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Der Chef hat einen schlechten Tag

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21.02.2009
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Der Chef hat einen schlechten Tag

Meier fühlte sich unwohl wie so oft in letzter Zeit, als er auf der Rolltreppe der U-Bahnstation nach oben fuhr. Obwohl es wirklich noch nicht sehr warm war, schwitzte er und fühlte die naßkalten Flecken, die sich schon wieder unter seinen Achseln gebildet hatten. Es war Montagmorgen. Wie in all den Jahren begann Meiers Arbeitswoche kurz vor neun.

Oben stieg Meier von der Rolltreppe und trat auf den Gehsteig. Eine Frau saß auf dem Boden, den Rücken an eine Hauswand gelehnt, mit ihrem Hab und Gut in drei großen Plastiktüten um sich herum. Sie hatte dreckige, zerrissene Hausschuhe an den Füßen; ihr nackter rechter Knöchel war geschwollen und von blauschwarzen Flecken gezeichnet; an ihrem Schienbein näßte ein Geschwür. Bei ihrem Anblick konnte Meier nicht anders: Er stellte sich vor, er selbst säße an ihrer Stelle heruntergekommen, zerlumpt, stinkend und krank da. „Ist das ihre Rolle in unserer Gesellschaft?“, fragte er sich, „uns vor Augen zu halten, was uns erwartet, wenn wir nicht bei der Stange bleiben, nicht immer wieder zurückgehen in die selbe Tretmühle, Tag für Tag, Woche für Woche, leben für das Wochenende und den nächsten Urlaub, nach dem dann doch alles so weitergeht wie vorher?“ Und für einen kurzen Augenblick erinnerte er sich wehmütig an die unerfüllten Träume seiner Jugend von einem aufregenden Leben, von Freiheit und Abenteuern.

Meier war heute besonders schlecht drauf. Der Rüffel, den er sich am Freitagnachmittag eingehandelt hatte, lag ihm immer noch im Magen. Sein Quartalsbericht war nicht rechtzeitig fertiggeworden, und so hatte er auf Schröders Drängen hastig eine Excel-Tabelle zusammengeklickt. Mit deren fehlerhaften Zahlen hatte Schröder sich danach in der Abteilungsleiterbesprechung unsterblich blamiert. Schröder hatte nach der Besprechung wutschnaubend vor Meiers Schreibtisch mit „Konsequenzen“ gedroht.

Die Szene hatte sich in Meiers Hirn festgefressen. Ihm war, als hätte er in einer Ecke seines Schädels ein Geschwür, das düstere Zukunftsvisionen wie Eiter absonderte.

Als er durch die Fußgängerpforte den Firmensitz der von-Großmann-Gruppe betrat, fuhr neben ihm gerade Direktor Lehmann in seinem roten Mercedes-Cabrio durch die Einfahrt.

Unwillkürlich sah Meier zu seinem obersten Boss hinüber. Lehmann hatte ein markantes Profil, dichtes, schwarzes Haar und einen athletischen Körper – Meier vermutete, daß er viel Zeit im Fitneßstudio verbrachte. Mit fünfundvierzig war Lehmann nur vier Jahre älter als Meier und hatte alles erreicht, wovon dieser nur träumen konnte: ein astronomisches Einkommen, Macht, Luxus; außerdem war er mit der Tochter des Hauptanteilseigners der von-Großmann-Gruppe verheiratet.

Die Uhr in der Eingangshalle zeigte 9 Uhr 1, als Meier vor dem Lift stand und die Klingel mit sanftem „ding-dong“ die Ankunft der Kabine ankündigte. Als Meier schon den Knopf für seine Etage gedrückt hatte und die Aufzugstüren begannen, sich zu schließen, kam Direktor Lehmann durch die Drehtür in die Halle, sah zum Lift und ihm geradewegs ins Gesicht. Meier war, als zöge sich ein Knoten um seinen Magen noch etwas enger zusammen, und von seiner Achselhöhle löste sich ein Schweißtropfen und fiel auf seine Hüfte. Er streckte beide Arme aus, um die Türen daran zu hindern, sich zu schließen. Die Türen fuhren wieder auf; Meier trat dazwischen und wartete auf Direktor Lehmann. „Guten Morgen, Herr Lehmann.“ krächzte er. „Morgen“ knurrte Direktor Lehmann abwesend, als er zu Meier in den Aufzug trat. Als sich die Türen schlossen überlegte Meier krampfhaft, ob er irgendein kurzes Gespräch beginnen sollte, vielleicht eine Bemerkung über das Wetter oder einen kleinen entschuldigenden Scherz über die eine Minute, die er zu spät dran war, aber seine Zunge war wie am Gaumen angeschweißt. Schließlich wurde er erlöst, als der Lift auf seiner Etage anhielt, und ging auf den Flur hinaus selbst ohne Direktor Lehmann einen schönen Tag zu wünschen. Er ging über den Flur und in sein Büro, das er teilte mit Müller, einem jungen Schnösel, der andauernd während der Arbeitszeit auf seinem Handy quatschte, und der sechzigjährigen Frau Kaltenbach, die eigentlich nur noch auf ihre Rente wartete und ständig über Horoskope, Erdstrahlen, Engel und anderen Humbug redete. Der Excel-Ausdruck lag noch mitten auf seinem Schreibtisch, so wie ihn Schröder am Freitag wütend hingeknallt hatte. Er wünschte seinen beiden Kollegen geistesabwesend einen guten Morgen, stellte seine Tasche neben dem Schreibtisch ab und ging wieder hinaus auf den Flur, zum Kaffeeautomaten.


Lehmann ärgerte sich über die Unterbrechung seiner Aufzugsfahrt in die oberste Etage. Als die Türen hinter Meier wieder zuglitten und noch ein leichter Schweißgeruch in der Luft hing, dachte er: „Was für ein jämmerlicher Duckmäuser!“ Wenn Lehmann sich richtig erinnerte, arbeitete er in Schröders Abteilung. „Ich könnte ihn rausschmeißen“, dachte der Geschäftsführer der von-Großmann-Gruppe und malte sich genüßlich aus, wie er den kleinen Sachbearbeiter vor sich antreten ließ, ihn souverän nach Strich und Faden heruntermachte, bevor er ihn schließlich zur Abholung seiner Papiere in die Personalabteilung schickte. Die Vorstellung tat ihm gut und lenkte ihn einen Moment lang von seinem eigenen Problem ab. Dann jedoch besann er sich und sein Magen krampfte sich zusammen wie, inzwischen vier oder fünf Stockwerke unter ihm, der von Meier.

Später stand Lehmann in seinem großen Büro vor der Fensterfront. Sein Blick ging über die Dächer ohne daß er von dem Panorama viel wahrnahm. Er sah hinüber zum Schreibtisch, auf dem unschuldig das Telefon stand, lauerte, wie es ihm schien, auf seinen Moment wartend. Einem Impuls folgend zog er sein Handy aus der Jackettasche und schaltete es aus. Er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Einmal war er nahe daran, zu resignieren, dann wieder riß er sich zusammen und begann, nach einem Ausweg zu suchen. Der Gedanke „Ich bin erledigt“ drängte sich ihm ständig auf wie das permanente Gezeter eines zänkischen alten Weibs. Dann fiel ihm der nach Schweiß riechende Duckmäuser aus dem Aufzug wieder ein, und er lenkte sich einen Moment lang mit der Vorstellung ab, ihm persönlich die Entlassung zu verkünden und danach den jammernden Kriecher aus seinem Büro zu werfen.

Lehmann wußte, daß er für den alten von Großmann versagt hatte - nicht etwa, was die Leitung der von-Großmann-Gruppe anbetraf, oh nein. Seine Erfolge als Geschäftsführer konnten sich sehenlassen. Der Umsatz stieg und stieg; die Gewinne waren so hoch wie noch nie zuvor. Dann war da die „Umstrukturierung“, wie das Programm offiziell von der Pressestelle bezeichnet wurde, das sogenannte Reformprogramm der Unternehmensgruppe Von Großmann. Der kaum verschleierte eigentliche Sinn des Programms bestand im Abbau möglichst vieler Arbeitsplätze und der Umverteilung der dadurch anfallenden Mehrarbeit an die im Unternehmen Verbliebenen. Lehmann hatte alles beharrlich und ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt, mochten die Betriebsräte noch so empört heulen, Gewerkschaften zetern und Linke kläffen wie wütende Pinscher am Straßenrand. Doch das alles hatte der alte von Großmann als selbstverständlich vorausgesetzt, als er seinen Sessel für Lehmann freigemacht hatte. Wirklich von ihm erwartet hatte er etwas ganz anderes.


„Da bleibt ja wohl keine Frage offen.“ Der alte von Großmann blickte von dem vor sich ausgebreiteten Material auf – digitale Fotoausdrucke, eine DVD und ein halbaufgeschlagener Bericht – und sah Moser über den Tisch hinweg an. „Und Lehmann...“- „Weiß seit gestern, daß wir ihn beobachten“, antwortete der Detektiv. „Meine Mitarbeiter haben sich ihm so deutlich gezeigt, daß er schon entweder blind oder aber völlig debil sein müßte, um nicht zu merken, was los ist – ganz, wie Sie es gewünscht haben.“ Die Vorstellung, daß Lehmann jetzt in diesem Moment wie auf Kohlen saß, verschaffte von Großmann einen Augenblick grimmiger Befriedigung. „Falls doch noch etwas unklar sein sollte...“, fuhr sein Gegenüber fort. „Ja, ja, ich weiß“, unterbrach ihn von Großmann ungehalten, „dann kann ich Sie jederzeit anrufen.“ Falls Moser irritiert war, zeigte er es nicht im geringsten. „Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann ...“ „Auf Wiedersehen, Herr Moser.“ “Auf Wiedersehen, Herr von Großmann.“ Moser stand auf, schüttelte kurz die formell dargebotene Hand von Großmanns und wandte sich zur Tür. Er fand wie gewöhnlich selbst den Weg hinaus.

Von Großmann erhob sich und ging aus seinem Arbeitszimmer hinüber ins Wohnzimmer, wo er sich an der gutbestückten Hausbar ein Glas Cognac einschenkte. Dann setzte er sich auf die Couch, nahm einen Schluck, stellte das Glas ab und faltete die Hände über seinem stattlichen Bauch.
Im Fernseher, der im Hause von Großmann nahezu ununterbrochen eingeschaltet war, liefen Nachrichten. Wieder einmal ging es um Arbeiterdemonstrationen gegen Entlassungen, Lohnkürzungen, Arbeitszeitverlängerungen. Von Großmann betrachtete voll Verachtung das erbärmliche Gesocks, das sich herausnahm, gegen die Hand aufzubegehren, die es fütterte. Für den Industriellen von Großmann, Abkömmling einer langen Reihe von Firmenpatriarchen, gab es zwei Arten von Menschen: die wenigen, die zum Herrschen geboren waren und die große Masse der Dienenden, wobei die Daseinsberechtigung letzterer darin bestand, sich den Buckel krumm zu schuften um der Elite das Leben zu ermöglichen, das ihr zustand. Man hätte von Großmanns Einstellung feudalistisch nennen können – für Aristokratie allerdings hatte er nicht viel übrig.

Schließlich war die Aristokratie durch jahrhundertlange Inzucht degeneriert und schließlich praktisch bedeutungslos geworden – einzelne Exemplare gaben heutzutage sogar skurrile Witzfiguren ab. Nein, ab und zu mußte einem geeigneten Individuum aus den unteren Schichten der Aufstieg gestattet werden, um das Blut aufzufrischen und den Fortbestand seiner Dynastie zu sichern. Und so hatte von Großmann Lehmann entdeckt, gefördert und mit seiner Tochter verheiratet. Doch die Ehe war kinderlos geblieben; der erhoffte Nachfolger für die Dynastie war aus der Verbindung nicht hervorgegangen.

„Elfriede“, rief von Großmann von der Couch aus in die Wohnung. Einen Augenblick später kam seine Tochter zaghaft zur Tür herein. „Wenn sie nur nicht so eine Versagerin wäre“, dachte von Großmann. Elfriede Lehmann-von Großmann, 40 Jahre alt, war keine Schönheit, aber auch nicht wirklich häßlich, eher eine graue Maus. Als Nachfolgerin für die Herrschaft über das von Großmann-Imperium wäre sie nie in Betracht gekommen, weich und zerbrechlich wie sie in den Augen ihres Vaters war.
„Du wirst dich scheiden lassen“, knurrte von Großmann.


Gegen Mittag saß Lehmann auf der Couch in der Sitzecke seines Büros und starrte hinüber zum Schreibtisch. Das Telefon hatte merkwürdigerweise den ganzen Morgen über keinen Ton von sich gegeben, als wollte es ihn mit seinem Schweigen zermürben. Als es jetzt zu zirpen begann, sprang Lehmann auf und rannte, stolperte mehr, zum Schreibtisch hinüber.
„Herr von Großmann für Sie“, kündigte seine Assistentin an.
„Du weißt, warum ich anrufe?“ – Von Großmanns Stimme klang gefährlich ruhig. Doch noch ehe Lehmann antworten konnte, änderte sein Schwiegervater die Tonart und brüllte los: „Ich werde dafür sorgen, daß du kein Bein mehr auf den Boden bringst, du Schwein! Du perverse, schwule Sau !“

Trotz keimte in Lehmann auf. Er wollte sich nicht so einfach geschlagen geben, die Beleidigung nicht hinnehmen, auch wenn ihm klar war, daß er keine Chance hatte.

„Die Firma ...“, begann er, wollte mit seinen Erfolgen argumentieren, nicht so einfach klein beigeben, wenigstens seine Selbstachtung retten. Doch da war er bei von Großmann an der falschen Adresse. Der Alte kam seinen Argumenten zuvor.

„Glaub nur nicht, daß du mir weismachen kannst, du wärst unersetzlich. Kleine Haifische wie dich spucken die BWL-Fakultäten jedes Jahr dutzendweise aus. Du weißt genau, warum ich dich in die Firma geholt und mit Elfriede verheiratet habe. Die ganzen Jahre über habe ich gedacht, du wärst impotent oder unfruchtbar, aber nein, der Herr belieben, mit dem eigenen Geschlecht vorliebzunehmen. Elfriede wird noch heute nachmittag den Scheidungsanwalt anrufen und glaub bloß nicht, daß du einen müden Euro herausschinden kannst. Du wirst dich in Elfriedes Haus nicht mehr blicken lassen; geh meinetwegen hin, wo der Pfeffer wächst, und deine Habseligkeiten wird sie dir hinterherschicken. Morgen will ich dich in der Firma nicht mehr sehen. Haben wir uns verstanden?“

Der Alte hatte aufgelegt. Er war vorbei. Eine Weile saß Lehmann nur da und starrte vor sich hin. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie sollte es mit seinem Leben weitergehen? Von Großmann hatte immensen Einfluß, und Lehmann war überzeugt, daß er alles tun würde, um ihm eine Karriere woanders unmöglich zu machen. Der Luxus, an den er sich so gewöhnt hatte, die Macht, und nicht zuletzt die so teuer erkaufte Zuneigung seiner diversen Gefährten, die ihm nun zum Verhängnis geworden war, auf all das würde er in Zukunft verzichten müssen. Und doch fühlte er sich seltsamerweise nahezu erleichtert. Es war vorbei.

Eine Sache war da allerdings noch. Er nahm den Hörer wieder auf.
„Rufen Sie mir Schröder rauf“, befahl er seiner Assistentin.


Die alte Frau saß immer noch an der Hauswand neben der U-Bahn.
Meier starrte sie an und sah seine eigene Zukunft vor sich. Bald würde auch er irgendwo so sitzen, dessen war er sich jetzt ganz sicher. Schröders hämische Visage, nachdem er ihn zu sich zitiert hatte und ihm befahl, sich sofort beim Geschäftsführer zu melden, würde er wohl nie vergessen. Er war nach oben gehastet, hatte eine Viertelstunde lang vor Direktor Lehmanns Büro warten müssen und war dann wie ein Lamm zur Schlachtbank gegangen. Lehmann hatte ihn nicht einfach nur gefeuert, er hatte außerdem seine Selbstachtung regelrecht massakriert.

Ja, er würde vors Arbeitsgericht gehen, ja sicher, eine Entschädigung verlangen, natürlich, gleich morgen würde er alles Notwendige unternehmen, oder vielleicht doch erst übermorgen, oder nächste Woche, erst mal in Ruhe überlegen – er fühlte sich leer, schwach. Viel Kampfgeist hatte er noch nie besessen.

Die Frau hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Er kramte einen Euro aus seiner Geldbörse und tat so, als wolle er ihn in ihren Plastikbecher fallen lassen. Als ein Hoffnungsschimmer in den Augen der Alten zu glimmen begann und sie dazu ansetzte, sich zu bedanken, grinste er hämisch, zog seine Hand zurück und steckte das Geldstück wieder ein. Als er Enttäuschung und Erniedrigung im Gesicht der Frau sah, fühlte er sich tatsächlich ein wenig besser. Er drehte sich um und ging weiter. Die Alte sah ihm noch nach, als ihn die Rolltreppe langsam aber unaufhaltsam abwärts beförderte.

 
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Liebe kg.de Community,

Ein herzliches Dankeschön an jene, die es sich angetan haben, meine zugegebenermaßen etwas länglich geratene Einstandsgeschichte bis zum Ende zu lesen.
Konstruktive Kritik ist mir selbstverständlich jederzeit willkommen.

Ich habe zwei nachträgliche Änderungen an meinem Text vorgenommen : einen Fehler ausgebessert und Frau Kaltenbach um zehn Jahre altern lassen ; sie wartet nun auf ihre Rente. Sollte sich eine Leserin oder ein Leser der Vorversion durch die politisch unkorrekte Schilderung ihres Familienstandes unangenehm berührt gefühlt haben, so bitte ich, dies zu entschuldigen.

Liebe Grüße
Euer Engelhard

 

Hallo Engelhard,

herzlich willkommen auf kg.de :)

Ich habe deine Geschichte gerne gelesen und auch das Ende gefällt mir ziemlich gut, denn es beschreibt die Gesellschaft ziemlich genau. Da wurde man selbst mit Füßen getreten und findet immer noch jemanden, dem es schlechter geht und an dem man sein eigenes Ego wieder aufbauen kann.

Eine Frage habe ich allerdings noch: Wie kann ein Schweißtropfen von den Achseln auf die Hüfte herunterfallen, wenn man angezogen ist??? :confused:

 

Hallo Engelhard,

herzlich willkommen auf kg.


Zunächst Textkram, der mir zwischendrin beim Lesen auffiel:

Kurz vor neun am Montagmorgen begann Meiers Arbeitswoche genau so wie alle der letzten Jahre.
Klingt nicht so gut. Ich würde schreiben: Wie in all den Jahren begann Meiers Arbeitswoche genau kurz vor neun.


Er hatte Angst vor dem Leben: Angst zu versagen, den Job zu verlieren, auf der Straße zu landen.
Dieser Satz kommt wie ein Hammer daher. Ich hab grad als Leserin angefangen mich reinzulesen, da drückst du mir schon deine Absichten ins Gehirn. Ich fände es besser, wenn ich am Ende der Geschichte selbst zu der Erkenntnis gelange, dass Meier Angst vor ... hat.
Es gibt ja diese durchaus diskussionswürdige Ansicht, dass man in Geschichten nicht berichten soll, wie es dem Protagonisten geht, sondern es durch Darstellung von Bildern aufzeigen soll. Die englische Sprache ist in diesem Punkt uns mal wieder in Kürze und Prägnanz voraus, dort heißt es "show, don't tell". Haste bestimmt schon mal wo gelesen oder gehört.


Eine obdachlose Frau saß auf dem Boden, den Rücken an eine Hauswand gele
obdachlos würde ich streichen. Du beschreibst sie ja gleich anschließend. Am Ende müsste ich es selbst wissen, dass sie obdachlos ist, sonst ist deine Beschreibung nicht gut gewesen.


er selbst säße an ihrer Stelle heruntergekommen, zerlumpt, stinkend und krank da.
das "da" würde ich vorziehen.So klingt es gefälliger:er selbst säße da an ihrer Stelle

ein astronomisches Einkommen,
hm,. ich glaube, du meinst ein astromonisch hohes Einkommen.

An dieser Stelle fällt mir auf, dass deine Namenswahl sehr lieblos wirkt. Meier, Schröder, Lehmann. Jetzt fehle nur noch Müller und Schmidt. Für eine Satire wäre es akzeptabel, aber du willst hier ja eine ernsthaft Alltagsgeschichte erzählen. Ich fänd es zugänglicher, wenn du den Handelnden auch passende Nachnamen gibst. Ist fast nie leicht. Aber die Mühe gewiss wert.
Du hauchst mit passenden Namen den Figuren automatisch etwas mehr Leben ein, individualisierst sie. Meier, Lehman, Schröder wirkt so als könntest du an deren Stelle auch Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 schreiben.

Er ging über den Flur und in sein Büro, das er teilte mit Müller, einem jungen Schnösel, der andauernd während der Arbeitszeit auf seinem Handy quatschte, und der sechzigjährigen Frau Kaltenbach, die eigentlich nur noch auf ihre Rente wartete und ständig über Horoskope, Erdstrahlen, Engel und anderen Humbug redete.
Das wirkt etwas schräge, wie es da jetzt steht. Ich würde es so umstellen:

Er ging über den Flur und in sein Büro, das er mit Müller und Frau Kaltenbach teilte. Müller war ein junger Schnösel, der andauernd während der Arbeitszeit auf seinem Handy quatschte. Die sechzigjährige Frau Kaltenbach, die eigentlich nur noch auf ihre Rente wartete, redete ständig über Horoskope, Erdstrahlen, Engel und anderen Humbug redete. Es war mit den beiden kaum auszuhalten.


Er drehte den Kopf und sah hinüber zum Schreibtisch
das ist doppelt, entweder er drehte den Kopf zum Schreibtisch oder er sah hinüber.


Dann war da die „Umstrukturierung“, wie das Programm offiziell von der Pressestelle bezeichnet wurde, das sogenannte Reformprogramm der Unternehmensgruppe Von Großmann, dessen kaum verschleierter eigentlicher Sinn im Abbau möglichst vieler Arbeitsplätzen bestand, von Lehmann beharrlich und ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt, mochten die Betriebsräte noch so empört heulen, Gewerkschaften zetern und Linke kläffen wie wütende Pinscher am Straßenrand.
Was ein Mammutsatz. Wieso? Pack die Aussagen in mehrere Sätze. Dann wird es verständlicher und alle Aussagen bekommen ihren gerechtfertigten Raum auf den Leser wirken zu können.

Als es jetzt zu zirpen begann,
zirpen klingt komisch, ist ja kein Vogeltelefon

nicht so einfach den Schwanz einziehen,
In der wörtlichen Rede kann man diesen Satz durchaus bringen, aber als Erzähler würde ich den nicht nehmen, weil es schlicht umgangssprachlich ist. Schreibe doch: nicht so einfach klein beigeben oder nicht so einfach einknicken, aufgeben.


Der Alte hatte brüsk aufgelegt.
brüsk auflegen? Wie soll das gehen? Man kann den Hörer auf die Gabel knallen.


Er war vorbei
es

Der Alte hatte brüsk aufgelegt. Er war vorbei, Lehmann hatte alles verloren. Wie es mit seinem Leben weitergehen sollte, konnte er sich nicht vorstellen. Bei dem Einfluß, den von Großmann hatte, war an eine Karriere woanders nicht zu denken. Und doch fühlte er sich seltsamerweise nahezu erleichtert. Es war vorbei.
So geht das nicht. Das ist Gloriaromanstil. Du kannst nicht im Galopp durchpreschen. Wieso entwickelst du nicht den Stoff besser und breitest ihn gemütlicher aus. Schildere doch erstmal in Ruhe die Gedanken Lehmanns nach dem Telefon: er war vielleicht erstmal sprachlos, betäubt, in den Schläfen pochte das Blut oder ihm war plötzlich der Mund trocken oder er schwitzte oder was auch immer. Dann zeige auf, welche Gedanken ihm durch den Kopf schießen. Vielleicht schießen ihm mehr Details durch den Kopf. Jeder hat doch andre Gedanken, bei dem Gefühl vernichtet worden zu sein. Dem einen geht durch den Kopf, dass er gleich seine Wohnung nicht mehr bezahlen kann, der nächste sieht sich den Wagen verlieren und mit schweißstinkenden Leibern in der U-Bahn hocken, einem andern geht der Atem schneller bei dem Gedanken beim Arbeitsamt vorstellig werden zu müssen, bei dem Gedanken, es der Familie mitteilen zu müssen und so weiter. Geh mehr auf deine Individuen ein, die du als Erzähler erschaffen hast. Beschreibe und erzähle mehr von ihnen. Seine Erleichterung hat auch individuelle Gründe. Welche denn? Er muss sich nicht mehr grade machen in der Firma, kann woanders neu anfangen, sich dort beweisen, ohne immer der Schwiegersohn vom Alten sein zu müssen, wird nicht mehr schief angesehen deswegen und so weiter. Du bist der Erzähler, du hast die Macht, mir die Gedanken und Gefühle Lehmanns nahe zu bringen.

Lehmann hatte ihn nicht einfach nur gefeuert, er hatte außerdem seine Selbstachtung regelrecht massakriert
Und was genau hat er getan? Was sagte er?

Der letzte Absatz ist zwar ein würdiger Geschichtenschluss, aber ich finde Meier hat bislang keinen fiesen Charakterzug an den Tag gelegt gehabt, das bricht sich ein wenig rasch Bahn. Dadurch wirkt es für mich unglaubwürdig, dass Meier jetzt auf diese Weise ein Ego aufpoliert. Es würde vielleicht glaubwürdiger wirken, wenn man schon am Anfang der Geschichte als Leser spürt, dass Meier die Obdachlose abgrund tief ablehnt, ja Hassgefühle entwickelt, aber der Hintergrund ist, dass er selbst sich unendlich davor fürchtet, auch in die Gosse zu gelangen.

Ansonsten würde so einer wie Meier eher zu Hause angekommen, seine schlechte Laune an Frau und Kinder auslassen.

Insgesamt fand ich diese Geschichte nicht so besonders gut. Der Plot ist recht schlicht, die Umsetzung leider auch.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Seramona,

Es freut mich, daß Dir meine Geschichte gefallen hat. :) Das mit dem Tropfen – er hatte weite Oberbekleidung an. An der Geschichte ist sonst nichts autobiographisch, aber ich hatte mal eine Prüfung und da,... nun ja.
Ich wollte mit Meiers Schwitzerei unterstreichen, was für ein armes Schwein er eigentlich ist, ein nervliches Wrack, weil er Angst um seinen Job hat. Und am Ende dann – leider sind mir schon Menschen mit ähnlichen Charakterzügen über den Weg gelaufen.

Liebe Grüße
Engelhard

 

Hallo Lakita,

Danke für Deine Anmerkungen. Dir sind einige Sachen aufgefallen, die ich übersehen habe, obwohl ich die Geschichte vor dem Veröffentlichen wahrlich oft durchgelesen habe.
Den Anfang werde ich wohl etwas umarbeiten.

Zitat:
Ich würde schreiben: Wie in all den Jahren begann Meiers Arbeitswoche genau kurz vor neun.

Vielleicht werde ich „Wie in all den Jahren begann Meiers Arbeitswoche kurz vor neun.“ schreiben, denn „kurz vor neun“ ist auch keine genaue Zeitangabe.

Zitat:
Dieser Satz kommt wie ein Hammer daher.

Vielleicht ist er überflüssig. „Show, don’t tell“ gefällt mir in Geschichten auch besser; hier habe ich versucht, beides auf einmal zu machen.

Zitat:
obdachlos würde ich streichen.

Wird gestrichen.

Zitat:
hm,. ich glaube, du meinst ein astronomisch hohes Einkommen.

In der Tat, das ist ein Schnitzer, den ich übersehen habe.

Was die Namen angeht:
Ich werde es mal mit Telefonbuchstechen probieren. Oder besser ich hole mir Anregungen im Internet.

Die Stelle, an der er in sein Büro kommt, hast Du wirklich besser formuliert als ich.

Zitat:
Was ein Mammutsatz. Wieso?

Da wollte ich viel mit möglichst wenig Worten ausdrücken. Die Beschreibung von Herrn Lehmanns „Verdiensten“ war in einer der ersten Fassungen noch auf mehrere Sätze verteilt und nahm eine halbe A4-Seite ein; als mir die Geschichte dann zu lang wurde, habe ich sie so zusammengestrichen.

Ich hatte mal in meinem Büro ein Telefon, das wirklich immer zirpte, wenn jemand anrief. Glücklicherweise gelang es mir eines Tages, es auf einen weniger nervigen Klingelton umzustellen.

Zitat:
Es

Sorry, so ein dummer Fehler. Werde ich gleich ausbessern

Zitat:
So geht das nicht. Das ist Gloriaromanstil. Du kannst nicht im Galopp durchpreschen. Wieso entwickelst du nicht den Stoff besser und breitest ihn gemütlicher aus.
Und
Und was genau hat er getan? Was sagte er?

Diese Dinge hatte ich anfangs tatsächlich viel detaillierter geschildert. Dann kam mir die Geschichte zu lang vor, und es ist, wie bei Lehmanns „Verdiensten“, viel der Löschtaste zum Opfer gefallen. Aber ich kann ja wieder was reinnehmen.

Zitat
Insgesamt fand ich diese Geschichte nicht so besonders gut. Der Plot ist recht schlicht, die Umsetzung leider auch.

Was die Umsetzung anbetrifft, gelobe ich für meine nächste Geschichte Besserung,. Der Plot, na ja, er sollte so sein; vielleicht wäre er besser bei Dir angekommen, wenn der Schreibstil mehr Deinen Geschmack getroffen hätte.

Nochmals Danke, daß Du Dir die Zeit genommen hast, so ausführlich auf meine Geschichte einzugehen.

Liebe Grüße
Engelhard

 

Hallo Engelhard,

also das entbehrt nicht einer gewissen Komik.

Was die Namen angeht:
Ich werde es mal mit Telefonbuchstechen probieren. Oder besser ich hole mir Anregungen im Internet.
:lol:

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Lakita,

Das war auch nicht ganz ernstgemeint.
„Oder besser, Anregungen aus dem Internet“ habe ich geschrieben, weil, wo ich wohne, in den Telefonbüchern eher Namen wie Dupont oder Lemaire zu finden sind, was sich in einer deutschen Kurzgeschichte nicht so gut machen würde.

Lieben Gruß
Engelhard

 

Hallo Engelhard,

ein paar Kleinigkeiten habe ich noch gefunden:

Der Umsatz stieg und stetig

. Von Großmann betrachtete voll Verachtung das erbärmliche Gesocks, der sich herausnahm, gegen die Hand

Ansonsten finde ich die Idee sehr schön, dass jeder Charakter hier seine eigene Rolltreppenfahrt macht und die Personen auch irgendwie zusammen hängen. Gleichzeitig ist das sicher auch die Schwierigkeit beim erzählen der Geschichte - zumindest, wenn man nur eine Kurzgeschichte lang Platz hat.
Wie ich das interpretiere, willst Du das Treten, weil man getreten wurde zeigen. Vielleicht wäre es prägnanter das vor allem aus der Perspektive von Meier zu erzählen, wie er beides erlebt?

Habe die Geschichte aber gerne gelesen. Sie wirkt nicht autobiografisch, hat keinen unnützen Pathos und handelt auch nicht von Selbstmord. Das finde ich schon mal sehr schön!

Viele Grüße

MLasar

 

Hallo MLasar,

das habe ich nun korrigiert, hab Dank für den Hinweis.
Schön, daß Dir die Geschichte gefallen hat – und daß die Rolltreppenfahrt in ihrer beabsichtigt symbolischen Wirkung rübergekommen ist.:)

Ja, das Treten und Getretenwerden zu zeigen war eines meiner Anliegen, das zweite war, die Arroganz und Selbstzufriedenheit derjenigen, die sich für die Elite halten, zumindest anzudeuten – von Typen wie von Großmann, die meinen, die Welt gehöre ihnen allein und die Masse der Menschen sei nur zum Von-ihnen-Ausgebeutetwerden da.
War vielleicht etwas zuviel, um es in eine Kurzgeschichte zu packen. Möglicherweise hätte ich zwei daraus machen sollen: eine, wie Du schreibst, aus der Sicht des getretenen und tretenden Meier und eine aus der Sicht des von Großmann, um dessen Weltanschauung ausführlicher darzulegen.

Herzlichen Gruß
Engelhard

 

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