Was ist neu

Der Countdown

Mitglied
Beitritt
13.12.2002
Beiträge
30

Der Countdown

Ich wache auf und taste benommen nach meinem Funkwecker, der just in diesem Moment von 18:53 Uhr auf 18:54 Uhr umspringt. Mehr als zwei Stunden habe ich geschlafen. Seitdem ich diesen Studentenjob beim Paketdienst angenommen habe und ständig nachts eingesetzt werde, gerät mein innerer Rhythmus total aus den Fugen. Anfangs gehe das jedem so, versicherten mir meine Kollegen unentwegt. Mühsam versuche ich zu verhindern, dass mir die Augen wieder zufallen. Das Gefühl der Benommenheit vermag einfach nicht zu weichen. Wenigstens muss ich heute Nacht nicht ins Lager. Ich taste nach meiner unverschlossenen Cola – Flasche. Nur beschwerlich quält sich die lauwarme, kohlendioxidarme Brause meine Kehle herunter.

Ich raffe mich auf. Wenigstens sitze ich jetzt schon mal. Ein Peitschenhieb scheint mein Gehirn zu treffen und die kreisförmige Massage meiner Schläfen kann den Druck, der auf meinem Kopf lastet nur langsam entspannen. Unter einem riesigen Stapel uralter Zeitungen krame ich meine Fernbedienung hervor. Verdammt, wieder mal scheint es Probleme mit dem Kabelanschluss zu geben, auf jedem Programm ein Testbild. Mit zunehmend erwachendem Verstand stelle ich fest, dass das, was ich anfangs für ein Testbild gehalten habe eine Art Countdown ist.

05:43

Eigenartig, wieder und wieder schalte ich durch sämtliche 34 Fernsehkanäle, jedes Programm, von ARD bis NEUN LIVE bringt diesen Countdown, ausnahmslos. Ist das irgendein gigantischer Werbegag? Die Ankündigung eines neuen Film – Trailers, der gleich gespielt wird? Aber wie ungeheuerlich kostspielig wäre solch eine Aktion bloß? Einem Michael Bay würde ich jedoch alles zutrauen. Ich öffne das Fenster zur Straßenseite. Eine eigenartige Stille ist das. Ich höre kein Vogelzwitschern, keine dröhnenden Autos. Eine kalte Brise weht herein.

04:36

Mir reicht es jetzt, von Neugier gepackt will ich wissen, weshalb auf jedem Fernsehkanal ein Countdown läuft. Der Videotext lässt sich nicht aktivieren. Stefan weiß so etwas. Stefan kennt sich aus damit. Ich werde einfach Stefan anrufen, der mir eine rationale Erklärung dafür geben kann. Nachdem ich den Hörer abhebe, tutet mir das Besetzt – Zeichen entgegen. Verwundert drücke ich ein paar Tasten, doch das ändert nichts. Genervt fummele ich mein Handy aus der Jackentasche und wähle Stefans Nummer. „Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen - The Person you have called is temporarily not available,” hallt es mir monoton entgegen. Ich wähle Michaels Nummer. „Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen - The Person you have called is temporarily not available.” Ich wähle Susannes Nummer. „Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen - The Person you have called is temporarily not available.” Ich wähle die Nummer meines Vaters. „Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen - The Person you have called is temporarily not available.”

03:52

Vielleicht bringen sie ja etwas im Radio. Hochfrequentes Pfeifen dröhnt in mein Ohr und lässt den Kopfschmerz wieder schlimmer werden. Ich reiße die Wohnungstür auf und stürme in den Hausflur. Energisch hämmere ich gegen die Tür meines Nachbarn. „Herr Wehner?“ Meine Stimme schallt voluminös durch den Hausflur. Die Tür bleibt verschlossen. Ich drücke mein Ohr an die Tür, doch ich kann nichts hören. „Hey!“ schreie ich noch lauter und renne die Treppe herab, fester und fester an jede Tür hämmernd, die ich auf dem Weg nach unten passiere. Ich provoziere es, dass irgendjemand aus diesem Haus wutentbrannt die Tür aufreißt und mich fragt, ob ich noch ganz bei Sinnen sei, denn mittlerweile beginne ich genau daran zu zweifeln. Mehr und mehr fühle ich mich in einen surrealen Alptraum versetzt. Nichts wäre mir lieber, als irgendjemand, der mich zusammenscheißt, doch es zeigt sich einfach keine Reaktion.

Unten angekommen trete ich auf die Straße. Immer noch ist es totenstill. Ich blicke zum Himmel. Kein Flugzeug, kein Vogel. Mein Blick wandert umher. Keine Spaziergänger, keine Autos, keine Bienen, keine Ameisen. Nichts. Das einzige, das ich vernehmen kann, ist das gespenstische Pfeifen des Windes, während ich alleine auf der Straße stehe. Ich stürme wieder hoch in meine Wohnung. Mein erster Blick fällt auf den Fernseher.

02:13

Kann mir denn niemand sagen, was zum Teufel hier vor sich geht? Warum ist die Kommunikation zusammengebrochen? Warum ist dieses Haus, ja vielleicht sogar die ganze Stadt menschenleer? Wo sind die alle und vor allem, warum sind sie weg? Ich wische mir den kalten Schweiß von der Stirn und wandere unruhig hin und her. Weniger der Fakt, dass ein lautloser Countdown unbarmherzig herunterzählt, als vielmehr die Tatsache, dass ich keine Lebenszeichen mehr ausmachen kann, versetzt mich in stetig steigende Panik. Ich beginne zu glauben, dass dieser Countdown etwas Unheilvolles mit sich bringen könnte. Bald werde ich es herausfinden. Mein Herz schlägt schneller.

01:33

Warum renne ich nicht weg? Warum versuche ich nicht zu fliehen? Warum setze ich mich nicht in mein Auto und fahre einfach tiefer in die Stadtmitte? Vielleicht ist es ja nur ein Zufall, dass diese Straße wie ausgestorben scheint. In der Stadtmitte ist immer etwas los. Wenn ich dort auf keine Menschen treffe, dann habe ich die Gewissheit, dass hier etwas nicht stimmen kann. Vielleicht steigere ich mich einfach zu sehr in diese Situation rein. Alles ist halb so wild. Ich bleibe hier in meiner Wohnung. Ich will den Fernseher im Blick haben, wenn der Countdown abgelaufen ist. Ich will wissen, was passiert.

00:47

Ich setze mich wieder auf die Couch und lehne mich zurück. Starr richtet sich mein Blick auf die Mattscheibe. Ein weiteres Mal nehme ich die Fernbedienung in die Hand und zappe durch alle Kanäle. Der Countdown ist nach wie vor auf jedem Kanal präsent. Für einen Moment lege ich den Kopf in den Nacken, schließe die Augen und erinnere mich an meine Familie, meinen Vater, meine Mutter. Es ist, als würde ich gedanklich bereits Abschied von ihnen nehmen. Ich sage ihnen Lebewohl und weiß nicht einmal, ob ich das machen muss, weil ich nicht weiß, was gleich passiert. Falls es jedoch das letzte ist, was ich in meinem Leben mache, dann habe ich soeben das richtige getan. Ich liebe euch.

00:07

Ich atme tief ein, versuche die frische Luft, die durch das immer noch geöffnete Fenster hereinströmt, tief in mich zu saugen.

00:06

Meine Atmung wird heftiger. Mittlerweile atme ich nur noch stoßweise.

00:05

Mein Puls hämmert, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Ich stelle fest, dass er annähernd dreifach so schnell schlägt, wie die Sekunden ablaufen.

00:04

Meine Finger krallen sich in die Lehne. Ich suche Halt.

00:03

Mein Magen gurgelt. Er rebelliert gegen die vielen Stresshormone.

00:02

Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

00:01

Ich verharre regungslos und mit vor Panik aufgerissenen Augen vor dem Fernseher.

00:00

Der Countdown ist abgelaufen. Ich halte die Luft an. Meine Augen verengen sich zu Schlitzen, gerade so, als würde ich erwarten, das Haus würde jeden Moment zusammenbrechen. Der Bildschirm wird schwarz. Kein Signal dringt mehr hervor. Der Himmel verdunkelt sich, Düsterkeit fällt in meine Wohnung. Die Erde beginnt zu zittern, ein unglaublich lautes Dröhnen schallt durch die Stadt.

 

Also das ist jetzt ja mal wirklich seltsam. Ich habe die Geschichte heute morgen verfasst und wollte sie soeben gerade online stellen, als ich eine Geschichte namens "Channel 13" sehe und sie auch lese. Ich kann meinerseits nur versichern, dass es wirklich ein Zufall ist, dass die beiden Geschichten inhaltlich so ähnlich sind. Ich schwöre, dass ich vor dem Verfassen meines Textes "Channel 13" nicht gelesen habe und ferner garantiere ich Euch, dass ich "Stefan Barth" nicht kenne.

Ich habe nichts an meiner Geschichte verändert. Auch die Tatsache, dass der Protagonist als erstes einen Stefan anruft ist ein eigenartiger Zufall, den ich recht amüsant, aber auch irgendwie seltsam finde.

Wie gesagt, ich schwöre auf alles was mir heilig ist, dass ich "Channel 13" nicht gelesen habe, bevor ich meine Geschichte geschrieben habe und hoffe, dass Ihr mir das glaubt. Die Tatsache, dass bereits eine ähnliche Geschichte existiert, hat mich aber auch nicht davon abgehalten, meine jetzt trotzdem zu posten.

Ich hoffe, sie gefällt Euch.

 

...und soeben fällt mir auf, dass einer der Protagonisten aus Stefans Geschichte Mark heißt. Langsam wird's komisch...

 

... und die erste Kritik kommt von einem anderen Stefan. Mwahahahaaa ...

Hey MarkMan!

Ja, was soll ich sagen - hat mir richtig gut gefallen. Zum Ende hin hast Du das Lesetempo ganz geschickt immer weiter angezogen, dass es so richtig spannend wurde. Ganz unproduktiv: Sehr gerne gelesen! :)

Cola – Flasche
Cola-Flasche. Diese Zusammensetzung hast Du noch ein paarmal drin.

... die lauwarme, kohlendioxidarme Brause ...
"kohlendioxidarm" find ich ein wenig zu Jargon-mäßig. Etwas umgangssprachlicheres würde da besser hinpassen.

... temporarily not available,”
Dreher -> ... available", ...

Das war's auch schon. Also mir hat's gut gefallen.

Bis denne,
Fisch

 

Hallo Stefan,

danke für die Kritik und Verbesserungsvorschläge. Freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat.

Ach so, und bevor ich es nochmal vergesse: Allen Frohe Ostern!

 

Hi Markman,

neugierig durch den Titel geworden, aber noch nichts ahnend, klickte ich dein Thema an und begann zu lesen. Was ich da las, kam mir so bekannt vor, daß ich an einen blöden Scherz dachte, den mir hier einer machen wollte. Auch das böse Wort "Plagiat" kam mir in den Sinn.
Dann las ich dein Statement und mußte zu dem Schluß kommen: Zufälle gibt's, die gibt's eigentlich nicht...
Als ob das ganze nicht schon mysteriös oder zufällig genug wär, kommen dann auch noch die (passend zum anderen) Namensgebungen hinzu.
Die merkwürdigsten Geschichten schreibt immer noch das Leben selbst... (bitte hier die Titelmisik von Twilight Zone oder Akte X einfügen ;))
Wir lassen die anderen Leser entscheiden, wessen Geschichte letztendlich origineller ist, wobei ich auf jedenfall mit einer 1:0 in Führung geh :).

MfG,
Stefan

 

Hallo Markman!

Glück oder Pech, Stefans Variante habe ich vorher gelesen. ;) Aber ich werde die beiden Geschichten nicht miteinander vergleichen, da sie sich meiner Meinung thematisch ähnlich, aber ansonsten doch recht unterschiedlich sind.

Zunächst ganz allgemein: deine Geschichte wusste durchaus zu gefallen. Guter Stil, passendes Setting und die Atmo kam gut rüber.

'N paar Details:
-

Nur beschwerlich quält sich die lauwarme, kohlendioxidarme Brause meine Kehle herunter.
Wenn du im chemischen Sinne auch recht hast (glaub ich), würde ich vielleicht eher kohlensäurearm schreiben.
-
Stefan weiß so etwas. Stefan kennt sich aus damit. Ich werde einfach Stefan anrufen, der mir eine rationale Erklärung dafür geben kann.
Nee, kann er auch nicht. :D
- Der Abschnitt nach "03:52": Was er da alles macht ist ziemlich viel für nicht einmal 2 Minuten.
-
Für einen Moment lege ich den Kopf in den Nacken, schließe die Augen und erinnere mich an meine Familie, meinen Vater, meine Mutter. Es ist, als würde ich gedanklich bereits Abschied von ihnen nehmen. Ich sage ihnen Lebewohl und weiß nicht einmal, ob ich das machen muss, weil ich nicht weiß, was gleich passiert. Falls es jedoch das letzte ist, was ich in meinem Leben mache, dann habe ich soeben das richtige getan. Ich liebe euch.
Wie melodramatisch. Eher etwas für einen kitschigen Fernsehfilm, hier finde ich das irgendwie unglaubwürdig.
-
Der Countdown ist abgelaufen. Ich halte die Luft an. Meine Augen verengen sich zu Schlitzen, gerade so, als würde ich erwarten, das Haus würde jeden Moment zusammenbrechen. Der Bildschirm wird schwarz. Kein Signal dringt mehr hervor. Der Himmel verdunkelt sich, Düsterkeit fällt in meine Wohnung. Die Erde beginnt zu zittern, ein unglaublich lautes Dröhnen schallt durch die Stadt.
Zunächst wissen wir ja, dass der Countdown abgelaufen ist - du brauchst es mMn also nicht schreiben. Dann finde ich das Ende insgesamt eher ... schwächer. Es vielleicht offen lassen? Vielleicht auch nur die ersten drei Sätze nach 00:00 streichen?

Deine Geschichte regt zum Überlegen an, was wohl da wirklich geschehen ist, und lässt auch verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu - von Halluzination durch Schlafmangel, abgefahrener Albtraum und etwas á la Langoliers. Das macht deine Geschichte erst wirklich gut, trotz der eher etwas weniger ausgedehnten Handlung.

Beste Grüße

Nothlia

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom