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Der Briefkastenmörder
Ich gehe zum Briefkasten, um meine Post zu holen, wie jeden Morgen.
Rechnung, Rechung, Mahnbescheid, Rechnung, anonymer Brief, Rechnung, die übliche Briefbombe, Rechnung, Räumungsklage – Moment! Fünf Rechnungen? Da kann was nicht stimmen! Misstrauisch betrachte ich den fünften Rechnungsumschlag. Hm, sieht echt aus. Ich fange an, an meinen Fingern abzuzählen: Wasser, Strom, Telefon, hm, was gibt’s noch? Hey, ich habe ja jahrelang vier Rechnungen nicht bezahlt und jetzt muss ich feststellen, dass es bei der vierten umsonst war. Verdammt! Von dem gesparten Geld, das ich nicht bezahlt hätte, hätte ich mir ein neues Auto kaufen können! Aber wofür ist denn nun schon wieder die fünfte? Auf dem Umschlag steht schlicht „Rechnung“. Entgegen meiner Angewohnheit öffne ich diesen sofort. Der Überschrift entnehme ich, dass es eine Rechnung über hundert Euro ist, dafür, dass meine Nachbarn mich ertragen müssen. Na, toll! Schon wieder hundert Euro gespart.
Moment Mal! Anonymer Brief? Da ich heute meine Angewohnheit schon gebrochen habe, kann ich diesen auch gleich öffnen. Es stehen nur drei Worte auf dem Papier, in roter Schrift:
Du wirst sterben.
Ich betrachte das Papier. Ich kann gar nicht begreifen, was da steht. Ich schleppe mich zurück ins Haus und setze mich an meinen Küchentisch. Dann dringen die Worte erst richtig zu mir vor.
Ich komme aus dem Lachen nicht mehr heraus. Herrlich, diese Kinderstreiche. Bestimmt wollen sie sogar noch, dass ich den roten Filzstift für Blut halte. Ha, ha. Gedankenverloren streiche ich über die farbigen Worte. Ach, da haben sie sich ja wirklich Mühe gegeben, es verwischt sogar, als ob es Blut wäre. Ich betrachte meine Finger. Es riecht sogar wie Blut. Und schmeckt auch so. Sogar. Sogar. Ich liebe dieses Wort sogar. Es ist sogar so gar wie ein Braten. Das stimmt einen nachdenklich, nicht wahr? Doch ist es.
Da erst merke ich, dass ich mich am Papier geschnitten habe, und dass das Blut meines ist. Dann ist ja alles in Ordnung. Einen Moment dachte ich wirklich – aber egal jetzt. Es hätte ja immer noch ein Tier sein können. Na ja, den hat wahrscheinlich keiner gecheckt.
Dann kann ich mich ja endlich meinem morgendlichen Ablauf widmen:
Die übliche Briefbombe wird entsorgt – ich frage mich jedes Mal aufs Neue, wie ich eine Briefbombe erkennen kann, ich habe keinerlei Schulung in dieser Richtung – die Rechnungen verbrannt, die Räumungsklage durch den Fleischwolf gedreht, der Mahnbescheid aufgegessen. Sie wollen abnehmen? Fangen Sie an, Mahnbescheide zu kassieren.
Es klingelt an der Tür. Das wirft mich völlig aus der Routine. Es darf jetzt nicht klingeln. Nicht jetzt. Es ist erst neun Uhr, Klingeln ist erst ab halb zehn eingeplant. Verdammt, diese Lauser können sich aber auch an gar nichts halten.
Ich schlurfe zur Tür und öffne. Niemand da, war klar, aber das sollen sie büsen. Ja, machen Sie sich ruhig über meinen Sprachfehler lustig.
Da fällt mein Blick auf den Briefkasten. Ein neuer Brief steckt drin. Ts, ts, Briefeinwurf nur bis fünf vor neun. Meine Fresse, die lernen es nie.
Ich begebe mich also auf den langen Weg zum Briefkasten und dann in die Küche. Dort öffne ich den Brief. Wieso habe ich bisher nicht auf den Absender geschaut?
Das war übrigens mein Ernst. Der Briefkastenmörder
So, so, sein Ernst war das. Na schön. Schön für i – ihn! Ha, ha.
Doch da fällt mir was ein. Ich renne in den Keller und suche nach alten Zeitungen. Endlich habe ich die gesuchte, aus dem Jahre 1976, gefunden. Ha, wusste ich es doch! Mein Vetter hatte gar keine sechs Richtigen!
Aber als ich mich noch so über diesen Triumph freue – immerhin habe ich gewettet, dass er keine sechs Richtigen kriegt. Das bringt mir satte fünfzig Cent – fällt mein Blick auf einen Artikel auf der gleichen Seite:
„Briefkastenmörder meint es ernst. Du bist tot.
Der als Briefkastenmörder in die Geschichte eingegangene Kriminelle (wir wollten nicht „Mörder“ schreiben, man hätte uns sonst vermutlich Wortwiederholung vorgeworfen) Paul Paulsen a.k.a. Hans Hansen a.k.a Giselher Giselhersen a.k.a. Briefkastenmörder Briefkastenmördersen konnte nun endlich gefasst werden. Er schickte seinen Opfern immer zwei Briefe. Den ersten mit dem Inhalt „Du bist tot.“ mit einer Feder, die er in sein eigenes Blut getaucht hatte, den anderen mit dem Inhalt „Das war übrigens mein Ernst. Der Briefkastenmörder“ in dem Blut seines Opfers. Niemand weiß, wie er das angestellt hat, gewiss ist nur, dass er es schaffte, dass sein Opfer sich am ersten Brief schnitt.“
Sehr lehrreich. Wenn ich aufmerksam gelesen hätte. Tatsächlich interessiert mich die ganze Geschichte gar nicht. Solange ich selbst nicht davon betroffen bin, ist mir eigentlich alles egal.
Ich machte mich also frohen Mutes auf den Weg aus dem Keller hinaus in die Küche zurück. Als ich an einem Fenster vorbeikam, stieß ich einen leisen Schrei aus und stürzte ins Freie zu meinem Briefkasten.
Er war total demoliert und auf der weißen Fläche war ein dickes rotes B aufgesprüht. Dieser Betrüger. Dieser Besserwisser.
Ich wusste, der Briefkastenmörder hatte wieder zugeschlagen.