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Serie Der Davids-Clan: Selda und ihre Mutter

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17.04.2007
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Der Davids-Clan: Selda und ihre Mutter

Am frühen Nachmittag riss das Kreischen seiner Tochter Max aus dem Schlaf. Sofort war er hellwach - und wütend. Er schleuderte die Zimmertür auf, polterte die Treppe hinab - das bedrohliche Rumpeln würde andere Leute sofort verstummen lassen, nicht aber seine Familie - dann stellte er sich breitbeinig in die Tür des Wohnzimmers, die er eindrucksvoll mit seiner großen, muskulösen Gestalt ausfüllte.
"Du kleine Ratte, komm sofort da raus!", schimpfte Sam, zur Couch. Die Hose des jungen Mannes lag mit einem nassen Fleck vor dem Küchentisch und er presste sich mit einer Hand einen Kühlakku auf den rechten Oberschenkel.
"Was ist hier los?", donnerte Max, sodass seine Stimme von den Wänden widerhallte.
Sam drehte sich zu ihm. "Das kleine Biest hat eine Tasse heißen Tee über mir ausgeschüttet."
Max verengte misstrauisch die Augen. "Ach, wirklich? Und was hast du gemacht?" Nach Hinweisen suchend wandte er sich dem Küchentisch zu - eine Tasse stand darauf, aus ihr stieg ein süßlicher Geruch nach Cola und Wodka auf. Eine weitere lag in einer Pfütze auf dem Boden darunter. Sam trank niemals vor der Arbeit. Zu wichtig war es ihm, einen klaren Kopf zu behalten. "Hast du Selda etwa Alkohol zu trinken gegeben?" Natürlich - es war wieder einer seiner dummen Tricks, um das kleine Mädchen in Schwierigkeiten zu bringen. "Bist du bescheuert? Sie ist erst sechs."
"Ja, meine Güte, jemand muss sie vorbereiten. Das Leben da draußen ist nicht so friedlich, wie die Fantasiewelt, die du ihr aufbaust."
"Du triffst hier keine Entscheidungen hinter meinem Rücken." Max hatte Mühe, seine Wut zu unterdrücken. "Komm her." Schnell fand Max die Wodkaflasche in einem Schrank und brachte zwei Gläser, die er auf den Tisch donnerte, sodass der Knall die Gläser im Schrank erzittern ließ.
Sam verschränkte die Arme vor der Brust und kam näher. "Was soll das werden?"
"Setz dich", befahl Max und beförderte den jungen Mann mit einem Stoß auf den Platz - er hatte nicht mal die Zeit, die Hose anzuziehen. Dann goss der ältere Mann die beiden Gläser randvoll ein und schob ein Glas über den Tisch dem anderen zu. "Trink."
Sam verengte die Augen und nippte am Getränk.
Max stürzte das Glas runter und goss sich eine zweite Portion ein, während er darauf wartete, dass Sam seins leerte. "Trink alles", forderte er, als dieser zögerte. "Bevor ich dich dazu zwinge."
Während sich Sam mit seiner zweiten Portion abmühte, hatte Max sein Glas bereits geleert und funkelte den jungen Mann zornig an.
"Ich kann so nicht arbeiten", beschwerte sich Sam. Max riss ihm das Glas für die nächste Runde aus der Hand.
"Dann bleiben wir heute zu Hause", entschied der Ältere und füllte leicht zitternd nach.
Sam lag bereits breit auf dem Tisch, doch Max war erstaunlich hart im Nehmen. "Ich muss gleich kotzen", jammerte der Jüngere nach der Hälfte, doch Max gab keine Ruhe. "Trink, du Ratte!"
Max zwang ihn, weiter zu trinken, bis der junge Mann anfing zu würgen. Sam wollte aufstehen und zur Toilette laufen, doch er taumelte, fiel zu Boden, übergab sich auf den Teppich und schlief ein.
Der ältere Mann hingegen saß noch immer ehrfurchtgebietend aufrecht am Tisch und leerte als Gewinner der Schlacht sein letztes Glas. Das sollte seinem Handlanger eine Lehre sein, sich mit Schwächeren anzulegen.
Hart donnerte Max das leere Glas auf den Tisch. Von der Seite hörte er den hohen Applaus kleiner Hände. Er drehte sich zur Seite und sah dort Selda stehen, die aus ihrem Versteck hervorgekrochen war. "Super, Papa", jauchzte sie. "Du hast es ihm gegeben."
Er streckte eine Hand nach ihr aus, während er sich mit der anderen auf dem Tisch stabilisierte. "Selda, meine kleine Kriegerin. Wieviel hast du getrunken?"
Sie kam heran und ließ sich von ihm den Kopf streicheln. "Ich habe nur getan als ob."
Seine Hand hielt inne. Langsam kam ihm die Erkenntnis. "Du hast Sam den Tee absichtlich übergegossen."
"Was meinte Sam mit meiner Mutter?"
"Ich liebe deine Mutter, aber sie will mich nicht mehr sehen. Ich kann dich nicht einfach zu ihr lassen."
Das kleine Mädchen schaute ihn verständnislos an. Dann entdeckte sie etwas hinter ihm - jemand kam zur Haustür - und rief durch das Haus: "Margret, hilf mir!"
In der Stubentür erschien eine koreanisch aussehende Jugendliche mit rotbraun gefärbten Haaren, noch in Jacke, mit ihrer Schultasche auf dem Rücken und einer Sporttasche über der Schulter, die sie hastig abwarf. "Was ist denn hier passiert?" Sie sah Sam ohne Hose liegen und stieg über die Pfütze hinweg, ohne sich um ihn zu kümmern.
Max streckte die Hand nach ihr aus und kippte nach vorne. "Meine Perle."
Margret eilte zu ihm, um ihn zu stützen und gemeinsam mit Selda hielt sie den älteren Mann aufrecht.
Max legte Margret eine Hand aufs Gesicht. "Du bist so groß geworden."
"Es tut mir leid. Ich werde die Lehrer fragen, ob ich die letzte Stunde zu Hause nacharbeiten darf. Ich kann das Training ein andernmal nachholen." Sie gab Selda ein Zeichen, ihr zu helfen und stützte Max beim Aufstehen. "Kommen Sie, Herr Davids … Max. Wir bringen dich in dein Zimmer."
"Du bist so lächerlich", kommentierte er. Ob er damit Margrets Vorschlag meinte oder die Art, wie sie ihn angesprochen hatte, obwohl er sie gebeten hatte, ihn Vater zu nennen, blieb unklar. Er schaffte es erstaunlicherweise selbst, sich aufrecht zu halten, doch bei der Treppe brauchte er Hilfe.
Die beiden Mädchen brachten ihn ins Bett, dann schickte Margret das kleine Mädchen zum Spielen und machte sich daran, das Chaos im Wohnzimmer zu beseitigen.

Als Max am nächsten Nachmittag aufstand und die Wohnstube betrat, saß Selda vor dem Fernseher und schaufelte Eiscreme in sich hinein. Irgendeine gewalttätige Action-Serie plärrte aus dem Gerät.
"Was ist hier los? Wo ist Margret? Sie sollte doch auf dich aufpassen." Max schaltete den Fernseher ab und warf seiner Tochter einen finsteren Blick zu, als würde er sich jeden Moment in eine Gewitterwolke verwandeln.
Sie hob mit großem Unschuldsblick einen weiteren Löffel voller Eis zum Mund. "Weiß nicht."
Max wartete. Selda lutschte etwas Eis vom Löffel. Die Stille hielt an. Dem Mädchen verging der Appetit. Sie ertrug es nicht länger, die Antwort zurückzuhalten.
Auf dem Küchentisch stand ein halbvoller Becher mit Cola - viel zu weit von Selda entfernt, die am Fernsehtisch aß. "Ist doch egal. Sie ist nicht meine Mutter."
Mit drei Schritten war Max bei ihr und riss ihr die Packung Eis aus der Hand. "Margret kümmert sich wenigstens um dich. Das hier würde sie nie zulassen. Wo ist sie?"
"Ich will zu meiner Mutter!"
Max fing den Löffel auf, der ihm entgegensauste - die Eismasse flog weiter und landete in seinem Gesicht. Während er sich wütend Eiscreme aus den Augen wischte, lief Selda aus dem Raum und die Treppe hinauf, knallte oben ihre Zimmertür zu.
Die Eispackung stellte Max achtlos in der Küche ab, dann lief er durch das Haus und rief Margrets Namen, schaute in alle Räume. An der Garderobe fand er ihre Jacke und in ihrem Zimmer standen Schultasche und Sporttasche neben dem Schreibtisch, ansonsten keine Spur von seiner Adoptivtochter.
Max riss Seldas Zimmertür auf, dann atmete er mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. Er wollte vernünftig mit ihr reden, nicht rumschreien.
Sie saß am Schreibtisch und kritzelte mit viel Druck zackige Linien auf Papier, den Stift mit der Faust umklammert. "Ich will meine Mutter kennenlernen", verlangte sie, ohne sich umzudrehen.
"Das geht nicht." Max setzte sich auf ihr Bett und klopfte auffordernd auf den leeren Platz neben sich. "Komm her. Setz dich."
"Nein!", schrie Selda und warf ihm einen Becher voller Wachsstifte entgegen. Er hob den Arm vor das Gesicht, die Stifte prallten daran ab. Währenddessen lief das Mädchen zum Fenster.
"Spinnst du?" Max stampfte hinterher und griff nach ihr, doch Selda verschwand zum Fenster hinaus. Er schaute hinterher, wie sie die Regenrinne hinab kletterte und entschied sich für den langen Weg nach draußen.
Doch als er auf dem vertrockneten Rasen des Hinterhofs stand, den Blick über den Schuppen schweifen ließ, der mit all dem Unrat darin hunderte Verstecke bot, und zu allen Seiten zum Zaun - weitere Fluchtmöglichkeiten - erschöpfte sich seine Geduld.
Er griff zum Telefon in seiner Tasche und wählte eine Nummer. "Rachel ich weiß, dass du gerade Schicht hast, aber ich brauche deine Hilfe."
Dann blieb er mit verschränkten Armen im Hof stehen und wartete mit aller Würde, die er noch zusammenkratzen konnte.
Minuten später kam Rachel auf einem Motorroller eingefahren. Max meinte, dass dessen Summen angestrengt klang unter dem Gewicht der älteren, beleibten Frau in ihrem Blumenkleid, außerdem wirkte das Gerät unter ihr zu klein.
Sie stellte ihn in der Auffahrt ab und baute sich vor Max auf. Als sie in sein Gesicht sah, stutze sie kurz und verkniff sich ein Grinsen. Dann tappte sie einen Fuß auf den Boden und pochte auf eine imaginäre Armbanduhr am linken Handgelenk.
"Margret und Selda sind verschwunden. Finde sie wieder."
Doch zuerst griff sie in ihre Handtasche und hielt Max den aufgeklappten Schminkspiegel vor, bevor sie sich an die Arbeit machte.
Max entdeckte, dass ihm noch Eismasse unter dem Ohr klebte und die Wachsstifte hatten bunte Striche auf seinem kurz geschorenen Kopf hinterlassen. Mit Spucke rieb er sich den Dreck aus dem Gesicht.
Währenddessen begann Rachel, sich überall umzusehen. Max folgte er ihr, um ihre Arbeit zu überwachen, während er sich weiter im Gesicht herumwischte.
Zuerst begutachtete sie den Becher Cola auf dem Küchentisch. Roch daran. Probierte mit dem Finger. Schnurstracks ging sie in Seldas Zimmer und kehrte mit einer Packung Schlaftabletten zurück, die sie Max hinhielt.
"Sam", erkannte Max bei dem Anblick und nahm sie entgegen.
Rachel suchte weiter. Schaute auf den Boden, strich über die Wände. Max hatte keine Ahnung, was es dort zu entdecken gab - immerhin hielt Margret das Haus sauber und es liefen genug Leute herum, sodass es nicht möglich war, dort die Spuren der letzten halben Stunde von allen anderen zu unterscheiden.
Und doch öffnete Rachel den Schrank unter der Treppe, aus dem die schlafende Margret herausplumpste.
Besorgt beugte sich Max über sie, um ihre Lebensfunktionen zu überprüfen, während Rachel nach draußen verschwand. Margret ging es gut, sie schlief nur. Nach dem Aufwachen würde sie sich wieder hundertmal dafür entschuldigen, ihre Pflichten vernachlässigt zu haben.
Draußen setzte Geschrei ein. Kurz darauf kehrte Rachel zurück, das kleine Mädchen unter den Arm geklemmt, das vor sich hin quatschte: "Was hast du heute gemacht? Oh, das ist ja nicht viel. Was hast du heute gegessen? Oh, machst du etwa Diät? Was ist dein Lieblingslied? Naja, das dachte ich mir. Du bist immer so schüchtern. Warum hast du ein Telefon, wenn du nie telefonierst?"
Rachel hielt Max das Mädchen hin, das verstummte und ihn mit verschränkten Armen böse anfunkelte. Bei der Übergabe fing Selda wieder an zu zicken und er drückte sie fest und liebevoll an sich.
Dann setzte sich Rachel auf den Motorroller und fuhr davon.
Selda zappelte in Max' Armen und beschimpfte ihn, doch er hielt sie fest, bis sie sich beruhigte. "Sam kennt meine Mutter. Er sagte, sie wäre eine dumme Kuh. Warum kenne ich sie nicht?"
"Weil wir manchmal Entscheidungen treffen müssen, die uns nicht gefallen, aber die das Beste für uns sind. Wenn du aufhörst rumzuzicken, erzähle ich dir vielleicht davon." Doch Selda begann wieder zu protestieren.

Selda zickte den Rest der Woche und zeigte eine offensichtliche Abneigung, mit ihrem Vater Zeit zu verbringen oder überhaupt mit ihm zu reden. Erst als er ankündigte, ihr etwas zu zeigen, verdrängte die Neugier ihren Unmut.
In einer Eisdiele nahm ein Kellner, den Max noch nie gesehen hatte, ihre Bestellung entgegen. Als dieser verschwunden war, holte der Mann einen Ordner aus seiner Tasche. "Lass mich dir was zeigen."
Er suchte in seinen Unterlagen und zog einen Bogen heraus. Diesen schob er über den Tisch zu Selda.
Sie las mit kindlicher Sorgfalt den Namen. "Sara Maria Prim. Ist das nicht der Nachname des Polizeichefs? Mit dem du Ärger hast?"
Die Namen der Eltern: Orwel und Elita Prim. Ja, das war die Polizeifamilie. "Warum zeigst du mir das? Wer ist das?"
"Das, mein kleiner Engel, das ist der Name, mit dem du geboren wurdest."
Der Kellner kam mit den Eisbechern und schob Selda ihren zu. Sie hatte eine Erwachsenenportion bestellt, egal ob sie sie schaffte oder nicht. Aus Prinzip.
Sie schaute stumm auf das Papier, versuchte, die Information zu verdauen. Sie war die Tochter eines Polizisten. "Dann, bist du gar nicht mein Vater?"
"Es ist kompliziert", versuchte Max zu erklären und wusste nicht, ob er dem Mädchen für sein Alter zu viel zumutete. "Doch, ich bin dein Vater. Deine Mutter mochte mich damals viel lieber, aber sie war bereits verheiratet. Daher … kann sie nicht die Wahrheit sagen."
Der Kellner kam mit einem vollen Tablett an ihnen vorbei, stolperte über die eigenen Füße, flog nach vorne und übersäte den Boden scheppernd mit Kaffee, Eismasse und Scherben. Er rappelte sich auf, murmelte eine Entschuldigung und begann, das Chaos zu beseitigen.
Die Chefin kam herbeigeeilt, erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei und warf ihm einen tadelnden Blick zu.
Max betrachtete die Störung mit Missbilligung. Die Chefin bemerkte seine Reaktion und entschuldigte sich für den Vorfall.
Der Mann rollte mit den Augen.
Selda nutzte die Unterbrechung und las die Daten auf der Geburtsurkunde nochmal, um sich zu vergewissern. "Darf ich meine Mutter kennen lernen?", fragte sie schließlich.
"Es ist nicht so einfach." Max seufzte und begann, gedanklich die Möglichkeiten durchzugehen. "Wenn du es unbedingt willst, lässt es sich einrichten. Ehrlich gesagt würde ich es lieber vermeiden."
"Ja, ich will unbedingt." Neben ihr schmolz der Rest ihres gigantischen Eisbechers.
Max nickte und vertiefte sich in Gedanken.

Gerade erhoben sich die beiden zum Gehen, da trat der Kellner mit Notizblock und offenem Portemonnaie auf sie zu. "Hat es geschmeckt? Das macht zehn Euro zehn, bitte."
Für einen Moment versteinerte Max mitten in der Bewegung. Er hatte sich wohl verhört. Da musste eine Verwechslung vorliegen. "Mein Name ist Maximilian Davids."
Der Kellner legte verwirrt den Kopf schief. "Angenehm? Zehn Euro zehn, bitte."
Selda gab ein leises Quieken von sich, als wollte sie etwas sagen, doch überlegte es sich anders.
Max holte mit langsamen Bewegungen und finsterem Blick sein Portemonnaie heraus - Zeit für den anderen, seinen Fehler einzusehen, was dieser nicht tat - drückte dem Kellner einen Fünfziger gegen die Brust und schob ihn beiseite. "Behalte den Rest."
"Das ist zu viel …"
"Behalte den Rest habe ich gesagt. Komm, Selda."
Das Mädchen verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, als es mit aller Mühe versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.
Der Kellner schaute voller Erstaunen auf den Schein in seiner Hand, während die Gäste die Eisdiele verließen.
Draußen blieben die beiden stehen.
Max, noch immer verstimmt, bemühte sich um Freundlichkeit. "Möchtest du noch ins Kino?"
Drinnen zeigte der Kellner seiner Chefin den Schein. Welche das Tablett fallen ließ. Das Scheppern, mit dem alle Gläser zerschellten, war bis draußen zu hören.
"Aber keinen dieser Knutschfilme, bei denen du zu heulen anfängst."
"Wenn du erwachsen bist, wirst du das verstehen."
Die Eisverkäuferin kam mit wedelndem Geldschein aus der Tür gelaufen und hielt ihn Max hin. "Entschuldigen Sie vielmals den Fehler meines Mitarbeiters. Er ist noch neu in der Gegend." Sie legte einen bittenden Gesichtsausdruck auf und begann sogar, sich leicht zu verbeugen. "Selbstverständlich müssen Sie nichts zahlen. Es wird nie wieder vorkommen."
"Oh, nicht doch", erwiderte Max süß-sauer. "Behalte ihn nur. Investiere in Mitarbeiterschulungen und Informationsmaterial."
Selda trug ein künstliches, zurückhaltendes Lächeln wie eine Maske, die ihre wahren Gefühle verbarg, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
"Bitte, Herr Davids." Ihre Stimme zitterte. "Er hat erst heute angefangen, kurz bevor Sie gekommen sind."
Er riss ihr den Schein aus der Hand und stopfte ihn sich in die Tasche seines Anzug. "Ausnahmsweise. Dafür bist du mir was schuldig."
"Ja, sehr wohl, Herr Davids, alles, was Sie wollen, vielen Dank."
"Den Namen des Kellners."
Sie erstarrte. "Sie werden doch nicht …"
"Den Namen oder ich gebe dir das Geld zurück."
Ihre Unterlippe zitterte. "Tristan Doublee. Mit doppel-e am Ende. Bitte tun Sie ihm nichts."
"Keine Sorge, er hat die Chance, heil aus der Sache rauszukommen, wenn er in der Lage ist, Anweisungen zu befolgen."
Die beiden Gäste verließen den Schauplatz.

Der große Tag rückte heran - heute würde Selda das erste Mal ihre Mutter treffen. Max hatte alles organisiert. Selda saß im Wagen eingequetscht zwischen Rachel und zwei anderen Männern des Clans auf der Rückbank, alle schwer bewaffnet. Sam saß neben Max auf dem Beifahrersitz.
Das kleine Mädchen zeigte keinerlei Angst, sondern war leicht genervt von der Enge und der stickigen Luft, außerdem saß sie zu weit weg von Sam, um ihn heimlich zu ärgern. Die beiden Typen neben sich fand sie gruselig, doch sie wusste, wenn sie nur einen Piep sagte, würde Max sie auseinandernehmen. Hm, vielleicht später.
Auf der kurzen Fahrt ließ Sam es sich nicht nehmen, Schminkutensilien auszupacken und begann, dezent Make-up aufzulegen.
Niemand reagierte. Außer Max, halbherzig und desinteressiert. "Das ist vollkommen unnötig."
"Wieso, lässt du mich im Wagen zurück?"
"Du sollst durch deine Taten Furcht einflößen."
"Ja gut, dann lasse ich die Augenringe heute weg, zufrieden?"
Mit mehr Wucht als nötig ließ Sam die Palette zuschnappen und steckte sie weg. Als sie hielten, lud er als erster mit übertrieben lautem Klicken sein Gewehr.
Der Clanführer rollte mit den Augen. "Versuch, den Kellner am Leben zu lassen. Er ist neu hier."
"Keine Sorge. Ich kenne ihn auch noch nicht." Sam lächelte vielsagend.
Noch war niemand zu sehen. Sie kurbelten die Fenster einige Zentimeter runter.
Da hörten sie Motorengeräusche. Mehrere Polizeiwagen hielten um sie her verteilt.
Max seufzte, holte sein Telefon heraus und wählte den Notruf. "Hier ist Maximilian Davids."
Bis zu Selda drang das nervöse Stöhnen am anderen Ende. "Herr Davids, können wir nochmal drüber reden?"
"Nein. Wir haben gleich fünf oder sechs Verletzte am Südcafé. Die Polizei brauchst du nicht zu verständigen, die sind bereits da." Er legte auf.
Sam drehte verwundert den Kopf zu Max. Als hätte er dessen Gedanken gelesen, erklärte dieser: "Rachel, Schorsch und du, ihr habt die drei Neuen im Visier, die werden für gewöhnlich als erste vorgeschickt. Mario spielt gerne den Helden und Henning checkt gewöhnlich als Letzter, was vor sich geht. Bei dem Kellner bin ich mir nicht sicher, wie er reagieren wird, vielleicht bleibt er in der Schussbahn stehen."
"Oh." Sam richtete seinen Blick wieder auf die Szenerie. "Ich dachte, du erschießt die Sch… Elita endlich."
Max hob warnend den Zeigefinger. "Wage es ja nicht." Trocken fügte er hinzu: "Meinen Bruder kannst du erschießen, wenn er sich raus wagt."
"Ja klar. Du knickst eh wieder im letzten Moment ein."
Sie warteten mehrere Minuten lang. Selda wippte auf ihrem Platz herum und wackelte mit einem Fuß, um sich zu beschäftigen. Die Männer blickten genervt auf sie, trauten sich aber nicht, was zu sagen.
Da bewegte sich draußen etwas. Eine Frau stieg aus einem der Polizeiwagen aus. Sie trug eine hübsche Bluse und leichtes Make-Up, die rehbraun gefärbten Haare hochgesteckt. In ihrem engen Rock machte sie auf Hackenschuhen vorsichtige Schritte und schaute sich ständig um. Meistens zu einem der SUVs des Clans mit ihren abgedunkelten Scheiben.
Sie betrat die Eisdiele.
Wieder passierte mehrere Minuten lang nichts und Selda begann, mit ihren Haaren zu spielen.
"Jetzt darfst du gehen", entschied Max.
Sofort drängelte sie zum Türgriff, noch bevor Rachel dazu kam, zu öffnen.
Die zwei Parkplätze vor dem Café standen leer und es hatte offiziell geschlossen.
Selda trat ein. Die Frau war der einzige Gast und begrüßte sie mit einem Lächeln. Der Kellner stand hinter der Theke und machte Anstalten, zu seinen Gästen zu gehen, doch gleichzeitig wollte er die Sicherheit der Theke nicht verlassen.
Langsam trat Selda zum Tisch. Das war also ihre Mutter. Sie hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt.
Elita sprang auf und umarmte das Kind, das es steif über sich ergehen ließ. Ihr Parfüm drängt sich in Seldas Nase. "Mein Liebling, ich habe mir so sehr gewünscht, dich zu sehen. Du bist groß geworden. Wie geht es dir, behandeln sie dich gut?"
Die Frau hielt das Mädchen weiterhin an sich gedrückt und Selda musste sich freikämpfen, bevor Elita losließ. "Oh, tut mir leid, du kennst mich ja nicht richtig. Ich bin sozusagen eine Fremde für dich. Aber jetzt nicht mehr, endlich lernst du mich kennen. Komm, möchtest du ein Eis?"
Die beiden nahmen Platz. Der Kellner brachte leicht gebückt die Karte und schaute ständig durch die Scheiben nach draußen zu all den Autos. "Wir haben heute keinen Kuchen, weil, naja … Ähm, Eis oder Kaffee oder ein paar Waffeln?"
Selda gluckste. Lächerlich. Was sollte denn passieren.
Sie bestellte den größten Becher auf der Karte, doch Elita griff ein. "Der ist mit Alkohol, außerdem schaffst du den nicht auf. Nimm doch eine Kinderportion, guck mal, dieser hier ist mit bunten Schokolinsen, ist das nicht was für dich?"
Selda starrte die Frau herausfordernd an und ging über zum zweitgrößten Becher. "Papa sagt niemals nein."
"Er ist nicht dein Vater. Ich habe damals einen Fehler gemacht. Mein Mann ist dein Vater, der Polizeichef, möchtest du ihn auch kennen lernen?"
"Nein."
Der Kellner tupfte sich den Schweiß von der Stirn und sein Blick huschte nach draußen. Seine Chefin hatte ihm erzählt, was passierte, wenn man 'nein' zu dem kleinen Mädchen sagte. Diese Frau hatte vielleicht Nerven.
"Für mich nur einen schwarzen Kaffee ohne Zucker bitte. Ich bin auf Diät." Der Mann zog sich zurück, um die Bestellung auszuführen.
Elita legte die Hände mit ihren glänzend dunkelrot lackierten Fingernägeln übereinander. "Max hätte dich mir nicht wegnehmen dürfen, das war nicht richtig. Du weißt nicht, was ich durchgestanden hatte, als er dich entführt hat, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber er hat mich niemals an dich rangelassen. Wie kann er nur sowas tun? Ich bin deine Mutter. Ein Kind gehört zur Mutter."
Der Kellner brachte die Bestellungen. Seine Hand zitterte, sodass er beim Abstellen Kaffee auf die Untertasse kleckerte.
Selda überlegte, ob sie was sagen sollte, doch Elita sprach sofort weiter.
"Ich bin zu Hause geblieben und habe alles in Ordnung gehalten für den Fall, dass du zurückkommst. Dein Kinderzimmer ist noch immer eingerichtet. Alles in Rosa, wie es sich für ein Mädchen gehört. Ich habe dort jeden Tag sauber gemacht. Jedes Jahr kaufe ich neue Sachen für dich, damit alles bereit ist für deine Rückkehr. Ich lasse dich nicht zu Max zurück. Du kommst mit mir und wir leben zusammen wie eine Familie, wie es von Anfang an hätte sein sollen. Ist das nicht schön?"
Das Mädchen begann, gelangweilt in seinem Eisbecher herumzurühren. Als hätte Max all diese Leute mitgebracht, um Selda von jemand anderem mitnehmen zu lassen.
"Ich habe Sam Tabletten geklaut und in Margrets Cola getan", erzählte sie und ließ wie zur Untermalung Eis mit Soße vom Löffel auf eine Sahnekrone tropfen. "Dann habe ich mit ihr Verstecken gespielt, damit sie im Schrank einschläft."
"Das ist ja schrecklich. Wie kommst du nur dazu?"
"Ich wollte dich sehen."
Für einen Moment ist Elita entsetzt über diese Beiläufigkeit, fast schon Stolz, mit der Selda davon erzählte. Sie schob ihre Tasse beiseite. "Dein Umfeld … ist dir nicht gut bekommen. Das sind alles Verbrecher. Ich kann mir kaum vorstellen, wie ein Kind unter diesen Bedingungen aufwächst."
Selda probierte von ihrem Eisbecher. Lecker, aber er war zum Rumspielen viel schöner.
"Spielst du ein Musikinstrument?", fragte die Frau. "Das solltest du. Das ist wichtig für deine Entwicklung. Vielleicht wäre Klavier etwas für dich? Oder Geige?"
"Die sind doof."
"Manchmal müssen wir Entscheidungen treffen, die uns nicht gefallen, aber die richtig sind. Du würdest dich bestimmt daran gewöhnen."
Das Mädchen schob mit dem Löffel die Waffel durch das Eis, das zu schmelzen begann. Sie wusste nicht, worüber sie mit ihrer Mutter reden sollte. Sie sagte solche langweiligen Sachen und sie sagte gemeine Sachen über Max, dabei war er immer lieb zu ihr.
Plötzlich warf sie den Löffel beiseite und sprang vom Stuhl. "Ich will zurück zu Papa."
"Nein, warte!"
Doch das Mädchen war schneller zur Tür gelaufen, als Elita Einspruch erheben konnte. Der Kellner verkroch sich im hinteren Raum und murmelte ein Gebet.
Draußen stieg Max aus dem Wagen, um seine Tochter in Empfang zu nehmen - eindrucksvoll schritt er in seinem Anzug über den Parkplatz, alle Blicke auf sich ziehend.
Selda sprang ihm entgegen und er hob sie auf die Arme. "Na, meine Kleine? Wir war es? Wie findest du deine Mutter?"
"Ich mag dich lieber."
Max nahm die Nachricht … mit Enttäuschung auf.
Elita betrat den Parkplatz, die Knie zusammen, zupfte sich nervös am Rock. "Bitte, nimm sie mir nicht weg."
"Wenn dir Selda irgendwas bedeutet, dann vergiss dein Ansehen und komm mit mir."
Doch sie blieb stehen, wo sie war. "Du weißt genau, dass ich das nicht kann. Sara, komm zu mir. Ich bin deine Mutter. Ich liebe dich!"
Das Mädchen schaute zu der Frau, um die Tränen zu sehen, die gerade kamen - das war zu viel für die kleine Seele und sie versteckte das Gesicht am Hals von Max.
Der Clanführer tätschelte dem Mädchen den Rücken. "Sie kann dich jederzeit besuchen, wenn sie will", kündigte er an und drehte sich in Richtung seines Wagens um. "Auf neutralem Boden."
Da öffnete sich die Tür eines Polizeiwagens und der Chef höchstpersönlich schob seinen eindrucksvollen Bauch heraus.
Max erinnerte sich an seine Befehle. Er verlagerte Seldas Gewicht auf einen Arm und hob die Hand als Zeichen für seine Leute, nicht zu schießen.
Orwel Prim blieb in sicherer Nähe des Wagens stehen. "Wie kannst du es wagen, mir unter die Augen zu treten." Er spuckte auf den Boden. "Du vergewaltigst meine Frau, entführst meine Tochter, trennst sie von ihrer Familie. Du nimmst sie heute nicht mit."
Selda quiekte leise, als Max sie mit steigender Wut fester griff. Woraufhin er sie auf dem Boden absetzte. "Das hat sie dir gesagt?", fragte er ungläubig und schaute zu Elita, die peinlich berührt seinen Blick mied.
"Es war einvernehmlich", knurrte Max. "Sie traut sich nur nicht, es dir zu sagen."
"Was ist vergewaltigen?", fragte Selda laut und setzte einen übertrieben unschuldigen Gesichtsausdruck auf, was den Polizeichef in ein peinlich berührtes Schweigen versetzte.
"Steig ein", befahl Max und wartete reglos wie ein Felsen, bis Selda eingestiegen war. Niemand wagte es, das kleine Mädchen aufzuhalten.
"Sie ist meine Tochter", verkündete Max. "Ich lass nicht zu, dass du sie verkaufst so wie mich damals."
Elita warf einen verwirrten Blick zu ihrem Mann, doch er hielt alle Aufmerksamkeit auf Max gerichtet. "Du verstehst das nicht. Dein Opfer hätte der Menschheit einen großen Dienst erwiesen."
"Und warum schreibt Mutter nur mir Geburtstagsgrüße und nicht dir? Du hast mich verraten, du hast unsere ganze Familie verraten. Was soll das mit diesem lächerlichen Nachnamen. Prim? Primel? Primzahl? Du hast nie verstanden, was uns ausmacht und das wirst du auch nie."
Max verschränkte die Arme und schritt auf seinen Wagen zu.
"Bleib hier."
Doch der Clanführer stieg einfach in den Wagen ein - niemand wagte es, ihn aufzuhalten - und die Autos des Clans fuhren ab.
Hinter der nächsten Kreuzung, wo die Krankenwagen außer Sichtweite auf ihren Einsatz warteten, ließ Max das Fenster herunter. "Habt ihr nochmal Glück gehabt."
Der Krankenwagenfahrer sandte ein leises Dankesgebet ab und gab die Botschaft an seine Kollegen weiter.

 

Hallo @Rob F,

huch. Ich habe mich mit dem Schreiben gut unterhalten und hatte erwartet, dass es beim Leser auch so ankommt.

Danke für den Kommentar. Ich melde mich am Wochenende mit ausführlicher Antwort und Korrekturen.

Viele Grüße
Jellyfish

 

Hallo @Rob F,

hier kommt der angekündigte Kommentar.

Ich habe versucht, die Erwartungshaltung mit dem Tag zu steuern. Es versucht nicht, realistisch zu sein, daher ist es weder Alltag noch Gesellschaft. Es hat mMn zu wenig Humor, um als Humor zu gelten. Katla hat beim ersten Teil angemerkt, dass das Spiel mit Wirklichkeitsebenen etc. fehlt, daher ist es auch nicht Seltsam. Es klingt, als ob "Sonstige" genau zu dem passt, wie du deinen Eindruck beschreibst. Insofern sehe ich nicht, was ich hier noch tun könnte.

Wegen den seltsamen Formulierungen. In einem Schreibratgeber habe ich gelesen, man solle sich von den hunderttausendmal verwendeten Ausdrücken, sowas wie "ein eisiger Schauer lief ihm den Rücken runter" trennen und kreativ werden. Aber so wie es aussieht, wirken meine Formulierungen eher seltsam als erfrischend.

Danke, ich habe die vielen kleinen Anmerkungen umgesetzt, außerdem eine Reihe anderer Sachen geändert.

Viele Grüße
Jellyfish

 

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