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Der Chef hat einen schlechten Tag
Meier fühlte sich unwohl wie so oft in letzter Zeit, als er auf der Rolltreppe der U-Bahnstation nach oben fuhr. Obwohl es wirklich noch nicht sehr warm war, schwitzte er und fühlte die naßkalten Flecken, die sich schon wieder unter seinen Achseln gebildet hatten. Es war Montagmorgen. Wie in all den Jahren begann Meiers Arbeitswoche kurz vor neun.
Oben stieg Meier von der Rolltreppe und trat auf den Gehsteig. Eine Frau saß auf dem Boden, den Rücken an eine Hauswand gelehnt, mit ihrem Hab und Gut in drei großen Plastiktüten um sich herum. Sie hatte dreckige, zerrissene Hausschuhe an den Füßen; ihr nackter rechter Knöchel war geschwollen und von blauschwarzen Flecken gezeichnet; an ihrem Schienbein näßte ein Geschwür. Bei ihrem Anblick konnte Meier nicht anders: Er stellte sich vor, er selbst säße an ihrer Stelle heruntergekommen, zerlumpt, stinkend und krank da. „Ist das ihre Rolle in unserer Gesellschaft?“, fragte er sich, „uns vor Augen zu halten, was uns erwartet, wenn wir nicht bei der Stange bleiben, nicht immer wieder zurückgehen in die selbe Tretmühle, Tag für Tag, Woche für Woche, leben für das Wochenende und den nächsten Urlaub, nach dem dann doch alles so weitergeht wie vorher?“ Und für einen kurzen Augenblick erinnerte er sich wehmütig an die unerfüllten Träume seiner Jugend von einem aufregenden Leben, von Freiheit und Abenteuern.
Meier war heute besonders schlecht drauf. Der Rüffel, den er sich am Freitagnachmittag eingehandelt hatte, lag ihm immer noch im Magen. Sein Quartalsbericht war nicht rechtzeitig fertiggeworden, und so hatte er auf Schröders Drängen hastig eine Excel-Tabelle zusammengeklickt. Mit deren fehlerhaften Zahlen hatte Schröder sich danach in der Abteilungsleiterbesprechung unsterblich blamiert. Schröder hatte nach der Besprechung wutschnaubend vor Meiers Schreibtisch mit „Konsequenzen“ gedroht.
Die Szene hatte sich in Meiers Hirn festgefressen. Ihm war, als hätte er in einer Ecke seines Schädels ein Geschwür, das düstere Zukunftsvisionen wie Eiter absonderte.
Als er durch die Fußgängerpforte den Firmensitz der von-Großmann-Gruppe betrat, fuhr neben ihm gerade Direktor Lehmann in seinem roten Mercedes-Cabrio durch die Einfahrt.
Unwillkürlich sah Meier zu seinem obersten Boss hinüber. Lehmann hatte ein markantes Profil, dichtes, schwarzes Haar und einen athletischen Körper – Meier vermutete, daß er viel Zeit im Fitneßstudio verbrachte. Mit fünfundvierzig war Lehmann nur vier Jahre älter als Meier und hatte alles erreicht, wovon dieser nur träumen konnte: ein astronomisches Einkommen, Macht, Luxus; außerdem war er mit der Tochter des Hauptanteilseigners der von-Großmann-Gruppe verheiratet.
Die Uhr in der Eingangshalle zeigte 9 Uhr 1, als Meier vor dem Lift stand und die Klingel mit sanftem „ding-dong“ die Ankunft der Kabine ankündigte. Als Meier schon den Knopf für seine Etage gedrückt hatte und die Aufzugstüren begannen, sich zu schließen, kam Direktor Lehmann durch die Drehtür in die Halle, sah zum Lift und ihm geradewegs ins Gesicht. Meier war, als zöge sich ein Knoten um seinen Magen noch etwas enger zusammen, und von seiner Achselhöhle löste sich ein Schweißtropfen und fiel auf seine Hüfte. Er streckte beide Arme aus, um die Türen daran zu hindern, sich zu schließen. Die Türen fuhren wieder auf; Meier trat dazwischen und wartete auf Direktor Lehmann. „Guten Morgen, Herr Lehmann.“ krächzte er. „Morgen“ knurrte Direktor Lehmann abwesend, als er zu Meier in den Aufzug trat. Als sich die Türen schlossen überlegte Meier krampfhaft, ob er irgendein kurzes Gespräch beginnen sollte, vielleicht eine Bemerkung über das Wetter oder einen kleinen entschuldigenden Scherz über die eine Minute, die er zu spät dran war, aber seine Zunge war wie am Gaumen angeschweißt. Schließlich wurde er erlöst, als der Lift auf seiner Etage anhielt, und ging auf den Flur hinaus selbst ohne Direktor Lehmann einen schönen Tag zu wünschen. Er ging über den Flur und in sein Büro, das er teilte mit Müller, einem jungen Schnösel, der andauernd während der Arbeitszeit auf seinem Handy quatschte, und der sechzigjährigen Frau Kaltenbach, die eigentlich nur noch auf ihre Rente wartete und ständig über Horoskope, Erdstrahlen, Engel und anderen Humbug redete. Der Excel-Ausdruck lag noch mitten auf seinem Schreibtisch, so wie ihn Schröder am Freitag wütend hingeknallt hatte. Er wünschte seinen beiden Kollegen geistesabwesend einen guten Morgen, stellte seine Tasche neben dem Schreibtisch ab und ging wieder hinaus auf den Flur, zum Kaffeeautomaten.
Lehmann ärgerte sich über die Unterbrechung seiner Aufzugsfahrt in die oberste Etage. Als die Türen hinter Meier wieder zuglitten und noch ein leichter Schweißgeruch in der Luft hing, dachte er: „Was für ein jämmerlicher Duckmäuser!“ Wenn Lehmann sich richtig erinnerte, arbeitete er in Schröders Abteilung. „Ich könnte ihn rausschmeißen“, dachte der Geschäftsführer der von-Großmann-Gruppe und malte sich genüßlich aus, wie er den kleinen Sachbearbeiter vor sich antreten ließ, ihn souverän nach Strich und Faden heruntermachte, bevor er ihn schließlich zur Abholung seiner Papiere in die Personalabteilung schickte. Die Vorstellung tat ihm gut und lenkte ihn einen Moment lang von seinem eigenen Problem ab. Dann jedoch besann er sich und sein Magen krampfte sich zusammen wie, inzwischen vier oder fünf Stockwerke unter ihm, der von Meier.
Später stand Lehmann in seinem großen Büro vor der Fensterfront. Sein Blick ging über die Dächer ohne daß er von dem Panorama viel wahrnahm. Er sah hinüber zum Schreibtisch, auf dem unschuldig das Telefon stand, lauerte, wie es ihm schien, auf seinen Moment wartend. Einem Impuls folgend zog er sein Handy aus der Jackettasche und schaltete es aus. Er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Einmal war er nahe daran, zu resignieren, dann wieder riß er sich zusammen und begann, nach einem Ausweg zu suchen. Der Gedanke „Ich bin erledigt“ drängte sich ihm ständig auf wie das permanente Gezeter eines zänkischen alten Weibs. Dann fiel ihm der nach Schweiß riechende Duckmäuser aus dem Aufzug wieder ein, und er lenkte sich einen Moment lang mit der Vorstellung ab, ihm persönlich die Entlassung zu verkünden und danach den jammernden Kriecher aus seinem Büro zu werfen.
Lehmann wußte, daß er für den alten von Großmann versagt hatte - nicht etwa, was die Leitung der von-Großmann-Gruppe anbetraf, oh nein. Seine Erfolge als Geschäftsführer konnten sich sehenlassen. Der Umsatz stieg und stieg; die Gewinne waren so hoch wie noch nie zuvor. Dann war da die „Umstrukturierung“, wie das Programm offiziell von der Pressestelle bezeichnet wurde, das sogenannte Reformprogramm der Unternehmensgruppe Von Großmann. Der kaum verschleierte eigentliche Sinn des Programms bestand im Abbau möglichst vieler Arbeitsplätze und der Umverteilung der dadurch anfallenden Mehrarbeit an die im Unternehmen Verbliebenen. Lehmann hatte alles beharrlich und ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt, mochten die Betriebsräte noch so empört heulen, Gewerkschaften zetern und Linke kläffen wie wütende Pinscher am Straßenrand. Doch das alles hatte der alte von Großmann als selbstverständlich vorausgesetzt, als er seinen Sessel für Lehmann freigemacht hatte. Wirklich von ihm erwartet hatte er etwas ganz anderes.
„Da bleibt ja wohl keine Frage offen.“ Der alte von Großmann blickte von dem vor sich ausgebreiteten Material auf – digitale Fotoausdrucke, eine DVD und ein halbaufgeschlagener Bericht – und sah Moser über den Tisch hinweg an. „Und Lehmann...“- „Weiß seit gestern, daß wir ihn beobachten“, antwortete der Detektiv. „Meine Mitarbeiter haben sich ihm so deutlich gezeigt, daß er schon entweder blind oder aber völlig debil sein müßte, um nicht zu merken, was los ist – ganz, wie Sie es gewünscht haben.“ Die Vorstellung, daß Lehmann jetzt in diesem Moment wie auf Kohlen saß, verschaffte von Großmann einen Augenblick grimmiger Befriedigung. „Falls doch noch etwas unklar sein sollte...“, fuhr sein Gegenüber fort. „Ja, ja, ich weiß“, unterbrach ihn von Großmann ungehalten, „dann kann ich Sie jederzeit anrufen.“ Falls Moser irritiert war, zeigte er es nicht im geringsten. „Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann ...“ „Auf Wiedersehen, Herr Moser.“ “Auf Wiedersehen, Herr von Großmann.“ Moser stand auf, schüttelte kurz die formell dargebotene Hand von Großmanns und wandte sich zur Tür. Er fand wie gewöhnlich selbst den Weg hinaus.
Von Großmann erhob sich und ging aus seinem Arbeitszimmer hinüber ins Wohnzimmer, wo er sich an der gutbestückten Hausbar ein Glas Cognac einschenkte. Dann setzte er sich auf die Couch, nahm einen Schluck, stellte das Glas ab und faltete die Hände über seinem stattlichen Bauch.
Im Fernseher, der im Hause von Großmann nahezu ununterbrochen eingeschaltet war, liefen Nachrichten. Wieder einmal ging es um Arbeiterdemonstrationen gegen Entlassungen, Lohnkürzungen, Arbeitszeitverlängerungen. Von Großmann betrachtete voll Verachtung das erbärmliche Gesocks, das sich herausnahm, gegen die Hand aufzubegehren, die es fütterte. Für den Industriellen von Großmann, Abkömmling einer langen Reihe von Firmenpatriarchen, gab es zwei Arten von Menschen: die wenigen, die zum Herrschen geboren waren und die große Masse der Dienenden, wobei die Daseinsberechtigung letzterer darin bestand, sich den Buckel krumm zu schuften um der Elite das Leben zu ermöglichen, das ihr zustand. Man hätte von Großmanns Einstellung feudalistisch nennen können – für Aristokratie allerdings hatte er nicht viel übrig.
Schließlich war die Aristokratie durch jahrhundertlange Inzucht degeneriert und schließlich praktisch bedeutungslos geworden – einzelne Exemplare gaben heutzutage sogar skurrile Witzfiguren ab. Nein, ab und zu mußte einem geeigneten Individuum aus den unteren Schichten der Aufstieg gestattet werden, um das Blut aufzufrischen und den Fortbestand seiner Dynastie zu sichern. Und so hatte von Großmann Lehmann entdeckt, gefördert und mit seiner Tochter verheiratet. Doch die Ehe war kinderlos geblieben; der erhoffte Nachfolger für die Dynastie war aus der Verbindung nicht hervorgegangen.
„Elfriede“, rief von Großmann von der Couch aus in die Wohnung. Einen Augenblick später kam seine Tochter zaghaft zur Tür herein. „Wenn sie nur nicht so eine Versagerin wäre“, dachte von Großmann. Elfriede Lehmann-von Großmann, 40 Jahre alt, war keine Schönheit, aber auch nicht wirklich häßlich, eher eine graue Maus. Als Nachfolgerin für die Herrschaft über das von Großmann-Imperium wäre sie nie in Betracht gekommen, weich und zerbrechlich wie sie in den Augen ihres Vaters war.
„Du wirst dich scheiden lassen“, knurrte von Großmann.
Gegen Mittag saß Lehmann auf der Couch in der Sitzecke seines Büros und starrte hinüber zum Schreibtisch. Das Telefon hatte merkwürdigerweise den ganzen Morgen über keinen Ton von sich gegeben, als wollte es ihn mit seinem Schweigen zermürben. Als es jetzt zu zirpen begann, sprang Lehmann auf und rannte, stolperte mehr, zum Schreibtisch hinüber.
„Herr von Großmann für Sie“, kündigte seine Assistentin an.
„Du weißt, warum ich anrufe?“ – Von Großmanns Stimme klang gefährlich ruhig. Doch noch ehe Lehmann antworten konnte, änderte sein Schwiegervater die Tonart und brüllte los: „Ich werde dafür sorgen, daß du kein Bein mehr auf den Boden bringst, du Schwein! Du perverse, schwule Sau !“
Trotz keimte in Lehmann auf. Er wollte sich nicht so einfach geschlagen geben, die Beleidigung nicht hinnehmen, auch wenn ihm klar war, daß er keine Chance hatte.
„Die Firma ...“, begann er, wollte mit seinen Erfolgen argumentieren, nicht so einfach klein beigeben, wenigstens seine Selbstachtung retten. Doch da war er bei von Großmann an der falschen Adresse. Der Alte kam seinen Argumenten zuvor.
„Glaub nur nicht, daß du mir weismachen kannst, du wärst unersetzlich. Kleine Haifische wie dich spucken die BWL-Fakultäten jedes Jahr dutzendweise aus. Du weißt genau, warum ich dich in die Firma geholt und mit Elfriede verheiratet habe. Die ganzen Jahre über habe ich gedacht, du wärst impotent oder unfruchtbar, aber nein, der Herr belieben, mit dem eigenen Geschlecht vorliebzunehmen. Elfriede wird noch heute nachmittag den Scheidungsanwalt anrufen und glaub bloß nicht, daß du einen müden Euro herausschinden kannst. Du wirst dich in Elfriedes Haus nicht mehr blicken lassen; geh meinetwegen hin, wo der Pfeffer wächst, und deine Habseligkeiten wird sie dir hinterherschicken. Morgen will ich dich in der Firma nicht mehr sehen. Haben wir uns verstanden?“
Der Alte hatte aufgelegt. Er war vorbei. Eine Weile saß Lehmann nur da und starrte vor sich hin. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie sollte es mit seinem Leben weitergehen? Von Großmann hatte immensen Einfluß, und Lehmann war überzeugt, daß er alles tun würde, um ihm eine Karriere woanders unmöglich zu machen. Der Luxus, an den er sich so gewöhnt hatte, die Macht, und nicht zuletzt die so teuer erkaufte Zuneigung seiner diversen Gefährten, die ihm nun zum Verhängnis geworden war, auf all das würde er in Zukunft verzichten müssen. Und doch fühlte er sich seltsamerweise nahezu erleichtert. Es war vorbei.
Eine Sache war da allerdings noch. Er nahm den Hörer wieder auf.
„Rufen Sie mir Schröder rauf“, befahl er seiner Assistentin.
Die alte Frau saß immer noch an der Hauswand neben der U-Bahn.
Meier starrte sie an und sah seine eigene Zukunft vor sich. Bald würde auch er irgendwo so sitzen, dessen war er sich jetzt ganz sicher. Schröders hämische Visage, nachdem er ihn zu sich zitiert hatte und ihm befahl, sich sofort beim Geschäftsführer zu melden, würde er wohl nie vergessen. Er war nach oben gehastet, hatte eine Viertelstunde lang vor Direktor Lehmanns Büro warten müssen und war dann wie ein Lamm zur Schlachtbank gegangen. Lehmann hatte ihn nicht einfach nur gefeuert, er hatte außerdem seine Selbstachtung regelrecht massakriert.
Ja, er würde vors Arbeitsgericht gehen, ja sicher, eine Entschädigung verlangen, natürlich, gleich morgen würde er alles Notwendige unternehmen, oder vielleicht doch erst übermorgen, oder nächste Woche, erst mal in Ruhe überlegen – er fühlte sich leer, schwach. Viel Kampfgeist hatte er noch nie besessen.
Die Frau hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Er kramte einen Euro aus seiner Geldbörse und tat so, als wolle er ihn in ihren Plastikbecher fallen lassen. Als ein Hoffnungsschimmer in den Augen der Alten zu glimmen begann und sie dazu ansetzte, sich zu bedanken, grinste er hämisch, zog seine Hand zurück und steckte das Geldstück wieder ein. Als er Enttäuschung und Erniedrigung im Gesicht der Frau sah, fühlte er sich tatsächlich ein wenig besser. Er drehte sich um und ging weiter. Die Alte sah ihm noch nach, als ihn die Rolltreppe langsam aber unaufhaltsam abwärts beförderte.