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Der Brief
Der Brief
Ruhig glitten ihre Augen über die leere Straße. Es war gerade nach halb 7 und es waren kaum Menschen auf der Straße unterwegs. Selina befand sich auf dem Rückweg vom Bäcker, bei dem sie immer Samstags ihre Brötchen für ihr einsames Frühstück holte. Nun eigentlich nahm sie ihr Frühstück nur allein ein,sie war nicht einsam dabei. Selina liebte es im Frühling auf ihrem winzigen Balkon zu sitzen und in völliger Stile zu frühstücken. Um eben diese Stille zu genießen, stand sie auch am Wochenende schon recht zeitig auf. Ihr Samstag Vormittag war bis zum Mittag verplant. Nach dem Frühstück ging sie für eine Stunde durch die kleine Stadt joggen, quer durch den Park, über die kleine Brücke und an der einzigen Schule der Stadt vorbei. Auf dem Rückweg hielt sie immer bei dem Kiosk und holte sich genau 2 Dinge: die Tageszeitung und ein örtliches Magazin. Mit diesen kehrte sie in ihre gemütliche Wohnung zurück und nahm sich dann zwei bis drei Stunden um diese Zeitungen relativ gründlich zu lesen. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass man immer darüber informiert sein sollte, was in der Welt passiert.
Und mit diesem Ablauf begann auch dieser Samstag. Sie hielt etwas später am Kiosk an und der Besitzer hatte schon die zwei Zeitungen vor sich liegen ,so dass Selina ihm nur noch das Geld hinlegen musste. Doch das sonst so fröhliche „Guten Morgen“ klang heute sehr gezwungen, der Blick des Mannes war unruhig und kein Lächeln erschien auf seinem Mund. Selina wunderte sich darüber, nahm die Zeitungen an und drehte sich gerade um ,als er anfinge zu sprechen:
„Wird kein guter Tag heute...“
Selina wollte gerade etwas erwidern, da wandte der Mann ihr den Rücken zu und kramte, scheinbar sehr beschäftigt, in seinen Magazinen. Verwirrt schob Selina sich die gefaltete Zeitung und das Magazin unter die Jacke und setzte ihren Heimweg fort. Erst als sie vor ihrer Haustür ankam, fiel ihr auf, dass ihr Nachbar ihr diesmal nicht begegnet war, der sonst immer um diese Zeit mit seinem Hund unterwegs war. Er war in dieser Sache ebenso regelmäßig, wie sie selbst. Völlig in Gedanken öffnete sie die Tür und ging an den Briefkästen vorbei die Treppe hinauf. Dabei entging ihr ein schwarzer Umschlag, der teilweise aus dem Schlitz ihres Briefkastens heraus schaute. In ihrer Wohnung hängte sie den Schlüssel an das kleeblattförmige Brett und lief in die Küche. Sorgfältig legte sie die Zeitungen auf den Tisch. Dann nahm sie die Tageszeitung und wollte gerade anfangen zu lesen, als ihr im örtlichen Magazin etwas auffiel. Es waren einige Seiten aufgeschlagen und ihr prange ein blutrote Überschrift entgegen. Ohne das sie es merkte, fiel die Tageszeitung aus ihren Händen und landete auf den Boden. Sie starrte auf den Artikel mit der blutroten Schrift und fühlte, wie ihr Blut zu Eis erstarren zu schien. Die Kälte erfasste ihren gesamten Körper und lähmte sie für einige Minuten, in denen sie immer weiter auf die Buchstaben in dem örtlichen Magazin starrte, unfähig den Blick abzulenken. Mit einer unheimlichen Kraftanstrengung hob sie eine Hand und schleuderte das Magazin zu Boden. Ihr Atem ging mit doppelter Geschwindigkeit und ihr Blut jagte jetzt durch die Bahnen. Plötzlich verstand sie die Blicke des Kioskbesitzers und die Abwesenheit ihres Nachbarn. Wie hatte sie vergessen können, dass es heute wieder soweit war? Sie war so in ihrem Trott versunken gewesen, dass sie daran nicht gedacht hatte. Aber warum hatte sie Angst? Sie hatte doch noch nie gegen eine der Sonderregeln verstoßen, oder? Andererseits war da diese Sache letzten Monat gewesen...
„Quatsch, hör auf daran zudenken!“, schalt sie sich selbst laut. Entschlossen stand sie auf und verließ ihre Wohnung. Im Treppenhaus begegnete ihr eine Nachbarin, das Gesicht bleich wie ein Bettlaken, die Hände zitternd. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinunter zu den Briefkästen. Auf der letzten Stufe blieb Selina stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Das konnte nicht sein, es würde einfach nicht sein.
Ihre Lider öffneten sich und sie atmete auf. In ihrem Briefkasten war nichts! Beruhigt trat sie die letzte Stufe hinunter, als ihr der Fehler in ihren Gedanken auffiel. Sie hatte auf der falschen Seite nachgesehen. Millimeter für Millimeter ruckte ihr Kopf nach rechts, wo ihr Briefkasten war. Tränen stiegen ihr in die Augen und rollten über ihre Wange. Ihre Schultern bebten. Die Nachbarin legte einen Arm um ihre Schultern, ihr Seufzer war tief.
„So etwas... es trifft immer die Jungen in letzter Zeit. Furchtbar ist das...“
Ihr Blick fiel in die gleiche Richtung wie Selinas, auf das gleiche schreckliche Objekt: den schwarzen Briefumschlag. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre in ihre Wohnung geflüchtet, doch das würde nichts bringen. So also trat sie Schritt für Schritt auf den schwarzen Umschlag zu und nahm ihn aus dem Schlitz. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihn. Ein schwarzes Blatt, darauf mit hellroten Buchstaben eine Zahl: 1313. Die Schließfachnummer. Etwas weiter unten eine Uhrzeit- kein Datum, also sollte es noch heute sein. Wie betäubt kehrte Selina in ihre Wohnung zurück. Aus dem Schrank holte sie eine schwarze Hose und einen roten Pullover. Auf der roten Farbe des Pullis würde das Blut nicht so hervorstechen. Auf dem Blatt hatte 0 Uhr gestanden. Die gewöhnliche Uhrzeit. Mit einer ruhigen Bewegung, wie es schien, legte sie die Sachen auf das große Bett. Dann griff sie zum Telefon. Es mussten noch einige Dinge geregelt werden.
Einige Zeit später klopfte es an der Tür. Die Vermieterin, ihre Stimme klang mitleidig, doch deutlich war die Erleichterung in ihren Augen erkennbar, dass es nicht sie getroffen hat. Selina kann es ihr nicht verübeln, die Frau hat einen Mann und zwei anbetungswürdige Kinder.
„Entschuldigen Sie, aber ich dachte wir regeln das mit der Wohnung gleich...“ Sie trat ein.
Eine Stunde später verließ sie die Wohnung wieder.
„Es tut mir so leid... es hätte Sie nicht treffen dürfen. Es gibt genug die es verdienen würden, aber nicht Sie...“
Damit verschwand sie wieder. Selina stand zwischen Tür und Angel und starrte vor sich hin. Jetzt war alles geklärt und sie hatte noch 12 Stunden. Im Kühlschrank stand ihr Mittagessen, doch sie hatte keinen Hunger. Mit langsamen Schritten durchquerte sie ihre Wohnung, die sie nun seit beinahe 10 Jahren bewohnte. Müdigkeit kam in ihr auf und sie ging ins Schlafzimmer, legte ihren Kopf auf das Kissen und schloss die Augen. Tatsächlich konnte sie einschlafen, obwohl sie von furchtbaren Alpträumen geplagt wurde. Vorahnungen? Sie wusste es nicht, als sie aufwachte. Ihr Kopf schmerze höllisch aber sie nahm keine Tablette. Wozu auch? In ein paar Stunden würde sie wahrscheinlich nie wieder Schmerzen haben. Auf dem Tisch im Flur lag noch immer der Umschlag und das Blatt, bedrohlich. Die Zeit schien auf einmal dahin zu rasen. Selina versuchte sich abzulenken, doch mit jedem Blick auf die Uhr rückte Mitternacht näher.
Gegen 23 Uhr zog sie sich an und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Eigentlich war es kein Bahnhof mehr ,da schon seit einer Ewigkeit keine Züge mehr in ihm ankamen oder abfuhren. Er stand leer. Sie erreichte ihn einige Minuten vor Mitternacht, draußen war es kalt, der Mond war durch dunkle Wolken bedeckt, die tief über dem Boden zu hängen schienen. Selina stand vor dem Schließfach mit der Nummer 1313. Sie öffnete es und nahm den metallisch glänzenden Gegenstand heraus. Schwer wog die Pistole in ihrer hand. Selina überprüfte das Magazin. Fünf Schuss, dann war es vorbei. Ihr Atem ging schwer, als sie sich abwandte und durch das leere Gebäude lief. Ab und zu glaubte sie Schritte hallen zu hören und leises Gelächter, das verklang. Doch das konnte genauso gut nur die Einbildung ihrer nervösen Phantasie sein. Sie trat nach draußen zu den Gleisen, matt schimmerten sie in der Dunkelheit. Ein paar Meter weiter brannte eine einzelne Straßenlaterne, ihr Licht flackerte leicht. Es schien so zerbrechlich, wie Selinas Leben in den nächsten Minuten. Wieder erklangen Schritte, doch diesmal waren sie real. Ein Kichern erklang, dann eine verzerrte Stimme:
„Du hast eine Regel gebrochen, du musst bestraft werden! Bist du bereit?“
Selina antwortete nicht, sie begann zu rennen. Flüchtig nahm sie massige Dinge auf den Gleisen wahr. Immer weiter rannte sie, der Bahnsteig schien unendlich zu sein. Ein paar Mal stolperte sie, aber dann glaubte sie das Kichern zu hören und rannte weiter. Ihr Herz war voll Todesangst und sie konnte kaum atmen. Unscharf nahm sie vor sich eine weitere funktionierende Laterne wahr und hielt darauf zu. Mit zuckenden Muskeln umklammerte sie den Mast, ihre Beine drohten nach zu geben. Das Kichern wurde lauter. Dann erschien im Licht der Straßenlampe eine in einen schwarzen Mantel gehüllte Gestalt mit einem breiten Hut, tief ins Gesicht gezogen. Erschien weder ein Gesicht, noch Hände oder Füße zuhaben.
„Hier ist besuch für dich, Selina!“ zischelte die Stimme in einem schrillen Ton. Selina hörte weitere Schritte und jemand stolperte auf sie zu. Fassungslos sah sie der Person ins Gesicht.
„Wer... bist du?“
Die Person kam auf sie zu und umklammerte sie dann.
„Schwesterchen, erkennst du mich nicht? Ich bin es Timmy, bitte hilf mir! Die Männer in den Mänteln...“
Selina fühlte eine Welle der Erleichterung über sich schwappen. Es war ihr Bruder und er lebte und das hieß man konnte diese nachgebaute Hölle hier überstehen. Mit einem Arm hielt sie ihren Bruder fest. Ihre andere Hand umklammerte die Pistole und bewegte sie in Richtung des schwarzen Mannes. Sie versuchte auf den Bereich unter dem Hut zu zielen. Vorsichtig lud sie die Pistole, ihr Zeigefinger krümmte sich um den Abzug.
„Ich mach dich fertig, du Monster! Ich mach euch alle fertig. Von euch wird uns keiner kriegen!“
Die Gestalt brach plötzlich in höhnisches Gelächter aus, laut und kreischend.
„Wer sagt dir, dass wir dich killen werden?“
Verwirrt sah sie ihn an, als ein unmenschlicher Schmerz durch ihren Körper zuckte. Sie sah auf ihren Bruder hinab, den sie noch immer an sich geklammert hielt. Seine Hand war in ihrer rechten Brusthälfte verschwunden. Sie fühlte wie seine Hand ihr Herz umschloss und es dann herausriss. Der Schmerz überwältigte sie, doch noch immer konnte sie sehen und denken. Vor ihren Augen zerfiel das Gesicht ihres Bruders- ihres Bruders?. Übrig blieb eine fleischige Masse, aus denen die Augen an den Sehnen heraus hingen. Mit letzter Kraft hob sie die Pistole -- und drückte ab. Ihr Körper sackte zusammen, als die Kugel ihr Gehirn durchbohrte und ihr den erlösenden Tod aus den Qualen brachte.
Die Gestalt in schwarz sah kopfschüttelnd auf sie herab.
„Die fallen auch immer auf das gleiche herein. Warum hat die plötzlich gedacht sie hat einen Bruder? Sie hatte doch nie einen..“ Die Straßenlampe über dem Leichnam ging mit einem leisen „Pling“ aus und die Gestalt wurde von der Dunkelheit verschluckt
In der Wohnung lag noch immer das Magazin auf dem Fussboden, und der Artikel, vielmehr eine Ankündigung, lag düster aufgeschlagen da:
Der Himmel kann warten...
die Hölle nicht
ER erwartet ein Opfer
IHM ist jeder Recht...
Doch der Brief wählt nur E I N E N
Bist du bereit?
Bereit zu s t e r b e n ?
Ende