Der Brief
Heute ist ein Brief eingetroffen. Der Umschlag mit dem aufgedruckten schwarzen Band ist ihr unter der vielen Post sofort aufgefallen. Obwohl es morgen früh war und sie sich beeilen musste, um den Zug noch zu erwischen. Im Zug liest sie den Absender des Briefes. „Onkel Harald.“, denkt sie. Ungeöffnet steckt sie ihn in ihre braune Tasche. „Später werde ich ihn lesen, nicht hier im Zug,“ denkt sie. „Was der wohl von mir will? Nach all den Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben, nicht mal seine Kinder habe ich jemals kennen gelernt. Die sind sicher inzwischen mit der Ausbildung fertig.“
Sie blickt aus dem Fenster. Die Häuser, blühende Bäume und Wiesen ziehen vorbei. Bilder tauchen im Inneren ihrer Augen auf. Von damals, als sie noch ein Kind war. Sie erinnert sich, wie sie zum ersten Mal in eine reformierte Kirche zur Messe ging.
Es war eine Konfirmation. Sie fragte ihre Mutter, wann man sich denn hier hinkniet zum beten. Ihre Eltern hatten sie ermahnt still zu sein. Im selben Augenblick guckten die Verwandten heimlich zu ihnen rüber. Ja, sie erinnerte sich genau, wie die dies sie anschauten. Dieser Blick war, als hätte sie eine verbotene Frage gestellt. Es wurde wieder mal deutlich, dass sie und ihre Eltern als nicht normal betrachtet wurden.
Der Lautsprecher erklingt: „Nächster Halt Olten.“
Als könnte die Tasche mit dem Brief wegfliegen, drückt sie diese fest an sich und steigt aus. Langsam geht sie die Treppe hinunter, dreht sich wie immer nach rechts bis sie auf dem Quai am Ufer der Aare ist. Einen kurzen Augenblicke steht sie am Geländer, hält sich fest, schliesst die Augen, atmet tief durch und denkt an einen Sonnenuntergang am Meer. Sie entschliesst, heute den Weg entlang der Aare über die Holzbrücke zu gehen. Der Anblick des Flusses beruhigt sie. Auf der Arbeit angekommen, ist ihre Atmung wieder ruhig.
„Guten Morgen Elsa.“, wird sie heute sehr freudig vom Lehrling begrüsst. „Na wie lief es gestern in der Schule?“, fragt sie ihn. „Och,“ meinte dieser „Du weisst doch wie Schule ist. Der Lehrer war wieder mal..., ja du weisst schon. Aber ich habe die Wette gewonnen, ich bekomme von dir etwas spendiert.“ Sie entgegnet mit einem gespielt ernsten Gesicht: „Na das hätte ich ja nicht gedacht, über einer fünf in Mathe?“ „Ja, ja nicht nur das. Ich habe ne sechs geschrieben. Das kommt dich teuer zu stehen.“, antwortet der Lehrling sichtlich stolz. Sie zieht die Schultern ein und tut so, als ob das sehr schlimm für sie wäre. Mit Schalk in Augen antwortet sie: „Oje, Oje, dann werde ich noch bettelarm, wenn ich mich so täusche.“ „Tja Frau Elsa Lohmeier, man sollte nicht so voreilig sein.“, tadelt der Lehrling sie mit einem breiten Grinsen.
Während sie dem Lehrling seine Arbeit gibt, schweifen ihre Gedanken wieder in ihre Vergangenheit. Sie versucht sich zu erinnern, wie die Anderen ausgesehen hatten. Sie kann sich nur an Onkel Haralds dicken Bauch, seinen roten Kopf und seine grosse Goldrandbrille erinnern. In ihren Erinnerungen sieht sie das Restaurant, wo sich alle zum essen versammelt hatten. Zum Essen wurden Roter Kohl, Spätzle und Fleisch an brauner Sosse serviert. Roter Kohl mochte sie überhaupt nicht.
Trotzdem ass sie damals den Kohl, denn sie wollte nicht wieder so angestarrt werden, wie in der reformierten Kirche. Den Kohl nahm sie mit dem Fleisch und viel Sosse auf die Gabel, schob dies in den Mund und schluckte alles auf einmal runter. Kaum hatte sie den Teller leer, schaute sie nach rechts und beobachtete Onkel Harald. Der Liebling von Oma Margrit. Sie schaute zu, wie er sich bemühte, unauffällig den roten Kohl von seinem Teller, in den Teller seiner Frau zu schieben. Davon fiel etwas auf das weisse edle Tischtuch. Sie sass zu weit weg, um zu sehen wie gross der Fleck auf dem Tuch war. Plötzlich guckten alle den Onkel an. Irgendwie herrschte eine peinliche Stimmung am Tisch. Grossmutter Margrit unterbrach die Stille: „Na Elsa, du hast doch auch nicht gern roten Kohl.“ Darauf antwortete die sechsjährige Elsa: „Ich habe den Kohl trotzdem gegessen, weil in der Kindersendung...Ja weil weisst du... Ja, da war so, eine Geschichte von einem Restaurant. Da haben sie gesagt, es sei nicht anständig sein Essen im Teller zu lassen oder weiter zu geben.“ Für einen Bruchteil einer Sekunde war es atemberaubend still. Wäre eine Stecknadel auf den Boden gefallen, hätte es sicher geklungen, als wäre eine Bombe geplatzt. Seit dieser Konfirmation hat sie, ausser ihrer Grosseltern, ihre Verwandten nicht wieder gesehen. „Wie wohl meine Vettern sind?“ fragt sie sich.
Abrupt wird sie aus ihren Gedanken gerissen. Der Lehrling hat ein Problem mit einem Kunden. Sie lächelt den Lehrling an und sagt: „Lass dich nicht so schnell ins Bockshorn jagen, der ist immer so.“ Der Rest des Tages verläuft ohne besondere Zwischenfälle. Wie jeden Freitag geht das ganze Team am Feierabend ein Bier trinken. Alle sind sehr ausgelassen. An diesem Abend trinken sie auf den Vollmond. Heute hält sie ihre braune Tasche besonders nahe bei sich. Bald verabschiedet sie sich lachend von den Leuten und geht zum Bahnhof.
In der Bahn blickt sie aus dem Fenster. Es ist schon dunkel, sie betrachtet ihr Spiegelbild. Inzwischen hat sie eine Ahnung, was in dem Brief stehen könnte.
Der Lautsprecher erklingt: „Nächster Halt Solothurn.“
Nach Hause führt ihr Weg über die Brücke in die Altstadt. Seufzend schliesst sie die Wohnungstüre auf, streift sich die Schuhe ab. Dann nimmt sie sich ein Glas Cognac, geht in ihr Wohnzimmer und setzt sich mit dem Brief in den Sessel. Den weissen Umschlag mit dem schwarz gedruckten Band darauf, betrachtet sie lange, bevor sie ihn schliesslich öffnet. Sie liest:
Die von allen geliebte Margrit Lohmeier ist am 1. August um 22.00 Uhr, im Altersheim Frienisberg, von uns gegangen. Die Trauerfeier findet am 7. August um 14.00 Uhr in der reformierten Kirche Lyss statt.
„Es ist soweit, der Tag der Begegnung.“, denkt sie. Da klingelt das Telefon.