Kunden vor.
„Und wenn er nicht zurück kommt, muss ich den Einsatz zahlen?“
Ich finde das Argument plausibel, aber fast zeitgleich schießen mir die beiden Worte „unterlassene“ und „Hilfeleistung“ durch den Kopf. Ich stimme dem Kunden zu. Sie geht zum Telefon, die Kunden nach Hause und Blau folgt nun doch seinem Freund und dem Blutenden.

„Haben Sie mal einen Stuhl?“, fragt plötzlich Rot, der mit seinem Freund, den Blutenden stützend, durch die automatische Glasschiebetür kommt. Ich stürze aus meiner Box und will den Drehstuhl aus der Nachbarkasse holen. Ich erinnere mich aber an die Schwierigkeiten, die ich kürzlich damit hatte, als ich den Boden in einer der Boxen wischen sollte.
„Könnt ihr ihn da hin setzen?“, frage ich und zeige auf den Einpacktisch, der gleich neben dem Trio am Ausgang steht. Sie nicken. Blau verschwindet hinter mir im Markt. Sein Freund steht vor dem Blutenden und hält ihn, zum einen damit er nicht umfällt und zum anderen damit er nicht wieder türmt. Der Blutende sieht ihm in die Augen. Er sagt kein Wort, aber sein Blick schreit seinem Gegenüber puren Hass entgegen. Blau taucht plötzlich mit einer Rolle Verbandszeug und Pflaster wieder auf. Während ich mich frage, wo er das Zeug her hat, geht die Schiebetür auf und drei stämmige Männer in roten Sanitäteruniformen kommen herein.
„Kommen Sie bitte mit nach draußen“, sagt einer der Sanitäter fast befehlsartig. Der Blutende rührt sich aber nicht.
Ein zweiter greift ihn am Arm. Und jetzt ist es ein Befehl. „Kommen Sie mit nach draußen ins Auto!“
Sie packen ihn und führen ihn aus dem Markt. Blau holt die beiden Oettingerflaschen, dankt mir und folgt seinem roten Freund, den Sanitätern und dem Blutenden. Die drei Kunden an meiner Kasse stehen die ganze Zeit mit dem Rücken zum Geschehen und scheinen bewusst in die andere Richtung zu starren. Eine fast peinliche Stille breitet sich aus, nachdem die Szene hinter ihnen vorbei ist. Nur das Piepen des Warenscanners ist noch zu hören. Zwischen „Guten Abend“ und „fünf siebenundzwanzig, bitte“ versuche ich das gerade Geschehene zu verstehen. Die Schiebetür öffnet sich und Rot ruft: „Sie bringen ihn ins Krankenhaus wegen Suizidgefahr.“
„Danke.“
Er hebt seine Oettingerflasche zum Gruß, lächelt und verschwindet.

 

Das Leben schreibt die schönsten und wohl auch grausigsten Geschichten. Diese ist gestern passiert.

 

Hey Miky

Das Leben schreibt die schönsten und wohl auch grausigsten Geschichten. Diese ist gestern passiert.
Joa, mein Gott, vielleicht findet man das nur grausig, wenn man selbst dabei ist, aber ansonsten denke ich, ja, und, soetwas und viel Schlimmeres passiert tagtäglich und man kann nicht viel machen. Man kann sich aufregen - aber dann müsste ich mich die ganze Zeit aufregen.

Also zurück zu der Geschichte, denn sie ist immer noch eine Geschichte, auch wenn du sie in einem eher berichtenden Ton erzählst, und das ist es, was mich stört. Wenn du sie erst gestern erlebt hast, und das Bedürfnis hattest, du müsstest das unbedingt verarbeiten, dann finde ich das okay, aber als eine Geschichte, die mir wirklich gefällt, ist sie weit entfernt. Ich bin da eher konventionell und mag die klassischen Figuren, die ein Leben (in diesem Fall auch außerhalb des Supermarkts und der Kasse) haben, ich freue mich auch auf eine schöne Sprache und auf die Bilder, joa, wenn diese beiden gegeben sind und die noch verstrickt mit einem geeigneten Thema, dann hast du mich als Leserin. : )

Aber das hier ist ja nur die Rohfassung, der Boden der Geschichte, da fehlt noch sehr viel. Natürlich trieft das Thema (unterlassene Hilfeleistung) vor Gesellschaftskritik, und wenn man das in eine Geschichte behandelt, muss das auch schön proportiniert sein - viel Geschichte - in ein paar Zeilen Kritik, das leise ertönt - und dann wieder Geschichte. Ehm, ja, ich hoffe, du verstehst, was ich meine. :D

JoBlack

 

Ich verstehe und ich verspreche dir, ich schreibe noch mal eine Geschichte, die dir gefällt. Und wenn es das letzte ist was ich tue. ;)

 

Hallo MiK,

du bildest eine Alltagsszene ab, die dich beschäftigt hat und die mich sicherlich auch beschäftigt hätte. Das ist völlig in Ordnung. Den Schnellschuss merkt man an ein paar Wortwiederholungen, den Skizzenstil finde ich aber der Geschichte grundsätzlich auch inhaltlich angemessen. Was mir fehlt ist, was dich an dieser Geschichte beschäftigt hat, welche Fragen sie in dir aufwirft, die du an den Leser weitergeben möchtest. Damit meine ich nicht, sie wörtlich zu stellen, sondern durchaus die Fragen, die eventuell auch zwischen den Zeilen stehen könnten.
Es gibt Subthemen im Geschehen, die du nicht streifst.
Arbeitsbedingungen in Supermärkten (was geschähe, wenn dein Prot die Kasse allein lassen würde, um Hilfe zu leisten?), Soziales Geschehen vor vielen Supermärkten (Der Hartz 4 Empfänger mit dem Akkordeon, Punks evt., Alkoholiker, angeleinte Hunde). Das alles sind Dinge, die auch uns in unserem Umgang miteinander prägen und vor allem das Verhalten eines Icherzählers und seiner Kollegen. Für die scheinen der Rote und der Blaue normal zu sein, regt sich nie jemand über die auf, weil sie das Geschäft verderben könnten?
Der weiterlaufende Betrieb an den anderen Kassen fehlt mir, was du als "ignorieren" bezeichnest fehlt mir, zumal die Szene so im Vordergrund steht, dass sie mir unmöglich zu ignorieren zu sein scheint. Insofern glaube ich dir durchaus, dass sie so geschehen ist, nur glaube ich, es fehlen Details, die dir entgangen sind. Der Kontext, in dem sie wirklich Wirkung entfaltet, scheint mir zu dünn, nicht, weil die Szene keine Kraft hat, sondern weil mir das fehlt, was sie über sich selbst hinaus erzählenswert macht. Damit meine ich keine schöne Verpackung, sondern eine spürbare Erzählabsicht.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo MiK,

"Scheiße!", denkt wohl jeder, dem die Geschichte widerfährt, die Beschreibung einer Szene, die den alltäglichen Ablauf routinierter Vorgänge durchbricht und damit stört. Die meisten Betroffenen werden, selbst wenn sie die Szene wahrnehmen sollten, sie einfach ignorieren, da die drei Affen sowas wie die Grundhaltung des heutigen Menschen wird oder schon ist.

M. E. bedarfs bei dieser Art von Beschreibungsliteratur keiner Reflexion, obwohl zu Beginn („Sieht aus wie das Resultat einer Schlägerei“) Mutmaßungen angestellt werden.

Einige kleinere Anmerkungen:

"Was is denn los?", frage ich ob es nicht sinnvoller wäre, das „ist“ auszuschreiben oder, wenn es denn Slang wäre, es mit einem Apostroph fürs fehlende s zu versehen.

„Frau Müller steht plötzlich neben mir und fragtKOMMA was los ist.“

Gruß

Friedel

 

Hallo ihr vier,

tausend Dank erst mal euch allen fürs lesen und kritteln.
@ pabu: Ja, ich denke, ich hatte es so gemeint wie du es verstanden hast. Danke fürs gut finden.
@ sim: Danke, für die lange und ausführliche Kritik. Ich denke, ich verstehe was deiner Meinung nach noch fehlt und ich stimme dir zu. Ich hab noch ein bisschen am Text herum geschraubt, konnte aber nicht alle Punkte abdecken. Wenn ich noch mehr dazuschreibe, gehe ich über das skizzenhafte hinaus. Aber diese Anrisse waren beabsichtigt. Auf jeden Fall hast du mir sehr geholfen. Danke.
@ Friedel:

M. E. bedarfs bei dieser Art von Beschreibungsliteratur keiner Reflexion, obwohl zu Beginn („Sieht aus wie das Resultat einer Schlägerei“) Mutmaßungen angestellt werden.
Ja, wenn man zu tun hat, sieht man sich die Leute, die in den Markt kommen nur sehr kurz an. An ihm war aber etwas anders. Deshalb sieht man länger hin und beschäftigt sich in Gedanken automatisch mit dem Gesehenen.
Danke, auch dir. Die kleinen Anmerkung sind berücksichtigt und geändert. ;)
@ Are-Efen:
Durch Rot und Blau - Ader und Vene - wird daraus schon eine Allegorie.
Gefällt mir. :D
Nicht so leicht zu beantworten ist die Frage, ob es ein Blutiger oder ein Blutender ist. Ist ja auch nicht gleich, ob man ein Höriger oder ein Hörender, ein Williger oder ein Wollender ist.
Ja, gute Frage. Ich hab noch mal drüber nachgedacht. Zu Beginn ist er für den Prot der Bultige, weil er das Blut, aber keine Wunde sieht. Dann sieht der Prot die Quelle des Blutes und der Gegenüber wird zum Blutenden, oder nicht?

Ciao

MiK

 

Hallo Mik!
Deine Geschichte lese ich eher wie die Reportage eines Ereignisses, zu dem man erstmal Distanz gewinnt, indem man es abbildet. Das gefällt mir gut und ich fand in diesem Sinn auch die Verkürzungen ROT und BLAU passend. Ich sehe das als ein mögliches Stilmittel. Viele Menschen, die Schreckliches erlebt haben, berichten zunächst ohne Emotion über das Erlebte und doch spürt man die Palette der Gefühle gerade durch diese Distanz. So ging es mir beim Lesen deiner Geschichte. Ich mag es überhaupt, wenn meiner Fantasie Raum gelassen wird.
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,

Deine Geschichte lese ich eher wie die Reportage eines Ereignisses
Ja, ich denke, weiß was du meinst. Aber nur fürs Protokol: Es ist eine KG. Sie weißt eindeutige Merkmale einer ... ;)

Viele Menschen, die Schreckliches erlebt haben, berichten zunächst ohne Emotion über das Erlebte und doch spürt man die Palette der Gefühle gerade durch diese Distanz.
Das gefällt mir.

Ich mag es überhaupt, wenn meiner Fantasie Raum gelassen wird.
Ich auch. "The fantasy is endless in your head", hatte mal jemand in Leipzig-Connewitz an eine Wand gesprüht.

Danke, fürs lesen und mögen. :D

Ciao

Mirco

 

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