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Der Brief
"Schatz, hier ist jede Menge Post für dich. Ich gehe schnell einkaufen, okay?“ Tanja legte mir einen Stapel Briefe auf den Küchentisch und gab mir einen flüchtigen Kuss. Ohne sich noch mal umzusehen, griff sie nach ihrem Schlüssel und verließ das Haus.
Ich seufzte kurz, missgelaunt wegen der Tatsache, dass sie unseren gemeinsamen Urlaub zu Hause kaum genießen konnte, machte mich aber direkt daran, die Post durchzusehen.
Noch ehe ich den Brief in der Hand hielt roch ich schon das weiche Parfum. Vielleicht war es ein Lilienduft, auf jeden Fall war der Geruch unendlich zart. Es schien, als streichelte er meine Nase. Behutsam öffnete ich das Kuvert, mein Herz überschlug sich dabei förmlich.
Wie immer war eine gefaltete Din A 4 Seite darin, einmal gefaltet, mit einigen Bildern dazwischen. Ohne die Seite aufzufalten, erkannte ich die gleichmäßige, rhythmische Handschrift. Sie zeichnete sich noch immer dünne Linien auf das Briefpapier vor, um das Geschriebene ebenmäßig, geradezu perfekt aussehen zu lassen.
Ich musste mich setzen, den Brief hinlegen, um ihn überhaupt lesen zu können. Zu sehr zitterten meine Hände.
Lieber Oliver, las ich, wie geht es dir? Immer die gleiche Einleitung, immer der gleiche Fortgang. Sie hoffe, dass bei Tanja und mir alles in Ordnung sei, dass wir gesund seien und dass sie bald von uns hören würde. Ich überflog diesen ersten Teil des Briefes flüchtig, wartete begierig auf die gesuchten Informationen. Da ging es endlich los.
Heute war der Tag seiner Einschulung. Jamie und ich und die Familien haben ihn begleitet. Ich habe dir einige Bilder dazugelegt. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Vor mir sah ich meinen Sohn, eine riesige Schultüte in beiden Händen, umgeben von seinen Großeltern und den Eltern von Jamie.
Jamie, der Amerikaner. Der Catherine und den kleinen Marc mitgenommen hat. Auch er strahlte, als wäre Marc sein Kind, nicht meines. Catherine wäre nie zurückgekehrt in die Staaten, hätte sie ihn nicht kennen gelernt. Ausgerechnet ein Amerikaner, einen ihrer Landsleute. Welche Gründe braucht man noch, um heimzukehren. Die Familie, der Sohn und der Mann, den man liebt sind dort. In Deutschland gab es nur eine zerbrochene Liebe und den Vater ihres Kindes. Ich wäre an ihrer Stelle auch gegangen- .
Ich schüttelte mich innerlich und bekämpfte das Gefühl der aufkommenden Eifersucht. Meine Frau hatte mich schon vor dreieinhalb Jahren verlassen, um mit Jamie in ihre Heimat zurückzukehren. Ich schwor mir zum tausendsten Mal, diesen Teil meines Lebens nicht wieder so dicht an mich heran zu lassen.
Catherine ging nun dazu über, die Schule zu beschreiben, von der neuen Klassenlehrerin zu erzählen und berichtete nicht ohne Stolz, dass Marc bereits einen Freund gefunden hatte, mit dem er sich den Schulweg teilte. Sie schilderte Jamies Geburtstagsparty, den Krankenhausaufenthalt ihrer Mutter, und schließlich....
Ich musste den Satz noch einmal lesen. Tränen rannen mir übers Gesicht. Sie hatte es geschrieben, schwarz auf weiß stand es vor mir. In klitzekleinen Buchstaben, als sei sie sich selbst ihrer Sache nicht sicher. Fast zwei lange Jahre hatte ich in jedem Brief von ihr nach diesem Satz gesucht. Nie hatte es sich auf meine Bitten reagiert, nie hatte sie mich in meiner Sehnsucht ernst genommen. Mir war, als gingen von einem Moment zum nächsten all meine Wünsche in Erfüllung.
Ich glaube der kleine Marc vermisst dich sehr. Er würde Euch gerne in den nächsten Ferien für drei Wochen besuchen kommen. Vielleicht möchtest Du ihn auch über Weihnachten bei Dir haben? Sag mir einfach Bescheid, ob Dir das irgendwann recht wäre.
Ich schluchzte heftig auf. Seit nunmehr zwei Jahren, seit meinem letzten USA – Aufenthalt, hatte ich Marc nicht mehr gesehen. Catherine kam nie nach Deutschland und ich hatte selten lange genug Urlaub, um eine so teure und weite Reise zu unternehmen.
Tränenüberströmt vor Glück blieb ich in der Küche sitzen, bis Tanja vom Einkaufen zurückkam. „Was ist mit dir, Schatz?“ Sie stellte ihre Taschen an der Haustür ab und kam zu mir gelaufen.
Ich konnte kaum sprechen, alles was ich sagte, war: „Marc kommt.“